Wenn die Welt mal wieder weinen will, gibt es ein Heilmittel: Kopf aus und Porn Grind an. All die moralischen Sinnstrukturen ausknipsen und die Körperbeherrschung verlieren. Dass wir aber plötzlich mit unserer gerade erst gegründeten Band Verderver von zwei Szenegrößen eingeladen werden, ihren Tourbus gemeinsam zu beschmutzen, das macht mir doch ein mulmiges Gefühl. Ich meine, was sind das für Menschen hinter Zeilen wie “punch you in the cunt”? Waco Jesus heißen die “Scum Grind IV Life Tour”-Veranstalter. Na, wer drauf steht. Ich bin da wohl eher bei den zweiten Headlinern: Cliteater.
Früh um 6 Uhr, der Bus geht auf. Aus dem Heck kommt ein Kasten Bier angeflogen. Gut, Pflichtprogramm ab sofort. Grindcore geht nun mal so. Frühshoppen, doch müde Augen erinnern sich an die eine Stunde Schlaf letzte Nacht. Viel zu verlockend ist der Gedanke—wenigstens am Anfang—die drei Kubikmeter Privatsphäre in der brummenden Tourbuskoje zu genießen. Nochmal fit schlafen, am Flughafen warten immerhin die hartgesottenen Amis von Waco Jesus mit erschreckend eindringlichem Liedgut. Doch einmal eingenickt, erwachsen wirre Träume über skurrile Szenarien, welche die Grindcore-Fantasten die letzten Jahrzehnte so gestrickt haben: US Scum Grind nennen die Mittvierziger ihre besondere Spielart von Porn Grind. Titel wie “Punch You In The Cunt” schmücken Alben wie “Filth”. Auf dem Cover: Eine Frau, mit dem Kopf auf dem Boden, den nackten Unterkörper nach oben gerichtet. Direkt vor der Kamera quillt ihr Darm aus dem Analtrakt. Grund genug für eine Indizierung in Deutschland.
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Bands wie Kadaverficker, Razor Rape, Anal Grind, Gonorrhea Breath und Fecal Addiction teilen diesen besonderen Humor des Porn- und Gore Grinds. Auf der “Scum Grind IV Life Tour” sind als Co-Headliner Cliteater gebucht. Auf einem Shirt der Niederländer klafft ein verstümmelter Frauentorso zwischen Blut und Gedärmen, der Kopf der Blondine zwischen ihren Geschlechtsteilen, an den Seiten riesige Hackbeile—das war ihr Bestseller. Bei Waco Jesus ist das meistgekaufte Kleidungsstück der Aufdruck einer nackigen Dame, die einer anderen nackigen Dame in den Rachen stuhlt. Grindcore lebt eben nicht nur die rohe Urgewalt wuchtiger Verzerrung und krachender Drums, sondern auch die der humorvollen Horrorfantasien—insofern man extremen Sadismus überhaupt ins Lächerliche ziehen kann. Die Träume jedenfalls waren real, das mulmige Gefühl vorm ersten Treffen auch. Was sind das bloß für Menschen?
Tja, wie es eben so ist: Schockierend nette Menschen, das fällt bei den überschwänglichen Umarmungen am Flughafen und dem Einladen im Helvete Club Oberhausen auf. Jeder packt an, keiner zeigt Allüren. Am Merchstand wird sich lustig gemacht, gackernd mit dem Finger auf die “schönsten” Stücke der Kollektion gezeigt. Schamhaft und verlegen lächelnd frage ich nach dem Warum. Wieso schreiben Cliteater Zeilen wie “feeling your warm and bloody entrails against my scrotum”? “Schaust du Pornos? Schaust du Horrorfilme?”, grinst mich Gründungsgitarrist Ivan Cuijpers an. “Das ist nur Fiktion, alles Spaß.” Und was sich nach ein paar Stunden Grind-Geballer noch herausstellt: Je extremer die Mucke, desto netter die Leute. “Man erwartet das nicht, wenn man die aggressive Musik hört”, lacht Ivan. “Man denkt, die wären gemein, fahren Motorrad und tragen Waffen. Aber ich habe noch nie einen Kampf bei einer Grindcore-Show gesehen.” Eher das Gegenteil, komplette Auflösung erwachsener Verpflichtungen. Wenn Cliteater auf Festivals spielen, toben bunt kostümierte Saufkumpanen mit aufgeblasenen Tierfiguren im Kreis: “Das Publikum kleidet sich immer mehr wie zum Karneval”, wundert sich Cuijpers selbst über den Lauf der Dinge. Jener kindliche Charme und eine satte Schippe Sarkasmus treffen aber auch auf Sittenwächter, die Alarm schlagen.
