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Nikotin vs. Covid-19: Warum werden Rauchende seltener ins Krankenhaus eingeliefert?

Zwei Forscherteams versuchen, dem Rätsel um eine verteufelte Substanz auf den Grund zu gehen.
Ein Mensch raucht eine Zigarette; die Wirkung von Nikotin auf den Krankheitsverlauf bei Covid 19, auch als Coronavirus bekannt, wird gerade wissenschaftlich untersucht
Symbolfoto: China Photos/Getty Images

316 Millionen Menschen. Das ist fast viermal so viel wie die Bevölkerung Deutschlands. So viele Leute rauchen in China. Über die Hälfte aller Männer haben dort regelmäßig eine Zigarette in der Hand. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass ein Drittel aller Glimmstängel der Welt in China angezündet werden. Anfang des Jahres fiel dem griechischen Kardiologen Konstantinos Farsalinos im Zuge der Corona-Pandemie etwas Ungewöhnliches auf: Nur wenige der Menschen, die in China wegen des Virus ins Krankenhaus mussten, schienen zu rauchen.

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Seitdem geht Farsalinos der Frage nach, ob Nikotin – die wohl bekannteste in Tabak enthaltene chemische Substanz – eine Verschlimmerung der COVID-19-Symptome bremst oder eine Erkrankung vielleicht sogar komplett verhindert.

Derzeit gibt es dafür noch keine Belege. Bisherige Studien sahen Raucher in überwältigender Mehrheit als Risikogruppe. Farsalinos hat dennoch die Hypothese aufgestellt, dass Nikotin bestimmte entzündungshemmende Eigenschaften besitzt. Die schwerwiegendsten COVID-19-Symptome scheinen durch eine Überreaktion des Immunsystems ausgelöst zu werden – auch "Zytokinsturm" genannt. Während dieses Sturms werden große Mengen an entzündungsauslösenden Botenstoffen ausgeschüttet, zum Beispiel in der Lunge. Das führt dann zu Atembeschwerden. Nikotin, so glaubt Faralinos, könne diesen ganzen Vorgang abschwächen.


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Auf den ersten Blick erscheint diese Theorie ziemlich unglaubwürdig. Rauchen ist immer noch die weltweit am häufigsten vorkommende vermeidbare Todesursache. Niemand würde dazu raten, mit einer so gesundheitsschädlichen Gewohnheit als eine Art Krankheitsprävention anzufangen. Deswegen sorgen Farsalinos' Beobachtungen, die nach der Prüfung durch Kollegen bald in der Fachzeitschrift Internal and Emergency Medicine veröffentlicht werden sollen, auch für so viel Aufsehen unter Forschenden, Politikern und Experten für die Tabakregulierung. Einige glauben, dass man den außergewöhnlichen Ansatz weiter verfolgen sollte: Zwar ist es noch zu früh, um zu irgendwelchen Schlüssen zu kommen, aber die Rolle und der Ruf von Nikotin müssen unter Umständen überdacht werden – gerade angesichts der unbekannten Umstände in der Corona-Krise.

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"Wir alle wissen, dass Rauchen schlecht für die Gesundheit ist", sagt Raymond Niaura, ein Experte für Tabaksucht und Behandlung im Epidemiologie-Zentrum der New York University. "Deshalb geht man schnell davon aus, dass Raucher bei einer Corona-Erkrankung viel schlimmer dran sind. Überraschenderweise ist das aber nicht zwangsläufig das, was wir beobachten."

Zusammen mit Farsalinos und der griechischen Gesundheitsexpertin Anastasia Barbouni hat Niaura den Artikel für Internal and Emergency Medicine geschrieben. Das Ganze wird nach ihrer Veröffentlichung die erste durch Fachleute geprüfte Arbeit zum Zusammenhang zwischen COVID-19 und Nikotin sein. Dabei ist die aufgestellte These gar nicht so weit hergeholt: Nikotin, das als Stimulanz in Tabak oder in winzigen Mengen auch in Tomaten vorkommt, wurde bereits auf seine neuro-schützenden Eigenschaften hin untersucht. Diese Eigenschaften sind vor allem für Forschende interessant, die sich mit Parkinson und Alzheimer befassen. Wie Niaura anmerkt, sind es erst die Chemikalien, die beim Verbrennen des Tabaks freigesetzt werden, die Herzversagen, Krebs und Lungenkrankheiten verursachen.

