Enttäuschte IS-Kämpfer flüchten angeblich aus ar-Raqqa

Diese Woche hat eine syrische Watchdog-Organisation behauptet, dass desillusionierte ausländische Kämpfer und vermeintliche Selbstmordattentäter den Islamischen Staat in Richtung Türkei verlassen und zu anderen Gruppierungen überlaufen.

Diese Behauptung wurde aufgestellt von Raqqa is Being Slaughtered Silently (RBSS), eine Organisation zur Berichterstattung und Beobachtung der Entwicklungen in ar-Raqqa. Der Islamische Staat hatte die Stadt einst zum Zentrum seines sogenannten Kalifats ernannt. RBSS erzählte dem Independent, dass sie ihre Informationen von Leuten beziehen, die immer noch in ar-Raqqa leben.

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In einem Statement auf ihrer Website berichtet die Organisation von Barrieren und Checkpoints, die der Islamische Staat errichtet hat, um seine Kämpfer an der Flucht zu hindern. Des Weiteren ist die Rede davon, dass die Überläufe ein Anzeichen für Unstimmigkeiten innerhalb des IS sind, die zu seinem Niedergang führen könnten. Die Watchdog-Organisation spricht außerdem noch von den demoralisierenden Folgen der US-Luftschläge und des Verlusts von Kobane und schreibt, dass „sich innerhalb der Truppen Angst breitmacht.”

Viele Kämpfer, die eigentlich als Selbstmordattentäter bestimmt waren, sind nach der Bezahlung einer Menge Geld in die Türkei geflohen. Andere haben Zuflucht in von der Al-Nusra-Front kontrollierten Gebieten gesucht. Auf weitere Anfragen von VICE News kam von RBSS bisher noch keine Antwort.

„In ar-Raqqa ist eine innere Unzufriedenheit zu spüren, die zur Aufspaltung und letztendlich zum kompletten Auseinanderfallen der Gruppierung führen könnte”, heißt es von Seiten der RBSS. „Hoffnung kehrt zurück und manifestiert sich in den Herzen der übrig gebliebenen Bewohner von ar-Raqqa, die darauf warten, dass in der besetzten Stadt bald wieder Freiheit herrscht.”

Die Behauptungen der Organisation werden auch durch andere Berichte gestützt, in denen es heißt, dass viele Kämpfer den IS verlassen wollen. Laut US-Experten ist das keine überraschende Entwicklung, denn so etwas konnte in der Vergangenheit auch schon in anderen Terror-Organisationen beobachtet werden. „Das Zielbewusstsein und die Begeisterung, wegen denen viele Menschen überhaupt erst für den IS kämpfen, verlieren schnell ihren Glanz, wenn Schlachten verloren werden”, erklärte Scott Stewart gegenüber VICE News. Stewart ist der Vizepräsident der Abteilung für taktische Analyse beim Think Tank Stratfor.

„Das Ganze käme jetzt nicht überraschend. Schon in der Vergangenheit und sogar als al-Qaida im Irak ihr Unwesen trieb, konnten wir beobachten, wie die Leute kalte Füße bekamen, als sie einen Selbstmordanschlag durchführen sollten”, sagte Stewart. „Der Islamische Staat steht derzeit unter sehr viel Druck und deswegen kann ich verstehen, wenn man nicht mehr für die Sache kämpfen will. Das Abschlachten von Syrern ist eine Sache, aber wenn man schwere Verluste hinnehmen muss—wie jetzt in Kobane—, dann verändern sich die Sichtweisen.”

Patrick Skinner, ein ehemaliger CIA-Sachbearbeiter und Leiter von Spezialprojekten bei The Soufan Group, sagte Folgendes zu VICE News: „Ich höre hier zum ersten Mal, dass Leute flüchten, die speziell als vermeintliche Selbstmordattentäter betitelt werden. Da der IS aber vornehmlich ausländische Kämpfer als menschliche Bomben einsetzt, ergibt es schon Sinn, dass flüchtende Mitglieder als vermeintliche Selbstmordattentäter bezeichnet werden.”

