Menschen

Interview: Warum Sophie Scholl keine Feministin war

Die Historikerin Maren Gottschalk über Sophie Scholl als Mensch, deren Schwächen und warum man Scholl nicht "links" nennen sollte.
Sophie Scholl, illustriert nach einem Originalfoto. Im Interview erklärt die Historikerin Maren Gottschalk, dass Sophie Scholl nicht feministisch genannt werden sollte.
Sophie Scholl, illustriert nach einem Originalfoto  Illustration: Édith Carron 

Wenn Neonazis in deutschen Parlamenten sitzen, wird es auch Zeit, wieder ihrer historischen Gegner zu gedenken. Sophie Scholl war eine Gegnerin des NS-Regimes und wurde dafür ermordet. Sie ist das Postergirl des Widerstands. Straßen, Plätze und Schulen sind nach ihr benannt, und Schülerinnen und Schüler in ganz Deutschland kennen ihre Geschichte. Aber wer war die junge Frau wirklich?

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Maren Gottschalk ist Historikerin, Autorin und Journalistin. 2020 hat sie Wie schwer ein Menschenleben wiegt. Sophie Scholl. Eine Biografie. veröffentlicht und das Instagram-Projekt "Ich bin Sophie Scholl" als Fakten-Checkerin begleitet, das SWR und BR in Kooperation mit VICE produziert haben. Wir haben mit ihr über die Weiße Rose gesprochen, diese geheime Vereinigung um die Geschwister Hans und Sophie Scholl, Alexander Schmorell, Christoph Probst, Kurt Huber und Willi Graf.

Was waren Scholls Hobbys, was würde sie zu den Neonazis heute sagen und was hätte aus ihr werden können, wenn ihr Engagement für Demokratie und Menschenwürde nicht zu ihrer Ermordung geführt hätte?


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VICE: Frau Gottschalk, Sie haben letztes Jahr eine Biografie von Sophie Scholl veröffentlicht. Was fasziniert Sie so an dieser Person?
Maren Gottschalk:
Mich beeindruckt die Spannung zwischen den beiden Zügen ihres Charakters. Einerseits dieses Lebensbejahende, Fröhliche. Sie war ja ein sehr lebenshungriger Mensch. Andererseits stand ihr Gewissen über allem. Das private Glück, ihre Sicherheit, am Ende sogar ihr Leben ordnete sie dem unter. Sie wusste: Wenn andere nur zuschauen, dann muss sie handeln.

Warum richtete sich die Weiße Rose bei ihren Aktionen gerade an die Studierenden?
Das war nur beim sechsten Flugblatt so. Die ersten Flugblätter gingen an Ärzte, Lehrer, Wirtsleute, Multiplikatoren. Kurz zuvor war der 470. Geburtstag der Uni gefeiert worden. Der Münchner Gauleiter Giesler hatte dabei Studentinnen beleidigt. Er hatte gesagt, sie sollten lieber dem Führer ein Kind schenken, statt zu studieren. Und wenn ihnen dafür die Männer fehlten, dann hätte er ein paar Adjutanten, die aushelfen könnten. Das gab einen riesigen Aufruhr, weshalb die Gruppe überlegte, dass nun der Zeitpunkt günstig sei, um die Kommilitonen zu erreichen. Deswegen legten Sophie und Hans einen Teil der Flugblätter in der Uni aus.

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Was war denn die Idee hinter der Weißen Rose?
Sie wollten die Deutschen aufrütteln. Sie wollten sie damit konfrontieren, dass hier ein schrecklicher, verbrecherischer Krieg geführt wird, dass das ganze Land geknechtet wird, dass die Freiheit niedergedrückt wird.

Waren die Studierenden dafür empfänglich?
Überhaupt nicht. Kurz nach der Hinrichtung der ersten drei Mitglieder der Weißen Rose gab es eine Versammlung in der Uni mit Bekundungen, wie toll es ist, dass sie die Verräter jetzt erwischt hätten. Ein großer Teil der Studierenden war bei der Veranstaltung, und es gab überhaupt keinen Protest. Da hatten sie sich verschätzt.

