Wie findet man einen Menschen, von dem man nur ein Foto hat? Ohne Namen, ohne Adresse und ohne Kontakte zu Verwandten? Was tut man, wenn man auf einem anderen Kontinent lebt als die gesuchte Person? Und was, wenn diese Person außerdem zuletzt vor 70 Jahren gesehen wurde und wenn dazwischen ein Weltkrieg stattgefunden hat? Richtig! Man fragt das Internet und hofft, dass es vielleicht doch so etwas wie Schwarmintelligenz gibt.
Genau das versuchen die Cousinen Elaine und Miriam gerade. Sie leben in den USA und Großbritannien, und wollen die Frau ehren, die ihrer Familie vor vielen Jahren zur Flucht aus Österreich verholfen hat.
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Über reddit haben die beiden einen Aufruf gestartet und gefragt, ob jemand die Frau auf dem Foto erkenne. Das Foto wurde 1934 in Wien aufgenommen und zeigt Elaines Vater als kleinen Bub an der Seite seines Kindermädchens. Auf ihrem Arm liegt seine kleine Schwester, die Mutter von Miriam. Diesem Kindermädchen hat die Familie ihr Leben zu verdanken.
Die Nanny schickte die Gestapo in die falsche Richtung und schmuggelte die Familie beim Hintereingang hinaus.
Die Vorfahren der beiden Cousinen lebten als Familie Schmerling in der Kolingasse in Wien, nur drei Gassen von Sigmund Freuds Praxis entfernt. Ihr Großvater Heinrich war Juwelier, seine Frau Lily war mit den beiden Kindern zuhause. Unterstützt wurde sie dabei von dem heute unbekannten Kindermädchen, das der Familie auch persönlich sehr nahe stand.
Nach dem “Anschluss” Österreichs an Nazideutschland wurde es gefährlich für die Familie Schmerling, die schon bald aufgrund ihres jüdischen Glaubens verfolgt wurde. Heinrich war bereits im Juli 1938 auf brutale Art ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt worden.
Als eines Tages die Gestapo an die Wohnungstür klopfte, um den Rest der Familie mitzunehmen, öffnete das Kindermädchen die Türe. Sie schickte die Geheimpolizei in die falsche Richtung und wies die Mutter mit ihren beiden Kindern an, die Wohnung durch einen Hinterausgang zu verlassen. Die Familie flüchtete über die Schweiz mit dem Zug zu Lilys Bruder nach London. Zu Kriegsende schaffte es das Kindermädchen sogar noch, einige Besitztümer der Familie nach England zu verschiffen.
Heinrich konnte 1939 offenbar von seinem Bruder David gegen ein hohes Lösegeld aus der NS-Gefangenschaft freigekauft werden. Die beiden Brüder flüchteten daraufhin auf einem illegalen Schiff nach Palästina und zu Kriegsende weiter nach London. Dort traf sich die Familie 1948 wieder. Nach Österreich wollten sie nie wieder zurück. Die beiden Kinder auf dem Foto – die Eltern von Elaine und Miriam – verkrafteten die Trennung von ihrem Kindermädchen lange Zeit nicht.
Die “Nanny” wäre heute in etwa 100 Jahre alt – und ist darum vermutlich nicht mehr am Leben.
Die Suche nach dem verschollenen Kindermädchen ist heute so schwierig, weil die Menschen, die ihren Namen wissen könnten, entweder verstorben sind oder ihn vergessen haben. Keines der beiden geflüchteten Kinder sprach im Erwachsenenalter gern über die Flucht und ihre Zeit in Österreich. Die beiden Enkelinnen des verschleppten Heinrich Schmerling konnten also nie den Namen jener Frau erfahren, die ihre Eltern als Kinder vor dem Konzentrationslager bewahrt hatte.
Alles, was die beiden als Nachweis ihrer Existenz finden konnten, ist dieses Foto. Doch die Organisationen, die in Österreich Ahnensuche betreiben – wie etwa das Rote Kreuz oder das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes – brauchen zumindest einen Namen als Anhaltspunkt für ihre Nachforschungen.
Die Cousinen Elaine und Miriam konnten zwar viel über ihre Familie herausfinden, doch die Identität des Kindermädchens bleibt ungeklärt. Und auch, wenn die Chancen, dass jemand die Frau auf dem Foto erkennt, extrem schlecht stehen: Es bleibt nur noch dieses Bild.
Das ist den Cousinen bewusst. Probieren wollen sie es trotzdem. “Wir verdanken ‘Nanny’ unendlich viel. Und dabei kennen wir nicht mal ihren Namen”, sagt Miriam gegenüber VICE. Eigentlich befürchten die beiden sogar, dass das Kindermädchen mittlerweile selbst verstorben ist. Sie müsste heute schon an die 100 Jahre alt sein.
Doch zumindest ihre Nachkommen sollen erfahren, was das Kindermädchen damals für die Familie Schmerling getan hat. Die beiden möchten ihre tiefe Dankbarkeit für den Mut der “Nanny” ausdrücken. “Ich glaube, dafür ist es niemals zu spät”, sagt Miriam.
Wenn du die Frau auf dem Foto kennst, oder andere Hinweise für Elaine und Miriam hast, schreibe ein Mail an info@vice.at. Da die beiden kein Deutsch sprechen, haben sie uns gebeten, Hinweise und Anfragen für sie entgegenzunehmen.