“Auflegen ist eine Zeitreise.” Ellen Allien blickt mit leuchtenden Augen durch die Glasscheibe. “Wir DJs suchen nach der Message einer alten Platte, überlegen uns, wie wir sie heute in unsere Sets integrieren können. Und dann: BOOM, explodiert der Club!”
Um uns herum “explodiert” erstmals nichts. Stille. Na gut, kein Wunder, wir stehen ja auch im Museum. “Good Vibrations” heißt die aktuelle Sonderausstellung des Musikinstrumenten-Museums von Berlin. Von Moog über Roland bis Yamaha hat man hier die Evolution der elektronischen Musikinstrumente kuratiert. Der Besuch war Ellens Idee und passt auch gut zu ihrem neuen Album Nost.
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“Nost” kommt von “Nostalgie”. Letzteres wiederum leitet sich von zwei altgriechischen Wörtern ab. Das erste heißt νόστος (nóstos) – die “Rückkehr, Heimkehr”. Das zweite, ἄλγος (álgos) – den “Schmerz, die Not und die Trauer” – hat Ellen einfach gestrichen. Bei ihr hat die Vergangenheit noch Zukunft: Sie ist der Resonanzraum für Liebe, Lust und Musik in der Gegenwart.
Das wird mir in den zwei Stunden unseres Gesprächs mehr und mehr deutlich.
“Wir DJs suchen nach der Message einer alten Platte. Und dann: BOOM, explodiert der Club!”
Dass sie die neuen Tracks analog aufnahm, hat allerdings nichts mit der Vergangenheit zu tun: “Es macht einfach viel mehr Spaß, wenn du an so einem Ding rumsitzt und rumdrehst. Wenn da eine Welle rauskommt …” Ihre Hände fahren hoch. Ihr lila Windbreaker raschelt. Wieder dieses Leuchten. Und schon drehen wir an den Knöpfen eines digitalen Theremin-Nachbaus, setzen nacheinander die Kopfhörer auf, lassen die Wellen singen.
“Total toll, ein kleines Spielzeug!”
Ein paar Meter weiter vergleicht Ellen das ausgestellte Modularsystem mit ihrem eigenen System 35. Sie hat es auch auf Nost eingesetzt. Bei der nächsten Vitrine fachsimpelt sie: “Dieser Moog-Synthie hier: brilliante Melodien, super Pop-Musik. Aber der macht alles platt, den kannst du nur als Hauptthema verwenden. Apparat und ich haben ihn ganz oft bei Orchestra of Bubbles genommen.” Das Instrument schweigt.
Ihre ersten Sachen vor über 20 Jahren hat die Berlinerin mit einem Akai MPC 2000 produziert. Damals legte sie bereits seit vier Jahren auf. Den Akai gibt es heute auch im Museum zu sehen, Ellen ist mittlerweile weltweit erfolgreiche DJ, Produzentin, Labelbetreiberin, Veranstalterin. Mit ihrer “Vinylism” Reihe zelebriert sie Plattenläden und Vinyl-Kultur, ihr Label BPitch Control richtet regelmäßig Partys im Berliner Open-Air Club IPSE aus.
“‘Zu doll’ gibt es nicht. Ich lebe die Musik einfach zu 100 Prozent.”
Nach Jahren voller Gigs rund um die Welt war die Ausgangsfrage simpel:
“Wo stehe ich gerade?”
Ellen sagt, sie habe “ganz klar eine Nostalgie gespürt.” Gerade hört sie auch zu Hause so viel Dance Music wie seit Jahren nicht mehr. Bestellt viel nach, hört sich neue Sachen sofort daheim an. “Gerade ist es sehr intensiv, ich bin zu doll drin”, findet Ellen. “Obwohl, nein, ‘zu doll’ gibt es da nicht. Ich lebe die Musik einfach zu 100 Prozent.”
Das Auflegen, die nächtliche (oder sonntägliche) Arbeit werde so zum emotionalen Wechselbad, erklärt sie: “Wenn ich einen alten Track spiele, wird mir heiß, ich bekomme Gänsehaut und werde in die Vergangenheit zurückgeworfen.” Das sei schon immer so gewesen.Ein neuer, vielleicht unreleaster Track hole sie dann wieder in die Realität zurück.
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Wenn du Ellen Allien heute auflegen siehst, dann fällt dir eine Sache auf: Anders als viele Kollegen und Kolleginnen tanzt sie dabei – wenn auch manchmal kaum merklich. Sie macht keine Show fürs Publikum. Sie ist konzentriert, verträumt, lässt sich mitreißen. Und das Tanzen passiert ganz automatisch. “Schließlich kriege ich die volle Basswelle auf meinen Arsch. Und wenn ich nicht tanze, tanzen die Leute sicher bald nicht mehr.”
Wenn du dann aber die Chance hast, dich näher mit ihr über ihre Kunst zu unterhalten, dann rückt neben Nostalgie und Bewegung sofort ihre ausgeprägte politische Haltung in den Fokus. Mit dieser behauptet sie sich schließlich seit Jahren im Großzirkus des Techno-Kapitalismus.
“Momentan muss man sehr viel aufpassen. Es gibt so viele Events. Für wen spielt man und für wen nicht? Wir sagen viele Anfragen ab. Mein Booker checkt für mich, ob da nicht Mafiosis hinter stecken und ob die Festivals nicht die Clubs vor Ort kaputtmachen.” Dafür braucht ein Booker Erfahrung und Kontakte. Und da, wo der Kommerz sei, vor allem auf den großen Festivals, da laufe dann auch “schreckliche Musik im immer gleichen Line-up.”
