Für neun Euro steht die Welt uns offen. Sie ist unsere Auster und wir müssen sie nur schlürfen wie das Dosenbier, mit dem wir erst unsere Rucksäcke füllen und dann, na ja, uns. Im überfüllten Zug können wir – voll bis obenhin – durch die Welt fahren, die schon Goethe, Heine und Fontane in Worte zu fassen versucht haben. Dabei hätten sie einfach mal in einen Regionalexpress steigen sollen. Kaum ein anderes Verkehrsmittel wird dem deutschen Wesen dermaßen gerecht. Kaum ein anderes Verkehrsmittel macht uns so glücklich.
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Das Neun-Euro-Ticket. Erdacht von der Ampel-Regierung, um uns das Gefühl zu geben, dass sie etwas tut gegen die Abhängigkeit vom russischen Öl und Gas, ja von fossilen Brennstoffen allgemein. Geschenkt natürlich, dass es gleichzeitig Subventionen gibt für den, der doch lieber Auto fährt. Also, natürlich nicht wirklich geschenkt. Denn wo die Prioritäten des Verkehrsministers liegen, zeigt sich in den Kosten der beiden Maßnahmen: Das Ticket kostet die Steuerkasse wahrscheinlich etwa 2,5 Milliarden Euro, der Tankzuschuss etwa 17 Milliarden. Besser als nichts, würde Verkehrsminister Volker Wissing sagen (FDP, wer es sich nicht schon gedacht hat).
Was aber die Autofahrerin nicht weiß, ist, dass sie die Verliererin dieses Deals ist. Denn der Regio ist ja mehr als ein Transportmittel. Anders als ein Auto etwa, dessen einziger Zweck es ist, von A nach B zu kommen, Abgase zu produzieren und im Stau zu stehen. Der Regio ist ein Lebensgefühl. Er ist der Ort, an dem Menschen erwachsen und wieder Kinder werden. Er ist der Geburtskanal des Glücks, ein langer Schlauch, in dem wir alles, was das Leben schön macht, erfahren können. Und bald werden wir – also alle, die irgendwann vor lauter Erwachsenwerden auf ICEs und Inlandsflüge umgestiegen sind – uns dieses Gefühl wieder gönnen müssen. Einfach weil es so günstig wird, und das Leben so teuer.
Denn wie schön waren die Tage, die meine Freunde und ich im Regio verbracht haben, weil wir kein Geld für ICEs hatten. Damals, mit 18, 19 Jahren. Morgens sind wir los, vom einen Ende links zum anderen Ende rechts der Republik. Bonn nach Berlin. Die schnellste Verbindung dauert heute 9 Stunden, 25 Minuten. Damals wird es ähnlich gewesen sein. Sieben Umstiege: Bonn – Köln – Hamm – Minden – Hannover – Wolfsburg – Stendal – Rathenow – Berlin. Dementsprechend früh los, keine Gelegenheit zu schlafen, weil in keinem Zug länger als anderthalb Stunden, Sitzplätze sowieso eher Glück als gebucht. Geht gar nicht im Regio.
Und wenn Menschen in ihren späten Teens nicht schlafen können, aber wahnsinnig müde sind, putschen sie ihren Körper bis zur Revolution des Magens. Dosenbier und Energydrinks und Dosenbier und haha, hat Achim etwa einen Flachmann dabei, der ist so crazy, gib her! Die Nasen der Mitfahrenden rümpfen sich vor Ekel und Missgunst, aber was sollen sie sagen? Das hier ist halt ein Regio, da gelten keine Regeln. Regio ist Chaos, solange der Schaffner nicht das Gröhlen hört.
Frühstück, Mittag- und Abendessen gibt es in den Bahnhöfen. Die großen Städte haben einen McDonald’s, die kleinen nur eine Back-Factory, aber das ist in Ordnung. Für die Schlange beim Fastfood hätte man ohnehin keine Zeit, der nächste Zug fährt gleich ab und von Gleis 11 bis Gleis 1 sind es ja auch ein paar Meter. Aber hey, die Billig-Bäckerei-Kette hat immerhin dieses Crunchy-Chicken-Brötchen, das ein bisschen an echtes Essen erinnert und nicht nur an durchweichte Pappe mit Käsearoma.
Wenn die Umsteigezeit doch mal ein paar Minuten beträgt, ist das gerade genug, um die Kultur der Gegend kennenzulernen. Gute Provinzbahnhöfe haben auch eine Bahnhofskneipe, -klause, -stube oder -beisl. Eine dunkle Kaschemme voller zwielichtiger Gestalten, die ihren Tag aber genauso verbracht haben wie man selbst. Ohne das Reisen, klar. Verloren hat man dort nichts. Aber es ist doch besser, am Glas zu sitzen als am Gleis. Und ein frisch gezapftes Pils ist auch einfach eine gekühlte Abwechslung zur Dose 5,0.
Im Zug dann wieder Muff, Muff, Muff. Es ist Sommer und die Klimaanlage der Deutschen Bahn berüchtigt. Also entweder defekt oder nicht vorhanden. Man schwitzt und schwitzt und der Rücken wird schon ganz klebrig und stinkt mit denen der anderen Passagiere den Zug voll, weil die Suppe nicht trocknen kann. Stattdessen vereinigt sie sich mit den Polsterbakterien der Sitze zu einer giftigen Gülle, die säuerlichen Muff, Muff, Muff erzeugt.
Und nicht nur das, alles riecht nach kaltem Qualm. Oder Moment, kalt? Im letzten Vierer vor der Tür zum nächsten Waggon raucht doch einer, igitt. Ach nein, das ist ja Achim im Vierer nebenan, haha. Der Achim … Die Jugendlichen im letzten Vierer vor der Tür trinken nur Dosenbier – wie wir.
Wenn es nämlich keine Omis auf Kaffeefahrt ins Heino-Café sind, Geschäftsreisende, die ihren Ortstermin in gerade dem Kaff wahrnehmen müssen, in dem der ICE nicht hält, oder Gruppen von Schülerinnen auf dem Weg ins Freilichtmuseum, sitzen in diesen Zügen auch Menschen wie man selbst. Und mit denen verbrüdert man sich schnell.
War es früher das Wochenendticket, wird es ab Juni das Neun-Euro-Ticket sein, das die Menschen verbindet. Manchmal trennen sich die Wege. Die einen fahren weiter nach Hamburg, müssen also in Hannover raus. Die anderen fahren sogar bis nach Sylt. Manchmal aber trinkt man einfach im A&O-Hostel weiter, dem betongewordenen Regionalexpress. Hier sind wir alle eins.
Menschen, die kein Geld haben für die bourgeoise Art zu reisen. Menschen, die Bier trinken und ständig umsteigen und singen und wissen, dass das hier gerade vielleicht das Beste ist, was sie jemals erleben werden. Denn sie – und man selbst – haben nicht viel außer Zeit und dem Gefühl, nichts zu verpassen, weil die Fahrt selbst das Highlight der Reise ist. Kris Kristofferson hat einmal gesungen: “Freedom’s just another word for nothing left to lose. Nothing ain’t worth nothing – but it’s free” und meinte damit garantiert den deutschen Regionalexpress.
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