Sex

Mein Körper zittert unkontrollierbar, so habe ich Sex

"Ich verzichte auf Oralsex, wenn mein Mundtremor gerade sehr schlimm ist. Das könnte zu ein paar unangenehmen Zahnabdrücken führen."
ein junges paar händchenhaltend im bett, ein essentieller tremor schränkt einen nicht nur im alltag ein, sondern auch beim sex
Foto: Beatriz Vera / EyeEm via Getty Images

In den meisten Fällen sind Hände und Arme betroffen, seltener der Kopf oder Beine und Füße: Bei bis zu vier Prozent aller Menschen zittern diese Körperstellen unkontrollierbar. Die Ursache ist ein sogenannter essentieller Tremor, eine neurologische Störung. Häufig wird sie bei der Diagnose mit Parkinson im Frühstadium verwechselt. Dabei ist das Zittern bei Parkinson besonders prägnant bei ruhenden Körperteilen, wohingegen ein essentieller Tremor bei Bewegungen sichtbar wird. Je mehr die betroffenen Muskelgruppen beansprucht werden, desto stärker wird das Zittern. Stress, Müdigkeit, Krankheit, Hunger, extreme Emotionen, Aufputschendes wie Koffein, starke Kälte und eine Menge anderer Faktoren können einen essentiellen Tremor verschlimmern.

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Trotz seiner weiten Verbreitung wurde der essentielle Tremor in der Medizin lange als zumutbare Unannehmlichkeit abgetan. Manche sind weiterhin der Meinung, dass er nicht als Behinderung kategorisiert werden sollte.

In Wahrheit ist die Störung höchst unbeständig und kann mit dem Alter voranschreiten. Manche Menschen entwickeln nur ein leichtes Zittern im Mittleren Alter, das sich danach nicht mehr groß verändert, wohingegen andere schon im Kindesalter einen merklichen Tremor haben, der mit jedem Jahr anderthalb bis fünf Prozent stärker wird. Das kann dazu führen, dass sie später Probleme bei alltäglichen Dingen wie dem Schreiben bekommen. Viele Betroffene haben auch innere Tremores, die Probleme mit der Balance und Koordination verursachen. Auffällig zitternde Hände und damit einhergehende Probleme des Selbstbewusstseins, eine quietschende Stimme, unsichere Schritte oder andere sichtbare Symptome können zu Unsicherheiten führen, die den Tremor wiederum verschlimmern.

Was genau die Störung verursacht und wie man sie behandelt, ist in der Fachwelt immer noch nicht geklärt. Die eingesetzten Medikamente zeigen bei über der Hälfte der Betroffenen keine oder nur eine geringe Wirkung. Andere Lösungen wie Hirnoperationen bringen ihre eigenen schweren Nebenwirkungen mit sich. Und so bleibt am Ende vielen nur ein gutes Stressmanagement, Schlafhygiene und hin und wieder ein tremorbesänftigendes Glas Alkohol, um die Störung halbwegs im Griff zu haben. Die Auswirkungen der Störung auf das Sexleben wurde bislang noch nicht wissenschaftlich untersucht, obwohl die Implikationen offensichtlich sind.

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Ich selbst habe im Alter von sechs Jahren die ersten Symptome eines essentiellen Tremors gezeigt, 20 Jahre später wurde ich dann auch mit der Störung diagnostiziert. Karyn Lee bekam ihre Diagnose bereits als Kind. Wir haben uns darüber unterhalten, wie sich die Störung auf Dating und unser Sexleben auswirkt.


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VICE: Wann und wie ist dir dein Zittern zum ersten Mal aufgefallen?
Karyn Lee:
In der Grundschule. Insbesondere, wenn es draußen kalt war, hatte ich Tremors in meinem Kopf, die meine Zähne unkontrollierbar Klappern ließen. Die Leute um mich herum meinten dann, dass ich übertreiben würde. Das ist auch so eine Sache: Die Tremores fangen dir an aufzufallen, wenn andere Menschen sie bemerken. Die denken dann, dass da noch mehr los ist. Ich wurde schon von Leuten gefragt, ob ich kurz vor einem diabetischen Schock stehe. Andere dachten, ich hätte Entzugssymptome von Drogen und Alkohol.

Die Lehrer und Mitschüler in meiner Schule dachten, ich sei ängstlich oder würde etwas verstecken. Ich wurde immer wieder gefragt: "Warum bist du nervös?" Ich bekomme das immer noch oft zu hören.
Ja, oder die Leute glauben, dass du einfach neurotisch bist. Das erste Mal, als mein Mann meine Tremores bemerkte, saßen wir zusammen am Tisch. Ich war 19. Er fragte nach der Milch. Ich streckte meinen Arm aus, um sie ihm zu reichen. Durch die Streckung wurde mein Zittern so schlimm, dass der Karton zu schütteln begann. Er dachte, ich sei einfach ungeduldig und unhöflich. Als würde ich mit dem Behälter vor ihm rumwedeln. Nach dem Motto: Na los, nimm schon. 

