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10 Fragen an eine Erzieherin, die du dich niemals trauen würdest zu stellen

Bist du schon mal ausgerastet? Welche Eltern sind am schlimmsten? Was hältst du von gendergerechter Erziehung?
Kinder in einem Kinde
Symbolfoto: imago images | Shotshop

Helenas* Arbeitstag könnte man als ganz schön abwechslungsreich bezeichnen: Mit einer Geräuschkulisse von bis zu 98 Dezibel ist es so laut wie auf dem Bau, die täglichen Rollenspiele würden jedes Improtheater aufwerten und es werden mindestens genauso viele Windeln gewechselt wie im Altersheim.  

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All das gehört zu Helenas Alltag. Die 24-jährige ist Erzieherin in einem Kindergarten in Süddeutschland und seit drei Jahren passt sie auf Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren auf. Man könnte vermuten, ausgerechnet in einer Phase, in denen die Kinder am anstrengendsten sind. Ist das wirklich so? Oder übt Helena einen Traumberuf aus, bei dem zwischen Waldspaziergängen und Bibi Blocksberg die größte Herausforderung die Wahl der Buntstifte ist?

Wir haben Fragen.

VICE: Bevorzugst du manche Kinder?
Helena:
Ich würd sagen: Ja. Ist zwar echt mies und man sollte es eigentlich nicht machen, aber man hat schon seine "Lieblingskinder". Natürlich bin ich zu allen Kindern nett, aber zu denen, die man lieber mag natürlich noch mehr und zu den anderen ist man ein bisschen strenger. 


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Welche Eltern sind am schlimmsten?
Die Art von Eltern, die es nur belächeln, wenn man ihnen sagt, dass sich ihre Kinder nicht benehmen können. Bei uns im Kindergarten haben wir einen Fall: Ein Junge, fünf Jahre alt. Er rastet fast täglich aus und geht auf andere Kinder und sogar auf uns Erzieherinnen los. Andere Kinder haben Angst vor ihm und wollen nicht mehr in den Kindergarten kommen. Wir haben so viele Gespräche mit der Mutter geführt, aber immer wenn man ihr etwas berichtet, was ihr Sohn gemacht hat, guckt sie dich an und lacht. Meistens sagt sie Sachen wie: "Die anderen Kinder sind ja bestimmt auch keine Engel." Da kommt man sich einfach dumm vor. Man hofft, dass das Elternteil sich daran beteiligt, dem Kind bessere Manieren beizubringen und dann stößt man auf so ein Unverständnis.

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Bist du schon mal ausgerastet? 
Ja, das ist schon mal passiert. Der Junge mit der uneinsichtigen Mutter hatte einen seiner Ausraster. Wir wollten ihn aus der Gruppe rausbringen, damit er die anderen Kinder nicht verletzt. Er ist durchs Zimmer gerannt, bis ich ihn zu fassen bekommen habe. Als wir ihn schließlich in die Küche gesetzt und versucht haben, ihn mit Worten zu beruhigen, ist er wieder auf uns los. Erst bewarf er mich mit Stiften und dann mit Bechern. Ich war so sauer, dass ich einen Becher in seine Richtung gekickt hab. Ich glaube, ich habe ihn nicht mal getroffen. Der Junge hat dann angefangen mich auszulachen – mit so einem teuflischen Blick. Das hat mich nur noch mehr provoziert. Da fühlt man sich hilflos, ich dachte mir den ganzen Tag, "was soll ich mit diesem Kind machen?"

Bist du schon mal Zeuge davon geworden, wie ein Kind sich selbst oder andere unangebracht angefasst hat?
Tatsächlich! In meinem ersten Jahr waren zwei Jungs im Rollenspielzimmer, da gibt es Verkleidungssachen, eine kleine Kinderküche und anderes Spielzeug. Ich wollte die beiden zum Frühstück holen und als ich den Raum betrat, waren die Jungs gerade dabei, sich eine Wäscheklammer an ihr bestes Stück zu klemmen. Ich war total geschockt und hab sie gefragt, was sie denn da machen. Sie sagten, sie spielen Doktor. Ich bin schnell zu meiner Leitung und sie hat die Situation gehandhabt, ich wusste in meinem ersten Jahr noch gar nicht, wie ich damit umgehen soll.

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Aber eine gewisse Neugierde ist bei den Kindern normal, da kommt es mal vor, dass sich ein Kind die Hose runter zieht, ganz nach dem Motto: "Ich zeig dir meins, wenn du mir deins zeigst." Aber das ist alles sehr unschuldig.

Lästerst du mit Kolleginnen und Kollegen heimlich über manche Kinder?Wir versuchen das undercover zu machen und zum Beispiel Namen zu buchstabieren. Wenn wir beim Frühstücken unter den Erziehern über ein bestimmtes Kind reden, dann bekommt das immer eins der Kinder mit und fragt "über wen redet ihr denn da?“. Wir antworten meistens, "ach, über meinen Nachbarn", oder so. Solche Lügen gehen einem da schnell über die Lippen.

Wie sehr belastet der Lärmpegel deine Psyche?
Es gibt gute und schlechte Tage. Schlechte, wenn die Kinder den ganzen Tag laut sind, nicht zuhören, Quatsch machen. An solchen Tagen fühlt man sich, als würde man gegen eine Wand reden und einfach nicht mehr dagegen ankommen. Dann schreien die Kinder UND die Erzieher. Zu Hause nach der Arbeit brauch ich erstmal eine halbe Stunde, um runter zu kommen, weil das so ein psychischer Stress ist. Wenn mein Freund mich dann auch noch ab und zu vollquatscht, bin ich manchmal echt zickig und sage, "bitte lass mich einfach kurz in Ruhe".

