Menschen

Eine Kneipe in Darmstadt bietet im Lockdown eine Telefonsprechstunde an

"Ich bin weder der beste Freund, noch ein Fremder. Ich bin so ein Zwischending, eine Bezugsperson auf einer eigenen Ebene." – Dennis, 25, Barmann
Dennis Pomplitz Barkeeper Tresen Telefon
Alle Fotos: Philipp Sipos

Kneipen sind nicht systemrelevant - meint jedenfalls die Politik. Sonst müssten sie während des Lockdowns nicht schließen. In der "Goldenen Krone" in Darmstadt hat man nun erkannt, dass Kneipen mehr sind als Tankstellen für Menschen, die nichts mit ihrer Freizeit anzufangen wissen. 

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Jeden Freitag sitzt Barkeeper Dennis Pomplitz, 25, von 20 bis 21 Uhr deshalb am Tresen und nimmt die Anrufe von Menschen entgegen, die ihre "Krone" vermissen. Oder sich einfach mal ausheulen wollen. Und ab und zu ist auch ein absurdes Anliegen dabei. 

Es ist 18:30 Uhr an einem Dienstag, als ich mit Dennis telefoniere. Da sitzt er gerade zu Hause.


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VICE: Hallo Dennis, was machst du derzeit, wenn du nicht am Tresen stehen darfst?
Dennis:
Nichts. Normalerweise schlafe ich tagsüber. Das ist mein Rhythmus. Ich war immer ein Nachtmensch. Tagsüber kann ich besser schlafen als nachts. So bin ich auch in der Gastronomie gelandet.

Immerhin hast du freitags wieder einen Abendtermin. Wie seid ihr auf die Idee mit der Sprechstunde gekommen?
Anfangs war das nur ein Werbegag meiner Chefin. Die wollte etwas Lustiges bei Facebook schreiben, damit unsere Gäste uns nicht vergessen. Nur fanden die Leute das dann so geil, dass wir damit schnell eine Riesenreichweite bekommen und es in die Tat umgesetzt haben. Beim ersten Mal haben dann auch so viele Leute angerufen, dass ich bis nachts um drei am Telefon hing. Deshalb haben wir es fortgesetzt. Mittlerweile haben wir die Sprechstunde auf eine Stunde begrenzt. In der rufen dann so fünf bis sechs Leute an.

Und wie läuft das ab?
Ich komme gegen 19:30 Uhr in die Kneipe, mache das Licht an und drehe die Heizung auf - die Räume sind ja eiskalt, weil die ganze Woche niemand da ist. Dann stelle ich das alte Telefon mit Wählscheibe auf den Tresen, ein paar Getränke daneben und trinke zwei Schnäpse. Ich will ja in guter Stimmung sein, wenn die Leute anrufen. Das ist zur Zeit gar nicht so leicht. 

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Trinkst du dann auch mit den Anrufern?
Manchmal. Ich habe da ein Wasser stehen, eine Fanta, ein paar Bier und eine Flasche Vodka. Manchmal fragt ein Gast, ob ich einen mittrinken will. Wir vergleichen dann, was wir dahaben und wenn er sich zum Beispiel einen Jägermeister einschenkt, gieße ich mir einen Vodka ein und wir stoßen übers Telefon an. Meistens schwanke ich auch nach Hause. 

Wer ruft da so an? 
Manchmal sind das Leute, die noch nie in der Krone waren. Die wollen nur schauen, ob die Sprechstunde funktioniert und sagen, wie cool sie die Idee finden. Manche erzählen auch wirklich persönliche Sachen. Dann wird die Sprechstunde zu einer Art Beichtstuhl.

Was bekommst du zu hören?
Nichts Anzügliches. Nur Schönes, Trauriges oder Lustiges. Oder die Geschichte von jemandem, der wegen Corona seinen Job verloren hat. 

Bedrückt dich, wenn Leute dir ihr Leid schildern?
Während des Gesprächs fühle ich natürlich schon mit. Aber am Ende schauen wir immer positiv in die Zukunft. Also depressiv gehe ich da abends nicht aus dem Laden raus.

Und schöne Gespräche?
Da gibt es zum Beispiel den, der jeden Freitagabend anruft, um mit mir das eine Bier vorm Schlafengehen zu trinken. Normalerweise wäre er dafür in die Krone gegangen, der Anruf ersetzt das. Dafür bedankt er sich dann.

Was für lustige Anrufe bekommst du?
Manchmal rufen Stammgäste an, die erzählen, dass sie zu viert, fünft oder sogar zehnt im Keller sitzen. Die wollen mal wieder von mir hören, fragen wie es läuft und ob sie sich darauf verlassen können, dass es die Kneipe noch gibt, wenn sie wieder rein dürfen.

