Aus der Crown and Scepter Issue
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) gibt an, dass im November 2015 über 100.000 Flüchtlinge in Griechenland angekommen sind. Ich habe vom 30. Oktober an eine Woche auf Lesbos verbracht, um zu dokumentieren, was an dieser Außengrenze der EU gerade passiert. Der knapp 15 Kilometer lange Strandabschnitt zwischen Skala Skamnias und Mithymna im Norden von Lesbos ist der Hauptanlaufpunkt für die meisten Flüchtlingsboote, die aus der Türkei Griechenland erreichen.
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Der Wasserweg durch die Ägäis beträgt dort nur ungefähr acht bis zwölf Kilometer und ist somit für die Schmugglerbanden die gewinnbringendste Route von allen. Die kurze Überfahrt von ca. einer Stunde kostet pro Person 2.000 Euro. Für ein Kind sind es 1.000 Euro. Wie attraktiv diese Route ist, zeigt sich daran, dass längere Strecken, mit Entfernungen bis zu 20 Kilometern unter Umständen nur die Hälfte kosten. Für jede Rettungsweste fallen pro Person weitere 250 Euro an. Das Problem mit den Westen ist aber das Gleiche wie mit den Booten und den Motoren. Alles sind nur billige Imitate. Die Rettungswesten saugen sich in kürzester Zeit mit Wasser voll. Außerdem tragen fast alle Flüchtlinge mehrere Kleidungsstücke übereinander, um sich vor der Kälte zu schützen, was Auftrieb unmöglich macht. Unter diesen Bedingungen haben die Flüchtlinge, wenn sie in Seenot geraten, kaum eine realistische Chance, lange genug an der Wasseroberfläche zu treiben, bis sie gerettet werden können. Der IOM zufolge sind zwischen Januar und Oktober 2015 3.329 Menschen im Mittelmeer ertrunken.
An meinem ersten Tag auf Lesbos machte ich mich gleich morgens nach Sonnenaufgang auf den Weg in den Norden der Insel. Täglich erreichen mehr als 3.000 Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Irak und Pakistan die Nordküste von Lesbos. Gegen 7 Uhr kam ich am Strand von Skala Skamnias an. Schon oben von der kleinen Bergstraße, die in den Ort führte, sah ich das erste Schiff, das an diesem morgen den Strand ansteuerte. Das Schiff hatte Schieflage und drohte zu sinken. Ich fing an zu fotografieren. Es war ein chaotisches Durcheinander. Immer mehr Menschen kletterten aus dem Inneren des Schiffs und sprangen verzweifelt ins Wasser. Plötzlich schrie mich ein Helfer an: „Pack deine Scheißkamera weg und nimm das Baby!”
Als sich die Lage wieder etwas entspannt hatte, ging ich zu dem Helfer, um mich zu entschuldigen. Das verwirrende in dem Moment war, dass auch er sich bei mir entschuldigte. Er war davon überzeugt, dass es absolut notwendig sei, diese Fotos zu machen, um Öffentlichkeit für die Situation zu schaffen, ich aber auch gleichzeitig mithelfen muss. Was ich dann auch tat. Und doch fühlte es sich so an, als würde ich nur mein Gewissen beruhingen, weil ich nicht von Anfang an so gehandelt hatte, wie es mir der gesunde Menschenverstand eigentlich hätte vorschreiben müssen.
In den nächsten Tagen fuhr ich jeden Morgen gegen 6 Uhr zu den Stränden, an denen die Flüchtlinge täglich im Zehn-Minutentakt am Strand ankamen. Kaum waren die Menschen aus einem Boot in Sicherheit, da sah man schon das nächste und übernächste Boot den Strand ansteuern. Der Ablauf ist immer der gleiche. Die Rettungsschwimmer stoppen das Boot im seichten Wasser und ziehen es an Land. Verschiedene arabisch sprechende Helfer versuchen die verängstigten und halb erfrorenen Menschen zu beruhigen, damit keine Panik ausbricht.
Unzählige freiwillige Helfer nehmen dann Frauen und Kinder entgegen und wickeln sie in goldene Rettungsdecken. Sofort werden die Schlauchboote mit Messern zerschnitten, um einerseits Platz für die nächsten Boote zu machen und zum anderen, um sicherzugehen, dass sie nicht ein zweites Mal von den Schlepperbanden verwendet werden können. Danach warten schon im Hintergrund Einheimische mit verbeulten Pick-up-Trucks, die die Boote ausschlachten.