Viele Kämpfer kommen nach Syrien oder in den Irak und „wissen gar nicht wirklich, worauf sie sich da einlassen, und wollen jetzt wieder weg”, erzählte Marina Ottaway, Dozentin beim Middle East Program des Wilson Centers, gegenüber VICE News. Die augenscheinlich drastischen Maßnahmen der IS-Anführer bezüglich der Überläufe zeigt, wie viel Probleme die Situation der extremistischen Gruppierung bereitet. „Uns ist bekannt, dass die Zahl der Flüchtenden extrem hoch ist, und der IS zeigt öffentlich, wie hart die Leute bestraft werden, die versuchen, zum Feind überzulaufen. Sie machen sich Sorgen, bald keine Kämpfer mehr zu haben.”

Man schätzt, dass 2014 zwischen 15.000 und 20.000 ausländische Kämpfer die Reise nach Syrien oder in den Irak angetreten haben. Leute aus Westeuropa, Nordafrika, dem Nahen Osten und den USA wurden bei ihrem Trip oder bei dessen Planung erwischt und diejenigen, die dem IS wirklich beigetreten sind, haben in den sozialen Medien ausführlich von ihrem neuen, tollen Leben berichtet. Experten sind sich jedoch einig, dass die Realität des Islamischen Staats nicht der romantisierten Vorstellung entspricht, die viele Kämpfer vor ihrer Ankunft hatten.

„Jüngere Männer können sehr idealistisch und von solchen Dingen total fasziniert sein. Dann schließen sie sich dem IS an und müssen erkennen, dass das Ganze nicht ihren Vorstellungen entspricht”, erklärte uns Stewart. „Zwischen dem normalen Kampf und der Aufgabe eines Selbstmordattentäters liegen dann eben doch Welten.”

„Meiner Meinung nach liegt es auf der Hand, warum so viele IS-Kämpfer weg wollen”, sagte Ottaway. „Viele junge Männer wissen gar nicht, worauf sie sich da einlassen. In ihrer Vorstellung kämpfen sie für das glorreiche Kalifat, aber dort sind sie—also vor allem diejenigen, die in den Vororten von Paris oder in den USA aufgewachsen sind—dann überhaupt nicht auf die Realität des Krieges, auf ihre Aufgaben und auf das wahre Gesicht des IS vorbereitet. Es stellt sich schließlich wohl schnell eine Ernüchterung ein.”

Die ganze Situation wurde auch schon öfters mit dem Lied Hotel California von den Eagles verglichen: Dort „kannst du zwar auschecken, kommst aber niemals wirklich weg.” Kämpfer, die es bis in die Türkei schaffen und von dort aus weiter in andere europäische Länder reisen wollen, werden sehr wahrscheinlich erkannt und aufgehalten—und das nur wegen ihrem Engagement im IS.

„Der IS verspricht videospiel-ähnlichen Spaß, aber dann muss man sich vor Luftschlägen in Sicherheit bringen”, erklärte Skinner. „Noch viele weitere Kämpfer werden ihre Entscheidung bereuen und der Islamische Staat wird einiges unternehmen, um eine Massenflucht zu verhindern.” Ganz trocken fügte Skinner noch hinzu, dass diese Entwicklung eben „die Kehrseite der Medaille ist, wenn man eine Gruppierung von Psychopathen und selbstmordwilligen Rekruten leitet.”

Weder RBSS noch die von VICE News interviewten Experten konnten eine genaue Zahl im Bezug auf die Kämpfer nennen, die versuchen zu fliehen oder dies schon geschafft haben. Alle waren sich jedoch darin einig, dass es vor allem wichtig sei, dass diese Rekruten nach ihrem Wunsch zu kämpfen jetzt raus wollen. Diese Entwicklung zeigt uns, dass die Geschlossenheit des Islamischen Staats bröckelt und der Aufwind abnimmt. Laut Stewart gibt es auch noch weitere Anzeichen für die Schwierigkeiten der extremistischen Gruppierung: die Luftschläge, der Verlust von Kobane und der Gegend um Sindschar und die erzwungene Wehrpflicht in einigen Teilen Syriens. „Das zeigt uns, dass ihnen die Kämpfer ausgehen”, erklärte er.

„Noch ist es zu früh, um von einem Zerfall zu reden”, betonte Ottaway jedoch. „Der IS musste einige Niederlagen hinnehmen und hat wohl auch viel von dem Ruhm verloren, den er nach der Eroberung von Mossul errungen hatte und als quasi unaufhaltsam galt … Jetzt ist jedoch klar, dass es dort auch Schwächen gibt.”