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Wann hast du dir zum ersten Mal Gedanken darüber gemacht, welchen Einfluss dein Tremor oder die Art, wie andere Menschen ihn wahrnehmen, auf dein Sexleben hat?
Als Teenagerin, als ich generell damit anfing, mir Gedanken zum Dating zu machen – und als meine Tremores prägnanter wurden. Ich fing an, Probleme beim Essen mit Besteck zu kriegen. Ich kleckerte mich ständig voll. Also selbst bei ganz einfachen Sachen wie einem Dinner-Date habe ich mir Sorgen gemacht, was andere denken würden. Als bräuchte man als Teenagerin noch mehr Zeug, über das man sich den Kopf zerbrechen muss, wenn man mit dem Dating anfängt.

Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich an einem schlimmen Tremortag die Kontrolle über eine heiße Tasse Tee verloren und ihn über mich und mein High-School-Date geschüttet habe. Das waren demütigende Erfahrungen.
Als ich etwa zur gleichen Zeit anfing, mir Gedanken über Sex zu machen, war mein Zittern für mich vor allem eine Frage des Selbstbewusstseins. Es ist auch so schon eine große Sache, dich zum ersten Mal vor einer anderen Person auszuziehen. Du machst dir Sorgen, ob sie dich zu dick, zu dünn oder was auch immer findet. Dazu kommt dann die Angst, ob sie dein Zittern bemerken wird. Wird sie sich Sorgen machen? Wird sie Fragen stellen? Ein tiefergehendes Gespräch à la "Ja, ich habe diese degenerative Nervenstörung …" ist so ziemlich das Letzte, was du in dem Moment willst.

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In der Regel spricht man nicht mit anderen über die Krankheit, nicht wahr? Man versucht einfach, damit klar zu kommen. 

Ja, man will ja nicht noch mehr Aufmerksamkeit darauf lenken.
Aber ich habe dann gemerkt, dass ich Menschen, mit denen ich was habe, erklären muss, was es mit meinem Zittern auf sich hat. Also habe ich es ein paar Leuten gesagt, die ich während der High School gedated habe. Trotzdem war es beim Sex noch immer in meinem Kopf. Ich wollte auf keinen Fall etwas Falsches machen und mich blamieren. Also habe ich mich in dem Moment vor allem darauf konzentriert, mein Zittern zu verstecken, was einen am Ende komplett aus dem Geschehen holt. 

Was genau hast du gemacht, deinen Tremor während des Sex zu verstecken? Ging es darum, bestimmte Stellungen zu vermeiden, die eventuell dein Zittern auslösen oder verstärken?
Bestimmte Stellungen vermeiden, ja. Aber auch generell, mich nicht zu sehr anzustrengen, weil das bei meinen Tremores eine große Rolle spielt. Das hieß, dass ich mich nie wirklich auf den Sex einlassen konnte, was meinen Spaß dabei noch mehr einschränkte. 

Welche Stellungen und Akte gehen mit deinem Tremor nicht so gut?
Alles, was mit Balance zu tun hat. Ich weiß nicht, ob du auch Beintremores bekommst, aber wie experimentierfreudig kann man sein, wenn man ständig Gefahr läuft, umzufallen und sich und andere zu verletzen? Es ist nicht so, dass ich nicht fit wäre. Ich könnte jetzt sofort fünf Kilometer laufen. Aber bei meiner Koordination hapert's. Jede Stellung, bei der ich stehen muss, ist eine Herausforderung. Es schränkt mich schon etwas ein. Ich kann zum Beispiel nicht einfach bei einem Picknick spontan Sex im Stehen im Gebüsch haben. 

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Ich habe kein schlimmes Beinzittern, aber ich habe innere Tremores und Balanceprobleme. Egal wie fit ich bin, ich habe immer Angst vor Treppen. Ich kann nie sicher sein, dass mein Fuß die nächste Stufe trifft.
Es ist einfach der Kontrast, der Leute erstaunt: Die meiste Zeit sehen dich die Menschen als komplett "normal" – vor allem, wenn sie deinen Tremor nicht sehen können. Dann ist es umso bestürzender für sie, wenn du plötzlich nicht mehr OK bist und umfällst. Es ist eine Überraschung. Vor allem, wenn es beim Sex passiert. 

Mein Grundtremor – also, wenn er nicht durch Erschöpfung, Stress oder was auch immer verstärkt ist – ist schon so stark, dass ich Probleme habe, sanfte Berührungen zu kontrollieren. Nur wenn ich viel Druck ausübe, habe ich das Gefühl, die Kontrolle über meine Hände zu haben. Immer wenn ich mit jemandem zusammen bin, der leichte Streicheleinheiten mag – oder jedes Mal, wenn ich besonders sensible Stelle berühre –, habe ich kein wirkliches Selbstbewusstsein über die Berührung. Gerade, wenn man zum ersten Mal mit jemandem was hat, ist es schwer, das nicht die ganze Zeit im Kopf zu haben.
Ich kann mir vorstellen, dass das ein Problem sein könnte, wenn ich wieder auf dem Markt wäre. Aber ich bin jetzt seit 16 Jahren mit meinem Mann zusammen. Wir waren beide 19, als wir zusammengekommen sind. Wir haben so viel zusammen erlebt, dass wir dieses hohe Maß an Vertrauen und Komfort miteinander haben. Inzwischen gibt es nicht mehr viel, was ich vor ihm falsch machen könnte. Allerdings verzichte ich auf Oralsex, wenn mein Mundtremor gerade sehr schlimm ist. Das könnte zu ein paar unangenehmen Zahnabdrücken führen. 

