Als die bewaffneten Männer vom BKA im Wohnzimmer seiner Mutter stehen, ist Kevin Dylla 17 Jahre alt. Sie tragen schusssichere Westen und wollen zu ihm, Kevin, genauer gesagt: in sein Kinderzimmer in einem kleinen hessischen Dorf bei Gießen. “Sind Sie jetzt extra von Berlin hergekommen, um ein Kinderzimmer zu durchsuchen?”, fragt Kevin. Das sind sie.
“Ist ja unser Job”, sagt einer der Beamten, bevor Forensiker und Polizisten eine Stunde lang Kevins Zimmer durchsuchen und Rechner, USB-Sticks und Dokumente heraustragen. Es ist April 2015, schon etwa zwei Monate vorher hatten die Ermittler die Telefonleitung der Familie angezapft. Vier Jahre später erzählt Kevin die Geschichte im Gespräch mit VICE, Medienberichte bestätigen die Eckdaten.
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Fast hätten Kevin und seine Mutter den Besuch der Polizeibeamten verpasst. Sie wollten gerade im Supermarkt einkaufen gehen und waren schon vor der Haustür, als der Polizeitrupp mit einem Rammbock an ihnen vorbei ins Haus marschierte. Kevin erzählt, wie er ihnen neugierig in den Hausflur gefolgt ist. “Die Polizei stand da Navy-CIS-mäßig in Formation. Es war wie im Film.” Zu diesem Zeitpunkt hatte Kevin immer noch nicht begriffen, dass sie seinetwegen hier waren.
Sie vermuteten russische Hacker und fanden ein Kinderzimmer
Kevin hatte im Januar 2015 für ein paar Tage Websites lahmgelegt. Die Seiten von Sigmar Gabriel, der SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi und der CDU waren vorübergehend nicht erreichbar, weil Kevin sie mit massenhaften, automatisierten Aufrufen aus einem Botnetz bombardierte, einem DDoS-Angriff. Erstmal wusste keiner, woher der Angriff kam. “Sicherheitsexperten waren im Januar zunächst von einer Attacke russischer Hacker ausgegangen”, schrieb Spiegel Online. Am Ende stand hinter dem Angriff aber nur ein Teenie, der die Aktion schon fast vergessen hatte.
Kevins Geschichte ist ein Lehrstück darüber, wie sich Polizei und Medien beim Thema Internetkriminalität gegenseitig hochschaukeln können. Erst kürzlich ist genau das noch einmal passiert: nämlich als ein anderer Teenager, Spitzname 0rbit, Anfang 2019 Adressdaten von Promis und Politikern leakte und damit fast eine Staatsaffäre auslöste.
Aber warum nur hat Kevin überhaupt DDoS-Attacken gestartet, und nicht wie viele andere 14-Jährige Fußball gespielt, einen YouTube-Kanal eröffnet oder heimlich Zigaretten gekauft? Wir treffen den heute 21-Jährigen in einem Café in seiner Heimatstadt. Gerade macht er sein Fachabitur und eine Ausbildung als Assistent für Informationsverarbeitung. Er liest heute Bücher über Persönlichkeitsentwicklung und trägt am Handgelenk ein Armband mit der Aufschrift “Entscheidung: Erfolg”. Aber früher war alles anders.
“Ich hatte eine sozial raue Zeit damals und wollte meine Probleme unterdrücken”, sagt er. Als Kevin elf war, ist sein Vater schwer krank geworden und gestorben. Seine Mutter schenkte ihm eine Playstation, um ihn irgendwie abzulenken. Kevin verbrachte viele Tage vor der Konsole, später überließ ihm eine Nachbarin ihren alten PC. Und dann las er in einem Medienbericht von der Aktivistengruppe Anonymous.
