Ein Mann um die 40 in Arbeitskleidung und mit kurzen Haaren reitet auf einer grünen Weide auf einer Kuh, Pierre Damonneville ist Landwirt und Schwul, als französischer Bauer begegnet er noch regelmäßig Homophobie.
Alle Fotos von Justine Briquet-Moreno
Menschen

Landwirt und schwul: Das einsame Leben in einer erzkonservativen Branche

"Ich habe einen Nachbarn, der mich seit Monaten ausspioniert. Als wolle er kontrollieren, ob auch ein Schwuler diese Arbeit machen kann."

"Na los, Jugeote, beweg dich. Du kannst hier nicht den ganzen Abend stehen!", ruft Pierre Damonneville seiner sturen Simmentaler-Kuh zu. Der 42-Jährige steht im sonnendurchfluteten Melkstand seines Hofs in Villepail, einem Dorf im Nordwesten Frankreichs. 

Nachdem alle Tiere gemolken sind, joggt der Bio-Milchbauer besorgt auf das angrenzende Feld. Eine seiner Kühe sieht so aus, als ob sie gleich kalben würde. "So ist das, wenn man mit lebenden Dingen arbeitet", sagt Pierre. "Ein Tier ist kein Computer, den du einfach abschalten kannst."

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Pierre ist stolzer Landwirt, aber er ist auch stolz darauf, schwul zu sein. Seine Branche hingegen ist bis heute extrem heteronormativ geprägt. Pierre wuchs auf einem Bauernhof auf und wollte immer selbst auf den Feldern arbeiten. Um nicht aufzufallen, verheimlichte er jahrelang seine Sexualität. Das änderte sich, als Pierre 2016 eine seiner Lieblingssendungen einschaltete: L'Amour Est Dans le Pré, die französische Version von Bauer sucht Frau. Zum ersten Mal nahm mit Guillaume Barbier ein schwuler Bauer an dem Reality-Kuppelformat teil.

So kitschig das auch klingt, aber durch den schwulen Kandidaten sei ihm klar geworden, dass er nicht alleine ist, sagt Pierre. 2017 erstellte er dann die Facebook-Seite "Agriculteur et gay et alors?", zu Deutsch "Bauer und schwul, ja und?", um anderen queeren Bauern aus der Isolation zu helfen. Seitdem haben dort Hunderte ihre persönlichen Geschichten geteilt. "Mir ist klar geworden, dass wir viel mehr sind, als ich dachte", sagt Pierre.

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Ein kurzhaariger Mann in Gummistiefeln und Arbeitskleidung am Melkstand vor lauter Kühen

Pierre Damonneville, 42, ist Bio-Milchbauer

In manchen Ländern haben sich queere Bauern und Bäuerinnen organisiert. In Deutschland gibt es die Vereinigung GayFarmer, in Kanada gibt es die Fierté Agricole und in den USA gleich rund 20 vergleichbare Gruppen. In Großbritannien gründete der ehemalige Kaplan Keith Ineson 2010 die Gay Farmer Helpline, nachdem er den extremen Druck mitbekommen hatte, dem queere Menschen in abgelegenen Gemeinden auf dem Land ausgesetzt sind. 2019 erschien mit Landline ein Kurzfilm, der auf einigen eingegangenen Anrufen des Seelsorgetelefons basiert.

In Frankreich allerdings gibt es bislang keine solche Organisation. Deswegen ist Pierres Facebook-Gruppe so wichtig für Menschen wie Jean-Jacques Biteau, einen 53 Jahre alten Winzer aus der Region Charente-Maritime bei Bordeaux. Biteau erkannte sich selbst in der Geschichte wieder, die Pierre von sich auf Social Media geteilt hatte. "Ich begann erst mit 30, frei zu leben", sagt er. Jahrelang zögerte er, seine Sexualität in seinem Umfeld öffentlich zu machen. Als er es dann tat, wurde er von seinem Vater verstoßen, einem angesehenen Mann der örtlichen Agrargemeinschaft.

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Ein Mann zieht einen großen Behälter Milch auf einem Wagen vor zwei großen Hallen, am Himmel ein Regenbogen

Pierres Hof

Auch Pierre erhält nicht nur positive Rückmeldungen. Vor einem Tag erst habe er einen anonymen, bösartigen Anruf erhalten: "Ich weiß, dass es jemand aus der Gegend hier ist. Ich bin das gewohnt", sagt er. "Ich habe einen Nachbarn, der mich seit Monaten ausspioniert. Als wolle er kontrollieren, ob auch ein Schwuler diese Arbeit machen kann." 