In Berlin wiederum, da überlebe laut Ellen alles, da spiele sie überall. Die Clubs seien durch die Touristen eh meist voll. Von Sellout für Ellen keine Spur: “Jeder Club hat seine eigene Energie, seine eigene Message und Musik. Das Watergate ist anders als der Kater, der Tresor hat noch mehr Detroit-Geschichte als etwa das Berghain.”
Und, das gilt in Berlin wie auch im Rest der Welt: “Ich spiele Gigs nicht nur für die Gagen, sondern auch für den Lifestyle – in kleinen Clubs etwa, auf dem CSD oder bei Partys wie ‘Members‘ in Berlin.
Diese Ellen Allien-Energie kann also theoretisch jeder bekommen – aber nicht jeder hat sie verdient.
Mittlerweile haben wir die Synthesizer-Ausstellung hinter uns gelassen, sitzen im Museumscafé und sprechen über eine der größten Baustellen im Geschäft: das Quotenbooking für weibliche DJs. “Warum siehst du auf großen Festivals nie mal zwei starke Frauen nacheinander auflegen? Eine Nina Kraviz und eine Ellen Allien nacheinander etwa. Warum kann auf jeden Floor immer nur eine Frau sein und sechs bis acht Männer?”
“Es ist einfach geil, wenn eine Frau geil auflegt. Wir sind gerade viel heißer als die Typen.”
Jahrelang wollte sie sich nicht dazu äußern, nicht zu sexistischen Veranstaltern und auch nicht zum Klüngel unter den männlichen Szenegrößen. Mittlerweile freut sie sich nicht nur über den Aufstieg von Helena Hauff, tINI, The Black Madonna & Co in die höchsten Riegen, sie äußert sich auch eindeutig:
“Warum muss sich eine Frau immer besonders gut mit einem der großen Typen verstehen, um diese Slots zu bekommen? The Black Madonna und Nina Kraviz sind so schnell gewachsen, weil der Markt eben nach ihnen und ihrer Musik schreit. Weil es einfach geil ist, wenn eine Frau geil auflegt. Wir sind gerade viel heißer als die Typen.”
All diese Facetten unseres Gesprächs spiegeln sich in der Musik von Nost auf unterschiedliche Weise wieder. Das Tanzen kommt als Erstes dran: Der Opener “Mind Journey” spielt mit dem berühmten Air Liquide-Zitat aus frühen Loveparade-Zeiten: ” This is not a mind trip, this is a body journey! ” Track #3, “Jack My Ass” haut in die gleiche, dunkle Peaktime-Kerbe: “Tanzen ist ein Körpererlebnis, bei dem du den Geist locker lässt”, sagt Ellen. “Da wird jeder Muskel bewegt. Das ist ein Ausbruch von der Computerarbeit, von den immer gleichen Bewegungsabläufen.”
“Ich bin total glücklich, eine solche Geschichte zu haben.”
Das gilt auch für sie, wenn sie selbst mal ausgeht oder gerade mit ihrem Set fertig ist: “Ich kann nicht stundenlang in der Ecke des Clubs stehen und gucken. Ich muss tanzen. Oder ich knutsche rum.” Zwischen Tracks wie “Erdmond” (ein Stück über die erste Mondlandung) und “MMA” (über ihren gleichnamigen Münchener Lieblingsclub) fängt dazu passend “Stormy Memories” Ellens nostalgische Gefühlsachterbahn der Liebe ein.
Und dann ist da noch “Call Me”. Darin singt die Produzentin selbst: ” Call me and your dreams come true / I want your sex.” Tinder, Grinder … Hier spielt die Musik des schnellen Sexs und der schnellen Liebe. Ellen findet es krass, wie viele dort einander nach Aussehen aussortieren. Der Track ist aber mehr Soundtrack als Kritik. Auch wenn sie selbst auf alle Dating-Apps verzichtet. “Ich bin ein echter Anquatscher. ‘Wie heißt du? Willst du ‘nen Drink?’ Ich muss sehen, wie sich eine Person bewegt, mit anderen Leuten umgeht.” Und weil heute ja Nostalgie-Tag ist, sei nochmals dran erinnert, dass sich Ellen schon vor 16 Jahren auf ihrem ersten Album Stadtkind mit digitaler Liebe auseinandergesetzt hat: Die “Data Romance” gab es wirklich: per E-mail. Damals wie heute gilt: “Es ist wichtig, dass sich die Leute begegnen. Egal wie.”
Wieder einmal sind wir von der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück gewandert. Fernab der großen Festivalbühnen, im Bauch des Museums sitzt Ellen Allien und sagt über sich selbst: “Ich bin total glücklich, eine solche Geschichte zu haben.”
Am Wochenende fliegt sie für einen Gig nach Dubai. Zum Abschied gibt es einen letzten Tipp an die Menschen der Gegenwart:
“Leute, trefft euch so viel wie möglich! Und küsst euch!” Dann kann man später hübsch nostalgisch werden.
Ellen Allien Nost ist auf BPitch Control erschienen. Am 2. Juli spielt sie bei der nächsten Labelparty in der IPSE, danach folgen Sets beim Melt!, Madville, WET Open Air, Sonnemondsterne und der Street Parade in Zürich.
Die Ausstellung “Good Vibrations” im Musikinstrumenten-Museum, Berlin, wurde gerade bis zum 27. August verlängert.
Mit freundlichen Dank an Katrin Herzog.
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