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Und was sagst du denen?
Ich muss da eigentlich wenig sagen: Die stellen mir eine Frage und antworten selbst schon mit der nächsten. Ansonsten versuche ich schon, Stimmung zu machen. Die gute Laune muss ich oft vortäuschen. Aber bei manchen Gesprächen ist sie echt, weil die Gespräche so schön sind, oder weil ich jemandem mit meinen Ratschlägen helfen kann.

Wem konntest du denn schon helfen?
Zu konkret will ich nicht werden, aber das war ein junger Kerl Mitte 20. Der hatte noch nicht viel Erfahrung mit Frauen und war bei einer eingeladen, die er toll fand. Sie war gerade im Bad, hat sich schick gemacht, als er mich vom Balkon anrief. Er war total orientierungslos und wollte Tipps von mir. Ich habe ihn dann beruhigt. Ich habe ihm gesagt, dass allein die Tatsache, dass sie ihn abends zu sich eingeladen und Alkohol besorgt hat, zeigt, dass sie auch Interesse an ihm hat. Ich habe ihm das alles zurechtgelegt, damit er etwas mehr Selbstvertrauen hat und sich traut, die Initiative zu ergreifen. Ich hoffe, es hat ein Happy End gegeben und die beiden kommen irgendwann Hand in Hand in die Krone und sagen hallo.

Hast du das Gefühl, dass die Gespräche jetzt intimer sind als am Tresen?
Der Mittelwert ist der gleiche. Am Tresen schlagen die Gespräche aber oft aus ins Extreme: Entweder extrem intim oder extrem seicht. Am Telefon ist jedes Gespräch emotional, aber eben nicht so extrem.

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Warum glaubst du, dass Leute  dich anrufen statt etwa der Telefonseelsorge?
Weil sie mich schon kennen. Ich bin weder der beste Freund, noch ein Fremder. Ich bin so ein Zwischending, eine Bezugsperson auf einer eigenen Ebene. Die Leute vertrauen mir ja auch, dass ich ihnen nichts in die Drinks mische, da können sie mir auch ihre Sorgen anvertrauen.

Lag dir das von Anfang an, dieser Deep Talk mit Gästen? 
Ich arbeite jetzt seit drei Jahren in der Gastronomie und musste das erst lernen. Ich bin selbst gar kein Kneipengänger. Wie die Kommunikation da läuft, musste ich mir erst aneignen. Aber das kam von selbst.

Was sind die größten Hürden, vor denen man da steht, wenn man neu anfängt?
Naja, nicht alle Gäste sind nett. Der Gast ist zwar König, aber nur so lang, wie er sich auch wie einer benimmt. Manchmal muss ich Gäste rauswerfen, die dann versuchen, wieder reinzukommen. Immer wieder. Da werde ich aus dem schönen Teil meines Berufs rausgerissen.

Was muss ich tun, um aus der Krone rauszufliegen?
Einmal hat sich einer vor dem gesamten Publikum auf den Tisch gestellt, in seinen Krug gepisst und den ausgetrunken.

Barkeeper Kneipe Lockdown

So still ist es derzeit in der Goldenen Krone und in Dennis' Alltag.

Oh Gott. Rufen solche Leute auch an?
Gott sei Dank nein. Da würde ich auch sofort auflegen. Ich hatte aber erwartet, dass ich den ein oder anderen Dude am Telefon habe, der Nazi-Parolen oder "Scheiß Krone" brüllt oder so – aber nicht mal ansatzweise. Das kann natürlich noch kommen. Spätestens wenn RTL was ausstrahlt.

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Ja, RTL. Ihr kriegt schon viel Aufmerksamkeit, du gibst jede Menge Interviews, warst auch schon im Fernsehen. Hast du Fans? Groupies vielleicht?
Ein paar Kollegen machen sich darüber lustig, dass ich jetzt populär bin. Die sehen, dass die Beiträge über mich auf Facebook unzählige Kommentare kriegen und dass da auch einige Damen dabei sind, die Herzen vergeben. Damit ziehen sie mich auf, aber ich denke, wenn das ganze vorüber ist, wird alles wieder so sein wie vorher. Ich habe dann meine Gäste, die mich mögen, nur dass es vielleicht ein paar mehr sein werden. 

Keine Liebesbekenntnisse?
Ein Gast hat mir eine Geschenktüte an die Tür gehängt, so eine gemischte Tüte mit Obst und einer Weihnachtskarte, auf der ein paar nette Worte standen.

Aber es rufen keine Frauen an, um mit dir zu flirten?
Wenn, dann machen sie das nicht offensichtlich genug. Das passiert eher am Tresen.

Aha?
Ja, am Anfang dachte ich auch, geil, jetzt wird es wild. Aber ganz ehrlich, nach einem halben Jahr ist man nur noch genervt davon. Dann geht man denen aus dem Weg, wenn die irgendwelche Andeutungen machen. Ich muss ja auch meinen Job machen.

Wo und wie trinkst du jetzt?
Zu Hause auf meinem Sofa. Oder nutze den Freitagabend am Kneipentelefon aus. Dann muss ich für die Woche vortrinken.

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