Mit Nikotinpflastern gegen das Coronavirus

Eine französische Forschungsgruppe vom angesehenen Pitié-Salpêtrière-Krankenhaus in Paris will die Theorie nun praktisch erproben und Nikotinpflaster bei Menschen im Gesundheitswesen und Patienten testen, die positiv auf das Coronavirus getestet wurden. Das Team hat bei einer kleinen französischen Gruppe Ähnliches beobachtet wie Farsalinos in China: Von 343 ins Krankenhaus eingelieferten Corona-Patienten wurden nur 4,4 Prozent als Raucher registriert, bei 139 ambulant versorgten Menschen waren es nur 5,3 Prozent. Hier muss man aber bedenken, dass die Datenbasis sehr klein ist und dass von der gesamten erwachsenen Bevölkerung Frankreichs mehr als ein Viertel raucht.

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Die Ankündigung der Studie hat in Frankreich für so viel Aufsehen gesorgt, dass die Regierung den Online-Verkauf von Nikotinpflastern und anderen Hilfsmitteln zur Raucherentwöhnung untersagte. Man befürchtete wohl, dass die Leute sich massenweise damit eindecken, um sich ohne wissenschaftliche Grundlage selbst zu behandeln.

"Sterben die Raucher vielleicht schon, bevor sie überhaupt ins Krankenhaus kommen?"

Im Gegensatz zu Farsalinos' Studie wurde die des französischen Forschungsteams noch nicht von Fachleuten gegengeprüft. Die Franzosen stellen auch eine andere Hypothese auf: Nikotin hindere das Coronavirus möglicherweise daran, über die Zellen in den Körper zu gelangen, und könne zudem den Zytokinstürmen entgegenwirken. Farsalinos konzentriert sich mit seiner Hypothese auf das sogenannte angiotensin-konvertierende Enzym 2. Man geht davon aus, dass sich das Coronavirus an diesen Rezeptor hängt, um in die menschlichen Zellen zu kommen. Die Forschenden aus Frankreich vermuten hingegen, dass sich das Virus über nikotinische Acetylcholinrezeptoren – also andere Rezeptoren in der Lunge oder den Atemwegen – Zugang zum Körper verschafft.

Vorläufige Daten aus New York scheinen zu zeigen, dass dort ebenfalls nur wenige Rauchende wegen COVID-19 ins Krankenhaus eingeliefert werden. Deswegen werden auch dort die Forderungen nach klinischen Studien wie der aus Frankreich immer lauter.

An der Nikotin-Theorie gibt es vor allen Dingen Zweifel

Dennoch betonen alle Wissenschaftler und Experten für die Tabakregulierung immer wieder, dass es sich bei all dem nur um Annahmen und Gedankenspiele handelt. Leider könne man auf die Schnelle auch keine wirklich aussagekräftigen Daten sammeln. Vielleicht gebe es auch eine ganz andere Erklärung dafür, warum nur so wenige rauchende Menschen mit dem Coronavirus ins Krankenhaus müssen. Möglicherweise hat das Ganze also gar nichts mit Nikotin zu tun.

"Gibt es womöglich ein Erfassungsproblem?", fragt Derek Yach, Analyst für internationale Gesundheitspolitik und Präsident der Stiftung "Foundation for a Smoke-Free World". "Sterben die Raucher vielleicht schon, bevor sie überhaupt ins Krankenhaus kommen? Wird der Raucherstatus nicht korrekt dokumentiert? Ich will hier so skeptisch wie nur möglich sein."

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Dazu hat Yach guten Grund. Die Gesundheitssysteme sind vielleicht so überlastet, dass die medizinische Vorgeschichte der Patienten wirklich falsch erfasst wird. Außerdem besteht die Möglichkeit, dass eine andere Substanz im Tabak den Schutzeffekt hervorruft. Und die angedachten französischen Tests mit den Pflastern könnten bereits von Beginn an mangelhaft sein sein, denn Nikotin aus einer Zigarette gelangt anders ins Blut als das Nikotin eines Nikotinpflasters.

Beim Rauchen kommt das Nikotin in Schüben in den Körper, während der Stoff bei einem Nikotinpflaster viel kontinuierlicher abgegeben wird. So erklärt es Jed Rose, ein Professor für psychische Verhaltenswissenschaft an der Duke University und der Miterfinder des Nikotinpflasters.

Was bedeutet das für den schlechten Ruf von Nikotin?

Experten weisen auch immer wieder darauf hin, dass man zwischen Nikotin und Tabak unterscheiden muss und man diese beiden Dinge nicht in einen Topf werfen darf. Viele Methoden zum Abgewöhnen des Rauchens sehen ja vor, dass man das Nikotin von einer sichereren Quelle als einer Zigarette bekommt. Auf diesem Prinzip basiert auch die Forschung zur Schadensminderung von Tabak.

Durch das Coronavirus hat man nun vielleicht ein neues Forschungsgebiet für Nikotin gefunden – mit einer Dringlichkeit, die die bis jetzt eher verteufelte Substanz zumindest kurzfristig in ein neues Licht rücken könnte.

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