Als Erstes wird die Plastikverkleidung von den kleinen Außenbordmotoren abgerissen, um zu sehen, ob der Motor zu gebrauchen ist. Aber unter den Verkleidungen mit vielversprechenden Markennamen verstecken sich zu meist billige Plastikimitate, die nur durch Zufall die Überfahrt durchgehalten haben. Sobald alle Menschen notdürftig versorgt sind, werden sie in Privatwagen der Helfer und Einheimischen in ein provisorisches Notlager gebracht, von wo aus sie dann mit Bussen in die beiden zentralen Aufnahmecamps gebracht werden.
Die Helfer fuhren mit ihren Privatwagen los, um die Neuankömmlinge in das Camp zu bringen, und ich entschloss mich kurzerhand auch dazu, schnappte mir ein paar Leute, die neben mir standen, und brachte sie die zwei Kilometer zum nächsten Aufnahmecamp. Als ich zurückkehrte und mein Auto abstellte, kam ein Helfer auf mich zu. Es war ein anderer als am ersten Morgen, aber auch er hatte eine eindringliche Botschaft für mich. „Nimm nicht irgendwelche Leute mit. Wir können nicht jeden dort hoch fahren. Dann werden wir nie fertig. Such dir bitte nur Alte, Kranke und Frauen mit Säuglingen. Der Rest kann laufen.”
So hart das auch klingt, er hatte recht. Ein letzter Fußmarsch von zwei Kilometern ist tatsächlich ein nur kleines Übel, wenn man bedenkt, was diese Menschen in den letzten Wochen und Monaten durchgemacht haben. Bei meiner nächsten Tour ging ich überlegter an die Sache ran und entschied mich für einen Mann mit einem vielleicht drei bis vier Monate alten Baby auf dem Arm, seine Frau und zwei weitere Töchter. Wir stiegen in meinen Leihwagen. Bei all ihrer Freude und Erleichterung endlich in Sicherheit zu sein, war die größte Sorge der Familie, dass sie mit ihrer nassen und schmutzigen Kleidung meine Autositze verdrecken. Ich fing an zu lachen und fuhr los.
In diesem Moment war es schön zu sehen, wie sich Menschen wieder mit so nichtigen Kleinigkeiten wie einem nassen Autositz auseinandersetzen konnten, und doch wußte ich, was ab diesem Moment noch alles auf sie zukommen würde. Die Camps, in die die Flüchtlinge nach ihrer Ankunft auf Lesbos gebracht werden, sind heillos überfüllt. Sie bieten nur für ungefähr 2.800 Menschen eine feste Unterkunft. Zurzeit befinden sich aber ungefähr 12.000 Flüchtlinge auf der Insel. Jeden Tag können nur ungefähr 3.000 Flüchtlinge registriert werden und knapp 3.300 Flüchtlinge kommen an jedem Tag neu an.
Die Menschenrechtsorganisation ProAsyl nennt die Zustände in den Camps „katastrophal”, und die Tatsache, dass der Winter vor der Tür steht, macht es nicht besser. Auch auf Lesbos können die Temperaturen auf wenige Grad über dem Gefrierpunkt sinken. Um Platz für mehr Zelte zu schaffen, wurden die umliegenden Begrenzungszäune der Anlage von den Flüchtlingen eingerissen. In Zelten und unter Planen campieren Menschen nun in den Olivenplantagen der benachbarten Bauern. Wenn alles gut läuft, werden die Menschen innerhalb von ein paar Tagen registriert und können sich danach ein Ticket für eine der Fähren nach Athen oder Piräus kaufen, von wo aus dann die Reise nach Deutschland oder ein anderes europäisches Land weitergeht.
Am letzten Tag meiner Reise wartete ich zusammen mit Tausenden Flüchtlingen am Hafen von Mytilin, der Hauptstadt von Lesbos, auf eine Fähre, um aufs Festland zu kommen. Ich war den ganzen Tag unterwegs und fotografierte die Menschen dabei, wie sie das Beste aus ihrer langen Wartezeit machten.
Plötzlich sprach mich von hinten ein Mann an und sagte, dass er nie vergessen würde, was ich getan hatte. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu erkennen, das es seine Famile gewesen war, die solche Angst hatte, meine Autositze zu ruinieren. Wir unterhielten uns eine Weile und verabschiedeten uns wie alte Bekannte, bevor jeder von uns seine Fähre bestieg.