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Kelly vergisst kein Gesicht: So jagt sie Verbrecher

Die Britin ist eine der besten Super-Recognizerinnen der Welt. Sie erkennt Menschen auf Überwachungskameras besser als jede Software.
Kelly Hearsey ist eine Super-Recognizerin, sie kann überdurchschnittlich gut Gesichter erkennen. Ihre Fähigkeit ist vor allem bei der Polizei gefragt, um Mörder zu überführen.
Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung von Kelly Hearsey

In den vergangenen Jahren haben Überwachungstechnologien große Fortschritte gemacht. Besonders umstritten ist dabei der Einsatz von Gesichtserkennungssoftware. Dabei gibt es Menschen, die in diesem Bereich viel genauer als jeder Algorithmus heute arbeiten: sogenannte Super-Recognizer.

Super-Recognizer sind Menschen, die über 80 Prozent aller Gesichter wiedererkennen, die sie in ihrem Leben mal gesehen haben. Die Durchschnittsbevölkerung schafft etwa 20 Prozent. In der Forschung ist die Fähigkeit erst 2009 beschrieben und benannt worden. Welcher neuronale Mechanismus dahinter steckt, ist noch weitestgehend unbekannt. Bislang geht man davon aus, dass die Begabung angeboren ist und nur etwa ein Prozent der Weltbevölkerung über sie verfügt.

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Super-Recognizer sind vor allem in der Strafverfolgung gefragt, auch in Deutschland, besonders aber in Großbritannien.

Die Britin Kelly Hearsey ist eine solche Super-Recognizerin. Sie arbeitet für Super Recognizers International Ltd., deren Dienste von Polizeibehörden im ganzen Land in Anspruch genommen werden. 2018 machte sie einen Super-Recognizer-Test und erzielte die höchste Punktzahl der bis dahin sechs Millionen Kandidatinnen und Kandidaten. Seitdem arbeitet sie Vollzeit als Super-Recognizerin. Ihre Einsätze reichen von Mordermittlungen bis hin zu Taschendiebstählen.

VICE hat mit Kelly Hearsey gesprochen.

Zwei Männer und eine Frau untersuchen Videoaufnahmen an Computern

Kelly mit ihren Kollegen bei der Arbeit | ​Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung von Kelly Hearsey​​

VICE: Wie bist du darauf gekommen, den Test zu machen?
Kelly Hearsey: Ich wusste immer schon, dass ich gut darin bin, Gesichter zu erkennen. Wenn ich auf der Straße ein Gesicht gesehen habe, wusste ich zum Beispiel, dass das die Schwester von einer alten Grundschulfreundin ist, die ich seit über 30 Jahren nicht gesehen habe. Wenn ich sie dann angesprochen habe, habe ich nur einen leeren Blick zurückbekommen. Das ist mir so oft passiert, dass ich einfach dachte, dass ich Menschen viel mehr beachte und selber schnell vergessen werde. Wie sich allerdings herausgestellt hat, weiß ich einfach schon nach einer winzigen Millisekunde, wer jemand ist. Auch wenn unsere letzte Begegnung Jahrzehnte zurückliegt. Ich muss die Person noch nicht einmal gut sehen können, ein flüchtiger Blick über die Schulter reicht.

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Durch solche Kleinigkeiten ist mir gedämmert, dass ich da wohl ein Talent habe. Deswegen wollte ich den Test unbedingt machen. Und ich bin froh, dass ich es getan habe.

Inzwischen habe ich wahrscheinlich die meiste nicht-militärische Arbeit aller Super-Recognizer in Großbritannien geleistet. Wahrscheinlich sogar auf der ganzen Welt, weil Großbritannien global eine Vorreiterrolle in diesem Bereich einnimmt.

Als Super-Recognizer erkennst aber nicht nur Gesichter, du weißt auch sofort, wer sie sind und woher du sie kennst. Dein Gedächtnis spielt eine ebenso wichtige Rolle, oder?
Ja, und deswegen sind wir sehr gut bei Ermittlungen, bei denen es um Geschwindigkeit geht. Ich muss nicht erst lange rumsitzen und mir Gesichtszüge einprägen. Ich brauch ein Gesicht nur ein paar Sekunden zu sehen und habe es dann im Gedächtnis abgespeichert. Es ist sehr unheimlich und auch ziemlich cool, wenn das passiert.