Musstest du schon mal das Jugendamt einschalten?
Leider ja. Letztes Jahr ist ein Mädchen zu uns in die Gruppe gekommen, drei Jahre alt. Sie hat sich immer total verkrampft und gewehrt, wenn wir sie wickeln wollten.

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Eine Bekannte der Familie hat uns dann zugetragen, dass der Vater das Mädchen wohl unangebracht anfasse. Es gab allerdings nie konkrete Beweise. Auch uns sind weiterhin merkwürdige Sachen aufgefallen, zum Beispiel haben wir an dem Zaun, der die Gärten trennt, zwei Gucklöcher auf Augenhöhe mit Blick auf den Hof des Kindergartens entdeckt. Das Gras um die Stelle war komplett zertrampelt, als würde dort regelmäßig jemand stehen und rüber schauen. Gleichzeitig wurde das Mädchen immer ängstlicher. Wenn sie bei einem von uns auf dem Schoß saß, hat sie immer die Hände der Erzieher von ihren Oberschenkeln weggeschlagen.

Letzten Sommer häuften sich dann die Vorfälle. Uns wurde zugetragen, dass der Vater sich Morgens am Zaun mit Blick auf die Kinder selbst befriedigt hat. Einige Tage später berichtete uns die Nachbarin des Mädchens, wie die Kleine auf dem Trampolin gespielt hat und ihr Vater zu ihr geklettert ist. Er habe sich die Hose heruntergezogen und das Mädchen habe um Hilfe gerufen. Wir selber haben ihn zwar nie auf frischer Tat ertappt, aber als uns diese Geschichte zugetragen wurde, haben wir das Jugendamt und die Polizei eingeschaltet.

Die Polizei hat uns gesagt, dass der Mann schon aktenkundig und vorbestraft ist. Ein paar Stunden nach unserer Anzeige wurde er verhaftet. Seitdem darf er nicht mehr in den Kindergarten kommen. Das Jugendamt war oft bei der Familie, aber der Vater kam irgendwann wieder frei. Aufgrund ungenügender Beweislast. Die Augenzeugenberichte reichten anscheinend nicht aus und die Strafanzeige wurde fallen gelassen. 

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Das Mädchen wohnt jetzt bei seiner Oma. Es ist noch bei uns im Kindergarten und hat eine gute Entwicklung durchgemacht. Allerdings ist er jetzt wieder in die Nähe gezogen. Wir sind natürlich super vorsichtig aber uns sind die Hände gebunden.

Vermutest du hinter jedem Mann, der sich bei euch bewirbt, einen Pädophilen?
Ich persönlich nicht. Meine Vorgesetzte ist seit diesem Zwischenfall aber sehr vorsichtig geworden. Letztes Jahr hatten wir einen männlichen Erzieher. Unsere Leitung wollte nicht, dass er die Kinder wickelt und sich mit ihnen alleine in der oberen Etage aufhält. Das ging allerdings nur solange, bis sie ihn richtig einschätzen konnte und wusste, dass er den Kindern nichts antun würde. Das ist schon ein bisschen unfair. Männliche Erzieher sind gefragt, vor allem bei den Jungs. Unser FSJler ist handwerklich viel begabter als ich und kann den Kindern einfach andere Sachen bieten. Er tobt mit ihnen und sorgt für mehr Action. Es herrscht auch einfach ein anderes Arbeitsklima wenn Männer mit im Team sind. Ich würde mir mehr Männer in dem Beruf wünschen.

Findest du dein Gehalt fair?
Viele sind überrascht wie viel ich verdiene. Wir werden nach dem Tarifverträgen für den öffentlichen Dienst im Sozial- und Erziehungsdienst bezahlt. In der Kategorie 8A "Erzieher" bekomme ich etwa 3000 Euro brutto. Je länger man in dem Beruf arbeitet, desto weiter kann man in den Kategorien aufsteigen und mehr verdienen.

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Ich finde es trotzdem schade, dass wir nicht verbeamtet sind, wie zum Beispiel Grundschullehrer. Dabei machen wir im Kindergarten die Vorarbeit. Viele denken, als Erzieher spielst du den ganzen Tag, trinkst 'nen Kaffee und das wars. Ich spiele vielleicht am Tag eine Stunde mit den Kindern. Im Rest der Zeit führe ich Elterngespräche, muss Beobachtungstabellen ausfüllen oder Entwicklungsstände überprüfen. Punkte wie kognitive Entwicklung, Sprache und Auswertungen des Bildungsstands, um Angebote für das Kind zu machen, gehören genauso zu meinem Alltag. 

Was hältst du von gendergerechter Erziehung?
Wir haben einen Jungen, der liebt es sich die Fingernägel zu lackieren. Seine große Schwester macht das auch und er findet das einfach cool. Andere Jungs sagen dann, "Hä, du bist doch kein Mädchen, warum lackierst du dir die Nägel?". Ein anderer Junge hat etwas längere Haare, die ihm seine Mama manchmal einen Zopf bindet. Da kommen immer ein paar Kommentare wie: "Nur Mädchen haben Zöpfe! Da schreiten wir als Erzieher ein und sagen: "Warum? Es gibt auch Jungs mit langen Haaren, die können genauso einen Zopf tragen wie ein Frau."

Wenn sich ein Junge die Fingernägel lackieren will, sagen wir: "Go for it!" Wir bringen den Kindern bei, dass sie nicht so in Stereotypen denken sollen. Wir haben Trinkbecher in verschiedenen Farben und versuchen den Kindern zu erklären, dass es keine Jungen- oder Mädchenfarben gibt. Wenn ein Junge einen rosa Becher möchte, würden wir ihm das nie ausreden. Warum auch?

*Name geändert. Helenas richtiger Name ist der Redaktion bekannt.

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