Bevor Cliteater 2015 beim Swamp Festival in Berlin spielten, gab es Gegenwehr von einer Band, “die wohl zu viel Zeit hatte und unsere alten Texte gegoogelt und auf Facebook veröffentlicht hat. Sie haben uns unterstellt, wir seien homophobe, frauenfeindliche Rassisten. Sie wollten die Bühne nicht mit uns teilen, es wäre eine Schande. Warum online? Sie hätten ja auch mit uns reden können.” Grund für die öffentlich ausgetragene Besorgnis waren Texte auf Cliteaters Debütalbum Clit ‘Em All von 2003. Dort fanden sich extraordinäre Themen wie “Ejaculation Feast On A Baked Fetus”, Kannibalismus, Vergewaltigung und Gewalt an Frauen. “Jeden, der diese Texte wörtlich nimmt, kann ich nicht verstehen”, schüttelt Waco Jesus-Sänger Shane Bottens den Kopf. “Wir wurden auch aus bestimmten Orten verbannt wegen unserer Texte.”
In der Szene lachen sich die Gore-Freaks dagegen schief, es herrscht sogar ein unausgesprochener, interner Wettkampf, noch ekligere und schockierendere Bilder auf Shirts zu stampfen. “Wir waren bestimmt nicht die Ersten mit zwei Mädchen voller Scheiße auf einem Poster und Albumcover”, grinst Shane gemütlich. Manche nehmen den Lifestyle der totalen Enthemmung aller moralischen Grundsätze sogar so ernst, dass durchaus kuriose Konzertsituationen entstehen, weiß Ivan zu berichten: “Da hat sich ein nackter Typ auf unserer Bühne einen gewichst. Und dann hat ein Mädel aus der ersten Reihe seinen Schwanz in den Mund genommen und ihn geblasen, während wir spielten! Oder der Typ, der sich vor der Menge den Finger in den Arsch gesteckt hat.”
Bis auf die nächtlichen Hartalk-Eskapaden in der Buslounge, vorm gerade öffnenden Supermarkt oder mit Selbstgebranntem in Slowenien, bleibt auf Tour aber alles ruhig und gesittet. Dann kommt aber doch der Moment, wo eigentlich alles schiefgehen kann und muss: Im großen Saal der Lysser Kulturfabrik tobt die schweizerische Extravaganz hinter buntem Kopfschmuck zu gemütlichem Electro-Swing. Backstage stehen derweil 20 überdeutlich angetrunkene Grindcore-Eumel am Zapfhahn und saugen sich mehr und mehr Mut zwischen die Backen. Die weiße King-Diamond-Gedächtnis-Schminke sitzt, der Tourtross ist bereit, die Party zu zerficken. Mit dem Gedanken “Das wird Ärger geben”, stolpern wir unverblümt die Treppen runter in den Saal. Ich sehe schon kaputte Tische vor mir, Erbrochenes auf samtweichen Kleidern und weinende Mädchen.
Aber das Schicksal war uns wohl hold. Mit offenen Armen und lachenden Gesichtern begrüßen uns maskierte Anzugträger, sogar Thomas Hässig, der Herr des Hauses, hängt sich in unsere Arme und feiert wild. Später, als die Erinnerung wieder einsetzt, freut er sich: “Eure ganze Tournee war ja bei uns auf Electro-Swing und Hip-Hop Party machen. Das habe ich noch nie erlebt, das war superwitzig. All die Metalheads zwischen den Frauen in Abendkleidern und Maske, super.” Als Querbeet-Promoter kennt er die Gepflogenheiten jeder Szene: “Metalbands sind immer sehr, sehr angenehm. Immer zuvorkommend, nett, wir hatten nie Probleme mit solchen Bands. Und so auch das Publikum, das ist total friedlich.” Veranstalter Vladimir Anic sieht Grindcore-Fans im selben Licht: “Manchmal verrückt, aber immer angenehm. Ich habe noch nie erlebt, dass Grind-Fans in irgendeiner Weise negativ aufgefallen wären.”