Da er seit seiner Kindheit mit der Landwirtschaft lebt – seine Eltern waren Getreidebauern, seine Großeltern Milchbauern – ist Pierre nur allzu vertraut mit der engstirnigen und konservativen Einstellung, die in vielen ländlichen Gemeinden weiterhin vorherrscht. Seine Mutter hatte 1995 seinen Vater verlassen, seines Zeichens eine wahrhaftige Verkörperung des traditionellen französischen Bauern. Seitdem hat Pierre seinen Vater nicht mehr gesehen. "Er sagte zu uns, dass eine Scheidung unter Landwirten eine absolute Schande sei und er von diesem Tag an keine Kinder mehr habe." 

Laut François Purseigle, einem Soziologen, der sich auf ländliche Gemeinden spezialisiert hat, ist der Landwirtschaftssektor in Frankreich immer noch stark christlich geprägt. "Der Beruf wurde von der Kirche durch seinen Modernisierungsprozess im 19. Jahrhundert hindurch unterstützt", sagt er. "Als Resultat ist dort bis heute ein sehr traditionelles Familienkonzept verbreitet."

Ein junger Mann in Arbeitskleidung melkt Kühe in einer Halle, im Hintergrund ein anderer Mann in Arbeitskleidung ebenfalls beim Melken

Maxime am Melkstand

Bei einer Umfrage von 2015 unter 2.609 Leserinnen und Lesern der französischen Landwirtschaftsseiten Terre-net und Web-agri sagten 61,3 Prozent, dass Homosexualität in ländlichen Gemeinden nicht akzeptiert sei. Neben der Unterstützung durch die Kirche sieht Pierre als Ursache für die Ablehnung, dass vielen Bauern ihre Nachfolge extrem wichtig ist. "Wenn es nach ihnen geht, musst du heiraten und Kinder kriegen, und der erste Sohn muss dann das Geschäft übernehmen", sagt er. 

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Maxime Duteil ist 18 und macht aktuell eine Ausbildung auf Pierres Hof. Er gibt zu, dass er die Sexualität seines Chefs nie vor seinen Mitschülern erwähnt hat – aus Angst vor den Reaktionen. "Manche würden sagen, dass sie dagegen sind", sagt Maxime. "In der Landwirtschaft sind die Leute stur wie Esel." Der anderweitig sehr zurückhaltende Maxime zeigt sich sehr beeindruckt von dem Mann, der ihm alles über das Handwerk eines Milchbauern beigebracht hat. "Es erfordert unfassbare Stärke, um in so einem engstirnigen Umfeld seine Homosexualität zu akzeptieren."

Eine braun-weiße Kuh auf einer grünen Weide

Eine von Pierres Simmentalern

Aber auch Pierre war nicht immer so selbstbewusst wie heute. Mit 21 entdeckte er seine Homosexualität auf eine, wie er sagt, geradezu idyllische Art: Er verliebte sich in einen Freund. Nach drei Jahren trauten sie sich und wurden ein Paar. "Damals steckte ich noch in dieser Landwirtsmentalität", sagt er. "Mein Plan war, meinen eigenen Hof zu haben, was niemals möglich gewesen wäre, wenn ich offen mit meiner Homosexualität umgegangen wäre."

Aus Angst, seine berufliche Karriere zu sabotieren, trennte er sich von seinem Freund und stürzte sich in die Arbeit. Acht Jahre und mehrere Jobs später wurde ihm klar, dass er zwar finanziell auf sicheren Füßen stand, aber in ihm eine emotionale Leere herrschte. Am Ende drängte ihn die Einsamkeit zu einem Outing, und er meldete sich bei Dating-Apps an. So lernte er seinen nächsten Freund kennen.

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"Wie es das Glück wollte, lernte ich ihn kennen, als ich gerade dabei war, den Hof in Villepail zu kaufen – weit weg von dort, wo ich aufgewachsen bin", sagt Pierre. Nach sechs Jahren trennte sich das Paar wieder, aber Pierre ist davon überzeugt, dass der Richtige für ihn noch da draußen ist. "Für mich ist eine Beziehung mit der Arbeit eines Landwirts vereinbar", sagt er. "Selbst bei einem 15-Stunden-Tag schaffe ich es, mir Zeit am Wochenende frei zu machen und sogar einen Urlaub zu organisieren."

Der Wegzug aus der Heimat war gut für Pierre. "Ich wollte zeigen, dass man als Bauernsohn auch fernab des Familiennetzwerks Erfolg haben und sein Lebenswerk vollbringen kann, auch wenn man offen schwul ist ", sagt er.

Und es hat sich ausgezahlt. Pierre plant, diesen Sommer seinen vierten Hof zu eröffnen, neue Leute einzustellen und eine Scheune zu bauen, um Heu zu trocknen und zu lagern. Außerdem möchte der Milchbauer anfangen, seinen eigenen Joghurt, Käse und andere Produkte herzustellen. Um das Problem der Nachfolge zu regeln, überlegt er, seinem engsten Angestellten Anteile seines Geschäfts zu geben. Zeit für eine neue Liebe hätte er trotz allem auch noch.

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