Kevin, 14 Jahre, wird Teil von Anonymous
Anonymous organisierte sich vor allem über IRC, ein Chat-System, bei dem sich Nutzer unter Pseudonym anmelden können. Mit ein paar Klicks gelangte Kevin in den Hauptkanal des anonymen Kollektivs – und wurde sofort angepöbelt. “Raus hier. Guck dir mal deinen Nickname an!”, soll ein anonymer Chat-Teilnehmer geschrieben haben. Kevin weiß nicht mehr genau, wie er sich damals genannt hatte. “Irgendwas mit 1337”, sagt er. Im Gamer-Jargon stehen die Ziffern für das Wort “Leet”, Elite. Das wird bei bei vielen Menschen vor allem Schulterzucken hervorrufen, für Kevin war es zu diesem Zeitpunkt ziemlich peinlich.
Der 14-Jährige “Elite-“Kevin hielt sich also erst einmal bedeckt, las aber tagelang still mit, was die anderen im Anonymous-Chat so schreiben. Dass die Gespräche auf Englisch waren, störte ihn nicht. “Ich habe als Kind mit meinem Vater Wrestling geschaut und die Kämpfe wurden immer auf Englisch übertragen, da habe ich das nebenbei aufgesaugt.” Irgendwann verpasste sich Kevin ein weniger peinliches Pseudonym. Obwohl sich Anonymous immer wieder als herrschaftsloses, dezentrales Kollektiv präsentiert, verstand Kevin die Hierarchie. “Ich wusste, wie ich mich darzustellen hatte, um ein bisschen elitär zu wirken.”
“Das war für mich keine Staatsaffäre”
Im Hauptchannel seien damals etwa 140 User aktiv gewesen, im deutschen Kanal nicht mal 20. Doch was Kevin am meisten interessierte, waren die Aktionen der Gruppe, über die nur in geschlossenen Channels gesprochen wurde. In diese Channels durfte nur hinein, wer sich als vertrauenswürdig beweisen konnte und schon länger dabei war. “Man wusste ja nie, wie viele Reporter oder Polizisten da unterwegs waren”, sagt Kevin.
Zu dieser Zeit machte Anonymous weltweit Schlagzeilen. “Die Internet-Aktivisten-Gruppe Anonymous mischt sich erneut ins Weltgeschehen ein“, schrieb das Handelsblatt im Jahr 2011. Während der des Arabischen Frühlings legten sie Websites von autoritären Regierungen wie Ägypten und dem Jemen lahm. Im Jahr 2012 griff die Gruppe unter dem Motto “Operation Blitzkrieg” die Neonazi-Plattform Altermedia an und veröffentlichte Daten von NPD-Spendern.
Kevin beteiligte sich an immer mehr Aktionen der Gruppe. Das Anonymous-Projekt namens OpISIS war für ihn die Gelegenheit, selbst aktiv zu werden. Damals spürten Anonymous-Aktivisten Twitter-Accounts und Websites auf, die islamistische Propaganda verbreiteten. Kevin arbeitete an einem Python-Skript mit, das automatisch Accounts bei Twitter meldete, wenn bestimmte Stichwörter in der Selbstbeschreibung standen. Perfekt war das Skript aber nicht. “Manche Nutzer wurden auch zu Unrecht gelöscht, nur weil ‘Islam’ oder ‘Moslem’ in der Bio stand”, sagt Kevin heute. Ob Anonymous ein Problem mit antimuslimischem Rassismus hatte? “Beim Thema Rassismus galt für mich immer ‘Don’t feed the trolls’”, sagt Kevin. Manchmal habe er in Channels, bei denen er Moderatoren-Status hatte, Leute für ihre Äußerungen aus dem Chat gekickt.
Wenn Kevin keine Lust auf Schule hatte, schwänzte er. “Ich will gar nicht wissen, wie viel Zeit ich damals im Chat verbracht habe.” Seine Freunde weihte er nicht ein. “Das war mein Geheimnis. Ich habe gesagt, ich würde zocken.” Ganz falsch war das nicht: Links stand der Monitor seines Rechners, rechts der Bildschirm mit der Xbox, auf der er Call of Duty gespielt hat, wie er erzählt. Auch seine Mutter wusste nicht genau, was er da tut.