Für Normalbürger ohne jegliche Berührungspunkte sind die brutalen Zermetzelungen auf Tourplakaten und Shirts dennoch schändlich: “Grinder haben sich an Bandnamen wie ‘Cliteater’ oder anstößigem Artwork längst gewöhnt”, nickt Vlad. “Trotzdem kam es bei der Waco Jesus-Show zu unerwarteten Problemen, als jemand aus dem Leitungsteam des Clubs die grässlichen Albumcover und die Wikipedia-Seite der Band entdeckt hatte und wir die Show beinahe canceln mussten. Beispiele wie dieses zeigen, dass Grindcore-Bands außerhalb der Szene immer noch eine sehr schockierende Wirkung haben können.” Werbung geht glücklicherweise heutzutage größtenteils über Social Media. Poster mit vollgeschissenen Mädels in der saubergeleckten Innenstadt? Thomas lacht: “Schwierig zu promoten, sage ich mal.”
Bei allem Gackern ist da doch die Sorge, ob es überhaupt Scharen zur Show zieht, die sich die Gehörgänge mit wüstem Krach ausschaben lassen wollen. “Trotzdem rate ich es niemandem an, sein Geld in Grind-Shows anzulegen, wenn er nicht völlig besessen ist von der Musik”, mahnt Vlad. “Ich bin einerseits besessen von der Musik und andererseits war dies die einzige Möglichkeit, einige meiner Lieblingsbands jemals live zu erleben.” Wie kann man besessen von stahlharten Blastbeats und unverständlichen Slam-Riffs sein? “Weil es nach einem ruhigen, langweiligen und geregelten Arbeitstag nichts Besseres gibt als impulsiven, chaotischen und destruktiven Lärm.”
Shane Bottens unterschreibt das gelassen: “Wir werden niemals diese große Band sein, das wissen wir. Wir sind froh, wenn wir am Ende mit Null rausgehen. Das ist nicht mein Job, sondern mein Hobby.” Geld ist also mit Grindcore nicht zu holen. Waco Jesus haben sechs Alben, können aber nur zwei davon übers Label pressen. Ivan zeigt sich genauso bescheiden mit seinen Ambitionen: “Diese Nightliner-Tour ist ein Traum, das ist unsere erste.” Nach 15 Jahren. Spezielle Musik für spezielle Menschen eben. Oder wie Shane sein Bandmotto klarmacht: “High quality swag for low-life people.”
Im realen Leben baut der stämmige Mann Straßen, Brücken wie Gebäude, und führt ein behütetes Familienleben in Illinois, USA. Er ist sogar Opa—”Grandpa Scum Grind“, lacht Bottens aus vollem Herzen. Seine Familie geht mit dem etwas anderen Hobby geteilt um, seine Frau ist so gar nicht amüsiert: “Sie hasst die Musik, alles drum herum, sie hasst es, wenn ich drei Wochen weg bin. Aber sie versteht, dass ich das schon gemacht habe, bevor ich sie getroffen habe und ich es noch hoffentlich 20 weitere Jahre machen werde, bis meine Scheiße am Bein runterläuft.“ Passt ja zu Scum Grind. Und die liebe Mama? “Sie weiß auch nicht viel drüber, ist schon Mitte 60. Sie weiß, dass ich für ein paar Wochen hier rüberkomme und am Rad drehe. Ich lasse sie so weit es geht im Dunkeln tappen, was die Songtitel und -texte geht. Sie hat nicht mal einen Computer.“
Saufeskalationen, destruktiver Lärm und Geheimniskrämerei, das Leben eines Grindcore-Musikers. Als sich in der Mitte der Tour die Freundin von Cliteaters Ivan Cuijpers trennt, muss die Frage einfach her: Ist es das alles wert? “Ja, sicher“, antwortet Ivan selbstverständlich. 15 Jahre ist er mit Cliteater unterwegs, sechs Freundinnen hat die Band verschlungen. “Sie haben mich alle wegen der Musik verlassen. Am Anfang finden sie es immer cool, dass ich in einer Band spiele. Dann merken sie, dass ich oft auf Tour bin.“ Wenn Urlaubsbuchungen anstehen, geht das nicht wegen Bandplanung. Familie und Hausbau schon gar nicht. Bei ihm zumindest—drei Fünftel von Cliteater sind glückliche Väter. Zu Hause arbeitet Ivan sechs Tage die Woche in der Baumschule, liebt die Wildnis. “In meiner Freizeit gehe ich immer in die Natur, beobachte Tier- und Pflanzenwelt, Bäume und Blumen. So kriege ich meinen Kopf frei.“ Ivan ist durch und durch entspannt, redet nie um den heißen Brei. Sein Boss in der Baumschule kann über seine Leidenschaft nur schmunzeln: “Er sagt, wir machen Schweinestallmusik. Er züchtete mal Schweine, jeden Morgen hörte er im Stall die gleichen Geräusche wie bei unserer Musik. Ich sehe das als Kompliment.“