Liegst du immer richtig?
Ja, ich weiß es immer zu 100 Prozent. Du sagst nicht: "Ich glaube, das könnte vielleicht der Bekannte aus meinem alten Job sein." Es ist sehr solide und endgültig.

Musstest du noch ein Training durchlaufen, als feststand, dass du diese Fähigkeit hast?
Die Tests sind sehr streng. Bei Super Recognizers International sind wir sehr wählerisch. Es gibt verschiedene Abstufungen dieser Fähigkeit und wir nehmen nur die Besten der Besten. Natürlich bilden wir unsere Leute auch aus. Da geht es um Juristisches oder Verhaltensanalysen, damit wir auch in verdeckten Operationen eingesetzt werden können.

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Was war dein erster Auftrag?
Einer meiner ersten Aufträge war ein Mordfall. Zum Glück konnte ich aufgrund meiner Obsession mit True Crime der Polizei relevante Fragen stellen. Ich habe sogar meine eigenen Mini-Ermittlungen geführt. Das hat den Ermittlern zu ein paar guten Ergebnissen und neuen Beweisen in dem Fall verholfen. Seitdem habe ich drei weitere große Mordfälle bearbeitet.

Einmal habe ich bei den National Film and TV Awards auf dem roten Teppich gearbeitet. Ich hielt Ausschau nach YouTubern, die gedroht hatten, die Bühne zu stürmen. Sie hatten das vorher schon einmal gemacht. Ich stand vorne am roten Teppich zwischen Film- und Fernsehstars und habe nach Leuten gesucht, die sich daneben benehmen. Das war cool.

Eine konzentriert blickende Frau mit braunen Augen in Nahaufnahme

Bist du nervös, wenn du diese verdeckten Operationen machst?
Nein, ich fühle mich bestärkt und fest entschlossen, den Job zu erledigen. Du scannst Tausende Gesichter und nichts passiert, bis die eine Person erscheint und dir plötzlich die Haare im Nacken hochstehen. Du weißt dann genau: Das ist sie.

Wir finden bei unseren Einsätzen übrigens nicht immer die Zielpersonen, aber andererseits ist auch noch niemand an uns vorbeigekommen. Deswegen arbeiten wir auch bei Großveranstaltungen. Die letzte war ein Slipknot-Konzert.

Nach wem habt ihr denn bei dem Konzert gesucht?
Bei ihrem Konzert in Birmingham haben wir mit der örtlichen Polizei im Bereich Taschendiebstahl zusammengearbeitet. Wir haben nach bekannten Gruppen von Taschendieben Ausschau gehalten. Anscheinend haben die Tätergruppen es immer auf die gleichen Bands abgesehen. Wir haben alle Eingänge beobachtet, aber niemanden entdeckt. Aber natürlich war nach dem Konzert nichts verloren oder gestohlen gemeldet worden. Es gab auch keine anderen Vorfälle. Wir waren sehr zufrieden, die Veranstalter auch.

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Arbeitest du auch bei Demonstrationen?
Wir haben bei der Royal Windsor Horse Show gearbeitet, weil in der Vergangenheit ein Demonstrant schon einmal sehr nah an die Queen gekommen war. Ich leitete ein sechsköpfiges Team und wir mussten nach 106 verschiedenen Gesichtern Ausschau halten. Wir postierten uns an verschiedenen Stellen des Eingangs und entdeckten acht oder neun Protestierende, die reinkommen wollten. Einer meiner Kollegen konnte eine der Zielpersonen aus etwa 200 Metern Entfernung erkennen. Eine andere Kollegin sagte: "Da ist Nummer 62!" Sie hatte sich die Mühe gemacht, sich alle Nummern zu merken, was nicht nötig gewesen wäre.

Macht dir das Spaß? Es klingt ein bisschen wie Wo ist Walter? in echt.
Ja, manchmal kneife ich mich bei der Arbeit. Ich arbeite in einem Bereich, der mich unglaublich fasziniert und über den ich davor schon so viel wusste, weil ich mich dafür interessiere. Mit dem Job ist ein Traum für mich wahr geworden. Soweit ist es einfach nur großartig und ich freue mich auf jeden neuen Tag.