Ist aus Kevin ein leidenschaftlicher Kämpfer gegen den Terror geworden? Eigentlich nicht. “Das Motiv, das in den Medien verbreitet wurde – Anonymous als Krieger für soziale Gerechtigkeit – war für mich nicht ausschlaggebend”, sagt Kevin. Er suchte etwas anderes: “Da wo Aufmerksamkeit war, bin ich hingegangen.” Die bekam er. Medien von BBC bis zur New York Times berichteten über die Anti-IS-Aktionen. Auch auf Twitter gab Kevin mit seinen Aktionen an. “Selbst-Marketing” nennt er das, aber darauf hätten nur wenige Reporter reagiert.
TangoDown für Sigmar Gabriel
Die DDoS-Aktion auf die Websites von Sigmar Gabriel und den anderen nannte Kevin “TangoDown”, im Militärsprech steht das für das Ausschalten eines Feindes. Sie brachte nur einen Bruchteil der Medienberichte von anderen, internationalen Aktionen. Kevin hätte sich mehr gewünscht. “Das war für mich keine Staatsaffäre”, sagt er. “Das lief eher so nebenbei und ich hatte es fast schon wieder vergessen.”
Wieso sich Kevin überhaupt Sigmar Gabriel vorgeknöpft hatte? “Einfach mal ausprobiert”, sagt er. Damals hatte sich Sigmar Gabriel dafür ausgesprochen, dass die Vorratsdatenspeicherung zurückkommen soll, ein Aufreger in der Tech-Community. Besonders schwer sei es nicht gewesen. Ein Bekannter habe ihm geholfen, an ein Botnetz zu kommen, Kevin konnte die Bots mit einer paar Klicks über seinen Browser auf die Websites loslassen. Keine große Sache.
“Was ich gemacht habe, kann jeder tun. Das hat nichts mit Hacken zu tun.”
Erst als die BKA-Beamten Rechner und Festplatten aus seinem Zimmer entfernt hatten, realisierte Kevin, was passiert war. Er wurde der “Computersabotage” verdächtigt, so stand es im Beschluss des Gerichts. Für Computersabotage reichen schon ein paar Mausklicks, um im schlimmsten Fall für drei Jahre im Gefängnis zu landen.
Kevin musste nicht ins Gefängnis. “Der Staatsanwalt hat gesagt, er sieht keine böse Absicht”, sagt er. Schon vor dem Prozess habe er ein soziales Wochenende gemacht, sagt Kevin. Er nennt es “Resozialisierungscamp”. Da habe er zusammen mit jugendlichen Straftätern, die zum Beispiel Drogen vertickt und Leute verprügelt haben, in einer hessischen Kleinstadt gesessen. Er fühlte sich fehl am Platz. “Das war absolut für’n Arsch. Aber man weiß ja, was die hören wollen.” Also hat Kevin bekräftigt, all das hätte ihm die Augen geöffnet.
Heute sind die Aktivitäten von Anonymous etwas eingeschlafen, medienwirksame Aktionen des dezentralen Kollektivs gibt es kaum noch. In Deutschland haben Hetzseiten mit verschwörungstheoretischen und rassistischen Inhalten dem Ruf des Kollektivs geschadet. Denn jeder kann sich Anonymous nennen, sei es bei Aktionen gegen Uploadfilter oder der Verbreitung von Falschnachrichten über Geflüchtete.
Kevin wünscht sich vor allem, dass die Öffentlichkeit eines begreift: “Was ich gemacht habe, kann jeder tun. Das hat nichts mit Hacken zu tun.” Die Nachrichtenmedien sahen das damals offenbar anders.
Angriff auf die Demokratie? Facepalm
“Polizei schnappt GroKo-Hacker”, titelte der Hessische Rundfunk am 16. April 2015. Auf Facebook schrieb die Tagesschau über ihn als einen “17-jährigen Hacker aus Gießen”. Die hessische Justizministerin forderte daraufhin höhere Strafen für Botnetz-Betreiber. Während seine Geräte ausgewertet wurden, sagte Kevin einigen Vertrauten Bescheid und zog sich aus den Chats zurück. “In der ersten Zeit danach hatte ich Schiss”, sagt Kevin.