In einem Rausch unendlicher Bierquellen und mörderischer Musik bahnen sich die Tage zu einem undurchschaubaren Knäuel an fragmentarischen Erinnerungen. Auch wenn manche Gesichter schon von tiefen Falten durchzogen sind und die Rücken- und Stimmwehwehchen Einzug halten, sieht man bei jedem Gig dort die jungen Thrash-Kids in den Augen von Cliteater & Co. aufleuchten. Alle für sich einzigartige Charaktere mit Gesichtszeichnungen, die wie Karikaturen oder Comic-Figuren strahlen, aber auch verängstigen. Shane Bottens wirkt wie ein Zwei-Meter-Holzfäller, einem, dem man nicht in die Augen schauen mag aus Furcht, er zerstampft einen in Grund und Boden mit der bloßen Faust. Er guckt solange grimmig, bis du ihm mit warmen Worten begegnest. Dann taut er als echter Showmaster auf. Ob die Fans das wissen? Egal. Keinem Normalsterblichen würde es einfallen, ihn auf der Bühne aufzustacheln. Grinder scheren sich nicht darum. In Tannheim greift ihm immer wieder einer an die Nudel. Belehrungen helfen nicht, Shane schluckt den Frust. Und den Anblick nackter Kerle im Circle Pit.
In Wermelskirchen aber denkt man, jetzt gibt’s eine mit der flachen Hand verbraten. Bottens trauert dem zu Hause gebliebenen eigentlichen Drummer der Band, Justin DiPinto nach, da der durch einen Unfall verhindert ist. Da ertönt aus dem Publikum ein heiseres Nelson Muntz-“HA HA“. Schockstarre, Atempause—was wird der Hüne anstellen? Genau das Gegenteil aller Erwartungen: Shane lacht laut und herzlich auf: Das hat ja bisher noch keiner gesagt“, und kichert mit seinen Bandkollegen. Unfassbar, mit welch aufrichtiger Güte diese Menschen durch ihr Leben gehen und ihre Leidenschaft teilen. Wenn ich in Wien Shane eine Käsekrainer ausgeben will, besteht er aufs Bezahlen: “Ich bringe dich sonst um!”. Er kennt die Schattenseiten anderer Szenen, spielt noch Gitarre in der Sleaze Rock-Band Hollywood Dirtbags: “Im Hard Rock und Rock ’n’ Roll gibt es wenig Kameradschaft und gegenseitige Unterstützung zwischen den Bands. Kein Show-Tausch oder kleine Touren zusammen. Im Grindcore und Death Metal geht es nur darum: auf Fußböden schlafen, jeder ist gleich, kein Gehabe, jeder hält zusammen.” Keine Rockstars, keine Abwertung der Support-Bands. “Es geht nicht darum, wie lange du das schon machst oder welchen Wiederkennungswert du hast”, wird auch Ivan ernst, “es geht um den Respekt und das Teilen derselben Sache.”
Dieser Zusammenhalt für eine kleine, monströs brutale Nische wird überdeutlich, als uns der Veranstalter im slowenischen Ljubljana behandelt wie einen Staatsbesuch; wenn im tschechischen Ostrava Fans und Bands vom Tresen zum Einladen in den Bus übergehen; wenn sich alle maßlos über eine warme Dusche und warmes Essen freuen, als wäre das ein echter Glücksfall und wenn uns Waco Jesus trotz vollgestopftem Bus noch mit auf die zweite Hälfte der Tour mitnehmen wollen. Aufrichtige Liebe glänzt aus den Augen. Ein Gefühl der ewigen Verbundenheit, weil man die gleiche, extrem absurde Vorliebe versteht. Und am Ende traut man seinen eigenen Augen nicht, wenn bei WhatsApp die nächste Herzchen-überflutete Nachricht von Cliteater kommt: “we miss you guys.”
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