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Ja, auf jeden Fall.
Er hat einen wirklich guten Sinn für Humor wegen meiner Tremores. Er kennt sie so gut, dass er es sich angewöhnt hat, kleine Dinge zu tun, die ich nicht machen kann – wie meinen Schmuck abzunehmen. Ich habe Probleme, die Spangen aufzumachen. Das ist mit der Zeit natürlich mehr geworden, weil meine Tremores über die Jahre schlimmer geworden sind. Dieses generelle Maß an Vertrauen, mit einer Person zusammen zu sein, die deinen Körper kennt und damit arbeitet, überträgt sich auch auf den Sex. Es nimmt dir viel von der Angst, etwas falsch zu machen. Ich will damit nicht sagen, dass eine Ehe oder tiefe Verbundenheit unbedingt nötig sind, um guten Sex zu haben. Aber wenn du jemanden findest, der dich versteht und vor dem du keine Angst hast, du selbst zu sein, dann bedeutet das viel.

Ich habe meinem Mann tatsächlich erst von meinem Zittern erzählt, nachdem wir zusammengezogen waren. Ich sagte einfach zu ihm: "Dir werden jetzt ein paar komische Sachen an mir auffallen, wo wir zusammenwohnen. Der Grund, warum ich kein Make-up trage, ist nicht etwa, weil ich ein Statement setzen will, sondern weil ich es nicht selbst anbringen kann."

Es hat ein bisschen gedauert, bis er wirklich verstanden hat, wie meine Tremores funktionieren. Er ist in einer Familie mit einer Cowboymentalität aufgewachsen, in der das oberste Gebot war, sich zusammenzureißen und nicht anzustellen. Also hat er mir am Anfang, wenn ich einen besonders schlechten Tag hatte, gesagt, dass ich einfach die Zähne zusammenbeißen soll. 

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So bringt man auf jeden Fall sein Zittern unter Kontrolle.
Genau. Aber mit der Zeit und einiger Kommunikation ist das besser geworden. Er ist jetzt produktiver. Er akzeptiert es, wenn ich einen schlechten Tag habe, aber er drängt mich dazu herauszufinden, was die Ursache sein könnte und wie ich das in Zukunft vermeiden könnte.

Habt ihr euch jemals zusammen hingesetzt und darüber gesprochen, wie sich deine Tremores auf euren Sex auswirken? Oder habt ihr das einfach immer in der Situation geklärt?
Immer in der Situation. Weil wir uns miteinander so wohl fühlen, kann ich immer sagen: "Das ist ein Problem. Lass uns etwas anderes ausprobieren." Wenn du nicht die Freiheit hast, mit deinem Partner über alle Aspekte eures Sexlebens zu sprechen, bist du nur dauernd nervös und das ist ein Problem.

Man lässt sich beim Sex auch einfach davon mitreißen, was sich in dem Augenblick gut anfühlt. Wenn irgendwas schiefgeht, kann man einfach darüber lachen. Wenn du in diesen Augenblicken nicht mit jemandem lachen kannst, solltest du vielleicht auch keinen Sex mit der Person haben, nicht wahr?

Wir beide wissen, dass das Zittern mit dem Alter schlimmer wird. Ich mache mir manchmal Sorgen, wie viel Kontrolle über meinen Körper ich verlieren werde und was das für meine Beziehungen und mein Sexleben bedeuten wird. Sprichst du mit deinem Mann jemals darüber, wie sich deine Tremores in Zukunft entwickeln werden und wie ihr damit umgeht?
Mein Mann und ich haben eine Menge Scheiße durchgemacht: den Verlust eines Kindes, die Adoption eines Kindes, eine Naturkatastrophe und jetzt eine Pandemie. Wir werden schon einen Weg finden, wie auch immer sich mein Zustand entwickelt – genauso wie wir auch die anderen Dinge bewältigt haben. Wir akzeptieren, dass unser Sexleben in der Zukunft vielleicht nicht dasselbe sein wird, aber wir werden schon etwas finden, was für uns beide funktioniert.

Ich weiß, dass er alles mit Humor angeht. Wenn ich mir meinen Beintremor gerade anschaue, werde ich eines Tages wahrscheinlich Probleme mit dem Gehen haben. Darüber haben wir auch schon gesprochen. Und immer, wenn wir das tun, sagt er nur so was wie: "Super, dann werden wir herausfinden, wie man die Bremsen an deinem Rollstuhl feststellt, und Sex darin haben."

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