Was war der größte Fall, an dem du gearbeitet hast?
Ein Fall, an dem ich gearbeitet habe, ist auch viel durch die Medien gegangen. Sie hatten den Mörder am Tatort festgenommen, aber sie wollten wissen, wie sehr die Tat geplant war.

Die Ermittler haben mir Aufnahmen von Überwachungskameras aus dem Umkreis des Tatorts gegeben. Die kompletten vier Tage vor dem Mord, 96 Stunden. Ich fand den Täter an 83 verschiedenen Stellen, aufgezeichnet von unterschiedlichen Kameras. Damit konnte ich den Ermittlern nicht nur zeigen, dass er in der Gegend gewesen war, sondern auch, dass er sein Mordwerkzeug Stück für Stück in Tatortnähe brachte und es dort versteckte. Er hat das über mehrere Nächte verteilt getan. Sein Mordwerkzeug konnte man durch Details, die ich auf den Aufnahmen gesehen habe, mit einem anderen Fall in Verbindung bringen. Dadurch gab es Beweise, durch die er zu einer extrem harten Strafe verurteilt wurde. Welche er auch verdient hatte. Das war phänomenal.

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Gibt es eine wissenschaftliche Erklärung für deine Fähigkeit?
Es gibt einen bestimmten Teil des Gehirns, den Gyrus fusiformis im Temporallappen. Der ist wichtig für die Gesichtserkennung. Jeder hat einen, aber an meinem ist etwas komisch. Die Fähigkeit ist angeboren und es gibt verschiedene Abstufungen. Es gibt Menschen, die überhaupt keine Gesichter erkennen können, das nennt man Gesichtsblindheit oder Prosopagnosie. Die erkennen noch nicht mal ihr eigenes Gesicht im Spiegel. Das ist eine ziemlich schlimme Einschränkung. Das ist das eine Ende des Spektrums, am anderen Ende befinden sich die Super-Recognizer.


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Kannst du auch gut Emotionen bei Menschen erkennen?
Nein, diese Sachen sind nicht miteinander verbunden. Wir haben aber alle unsere Macken. Ich kann zum Beispiel auch Menschen am Hinterkopf erkennen. Ich schätze, ich achte auf die Kopfform. Andere Super-Recognizer erkennen Leute an ihrem Unterkiefer. Die meisten von uns müssen nicht das ganze Gesicht sehen. Wir schauen uns nicht die Augen oder den Mund an, wir achten auf das Gesamtbild. Deswegen können wir sie in einer Sekunde erkennen, glaube ich. Weil wir das Ganze sehen.

Hast du auch sonst ein gutes Gedächtnis?
Nein [lacht]. Das scheint nicht miteinander verbunden zu sein. Einige von uns haben ein schreckliches Namensgedächtnis. Es gibt bei uns zum Beispiel auch nicht viele Menschen mit Autismus als Super-Recognizer. Die Gruppe, mit der ich arbeite, ist total gemischt. Alle kommen aus ganz unterschiedlichen Ecken, haben verschiedene Fähigkeiten, viele sind kreativ veranlagt, aber nicht alle. In dem Bereich muss allerdings auch noch viel geforscht werden.

Wie wirkt sich die Fähigkeit auf deinen Alltag aus?
Im Einkaufszentrum ist es ziemlich hart, weil da viele Leute sind, die genau wie du einkaufen. Du siehst vielleicht jemanden und dann siehst du die Person ständig, bis du glaubst, dass sie dich stalkt. Aber das tut sie nicht, ihr seid nur im selben Einkaufszentrum. Inzwischen kann ich das aber besser einordnen.

Gibt es noch etwas, das du loswerden möchtest?
Falls jemand hier denkt, ebenfalls über diese Fähigkeit zu verfügen, sollte die Person unbedingt den Online-Test machen. Wir haben auch einen Verband, die Association of Super Recognisers. Auf der Website gibt es reichlich Informationen, die für einige interessant sein könnten und wir bieten auch Trainings an.

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