Einige fragten im Anonymous-Chat nach ihm, doch es sei normal gewesen, dass manchmal Leute einfach verschwanden. Während der Ermittlungen erfuhr er dann noch, dass die Beamten nicht nur seinen Rechner auswerteten, sondern sich auch für seine Xbox interessierten. “Laut nem Kollegen waren die mit meinem Account online und haben sogar Call of Duty gestartet. Vielleicht wollten die schauen, ob sie da irgendwelche Nachrichten finden.”
Nach der Hausdurchsuchung verging etwa ein Jahr bis zum Prozess. In der Zwischenzeit sei Kevin immer wieder ein wenig aufgeregt gewesen, “aber nichts Großartiges”. Wer mit Kevin spricht hat das Gefühl, er hat eine lässige Einstellung zum Leben. Am meisten hätten ihn die regelmäßigen Gespräche mit seiner Anwältin genervt.
Heute sagt Kevin, das er vor allem Glück hatte. “Das Gericht hätte das ja auch als Angriff auf die Politik oder Demokratie werten können.” Das warfen Politiker nämlich einem Hacker namens 0rbit vor, der Ende 2018 vor allem Adressdaten von etwa Tausend Politikern und Prominenten ins Netz gestellt hatte. “Ein schwerer Anschlag auf die Demokratie“, nannte etwa Dietmar Bartsch von den Linken die Veröffentlichungen.
“Das war das Dümmste, was man hätte tun können. Es hätte mein Leben ruinieren können.”
Als die Nachrichtenmedien Anfang 2019 von 0rbits Datenleak berichteten, bekam Kevin einen Anruf von seinem Cousin. Ob er auch diesmal dahinter stecke? Natürlich nicht. Aber Parallelen gibt es: Genauso wie Kevin damals war 0rbit ein Teenager, der aus dem Kinderzimmer heraus handelte – und kein politischer Aktivist. Und zufällig wohnen beide Jungs in Hessen, nur 30 Kilometer voneinander entfernt.
Kevin hält es für ein Missverständnis, wenn Politik und Medien bei einem Datenleak wie diesem die Gesellschaft als ganze bedroht sehen. “Wenn sowas schon ein Angriff auf die Demokratie sein soll…”, sagt er und deutet einen Facepalm an.
Was 0rbit tat, war in der Tat eher Doxing als Hacking: Er stellte Daten ins Netz, um Menschen zu schaden. Ob er dabei überhaupt ein System “gehackt” hat, ist bis heute nicht geklärt. Expertinnen vermuten, dass 0rbit schlicht Daten aus anderen Quellen zusammengetragen hat und sie wahllos ins Netz gestellt hatte.
“Politisch hat meine Aktion damals Null gebracht”
Was Kevin sonst von 0rbit halte? “Ich glaube nicht, dass 0rbit ein Legionär der AfD ist”, sagt er. Das spekulierten Nachrichtenmedien, da 0rbit in seinem Leak keine Politiker der Rechtsaußen-Partei bloßgestellt hatte, wohl aber Personen aus allen anderen Parteien im Bundestag. Kevin glaubt, 0rbit sei es primär um Aufmerksamkeit gegangen, so wie ihm damals.
Kevin hat daraus gelernt. “Politisch hat meine Aktion damals Null gebracht. Das war das Dümmste, was man hätte tun können. Es hätte mein Leben ruinieren können.” Auch das Leben seiner Familie hätte Kevin ruinieren können, davon spricht er immer wieder: “Es tut mir leid, dass ich das meiner Mutter und meinen Schwestern angetan habe. Sie hatten ja vorher noch nie in ihrem Leben mit der Polizei zu tun.” Seine Mutter habe nicht verstanden, was ihrem Sohn vorgeworfen wird. Kevin erzählt, als alles vorbei war, habe seine Mutter ihm einen Rat gegeben: “Nutz deine Fähigkeiten und lass die Finger von illegalen Sachen.”
Hat sich Kevin nun ganz von Anonymous verabschiedet? Wenn man ihn danach fragt, bleibt er absolut entspannt. Inzwischen hänge er nur noch ab und zu brav in den Chaträumen herum, sagt er: “Man redet über Gott und die Welt. Eigentlich ist es so wie auf Reddit.” Nur ein bisschen still sei es geworden.
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