Lebten sie einfach in ihrer eigenen Bubble? Oder wie kommt es, dass sie sich so verschätzt haben?
Wie auch sonst, es gab ja keine öffentliche Diskussion über die Nazis oder den Krieg. Man konnte nur im geheimen, vertrauten Kreis über solche Dinge sprechen. Insofern befanden sie sich in ihrer Bubble. Aber sie glaubten, dass es andere Leute gibt, die sie nur wachrütteln müssten, denen sie zeigen müssten, dass sie nicht alleine sind. Und sie suchten ja auch Kontakt zum militärischen Widerstand in Berlin.

In ihrer Kindheit und Jugend galt Sophie Scholl als überzeugte Anhängerin des Regimes, wie kam es dazu?
Das fanden die Eltern furchtbar, die waren gebildet, stellten Moral über alles und waren absolut pazifistisch. Sie waren auch total dagegen, dass die Kinder in die Hitlerjugend eintraten. Aber die sind genau in die Falle getappt, die die Nazis Bürgerkindern aufgestellt hatten, sie also da zu packen, Verantwortung zu übernehmen, für andere Vorbild zu sein, sich um andere zu kümmern. Sophie war ein sehr überzeugtes HJ-Mädchen und hat sogar eine Gruppe geführt. Sie war fanatisch und zackig, hatte aber auch ihren eigenen Stil. 

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Was heißt das?
Sie bemühte sich um Gerechtigkeit. Jeder musste sein Proviant bei ihr abgeben, der dann auf ein Tuch gelegt wurde. Dann bekam man die Augen verbunden und sollte sich blind etwas herausgreifen, damit das gerecht verteilt wird. Die eine hatte dann das dicke Wurstbrot, die andere nur einen Apfel. Die Eltern der Mädchen fanden das natürlich blöd. 

War sie denn auch von Inhalten überzeugt? 
Sie hat dazu eigentlich nichts geschrieben, vielleicht auch aus Scham. Sie ist brav hingegangen und auch aufgestiegen, also muss sie sich zumindest teilweise mit dem Inhalt identifiziert haben. Als Anführerin musste man auch den Inhalt transportieren. Allerdings glaube ich nicht, dass sie den Rassenwahn der Nazis damals begriffen hat. Aber die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend war auch mehr für sie, gerade als Mädchen. 

Was meinen Sie?
Unter den Nazis wurden Mädchen erstmals sichtbar. Sie durften Raum einnehmen. Sie sind durch die Stadt marschiert, Leute standen an der Seite und schauten zu. Sie durften auch Dinge sagen und laut sein. Für das Selbstbewusstsein der Mädchen, die vorher nur brav im Hintergrund bleiben sollten, war das schon etwas Besonderes, gerade für Sophie. Es hat dann gedauert, bis sie begriffen hat, dass sie da auf dem völlig falschen Dampfer ist. Dass das gar nicht zu dem Wertekonzept passt, das sie von zu Hause kannte.

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Ab wann war sie denn Gegnerin des Regimes?
Genau weiß man das nicht. Aber man kann sagen, dass sie 1939 mit Kriegsbeginn schon Gegnerin war. Obwohl sie da immer noch im Bund Deutscher Mädel war, weil sie wahrscheinlich ihr Abitur nicht gefährden wollte. 

Sie sagen, dass Sophie auch als Frau Raum einnehmen wollte. Kann man sagen, dass sie Feministin war?
Ich wüsste nicht, dass sie sich explizit für die Rechte von Frauen eingesetzt hat. Aber sie ist selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie diese Rechte hat. Sie hat sich diese Rechte rausgenommen. Außerdem wollte sie als denkender Mensch wahrgenommen werden. Aber feministisch würde ich das nicht nennen. Eher emanzipiert.

Hatte sie innerhalb der Weißen Rose auch Probleme, dass sie als Frau weniger ernst genommen wurde?
Sie war nun die einzige Frau dabei. Als Hans, Willy und Alexander eines Nachts Parolen an Hauswände schreiben gingen, durfte sie nicht mitgehen. Hans fand das zu gefährlich. Also zog sie am nächsten Tag alleine los und legte Flugblätter in Telefonbücher oder klemmte sie an parkende Autos. Das war ihre Reaktion: Wenn ihr mich nicht mitnehmt, habe ich eigene Ideen. Da hat sie sich von dem Geschlechterklischee gelöst. Auch im Verhör nach ihrer Festnahme bestand sie darauf, die gleiche Strafe und Behandlung zu kriegen wie ihr Bruder. 

Was heißt es, dass sie als denkender Mensch wahrgenommen werden wollte?
Es gibt da eine interessante Stelle im Briefwechsel mit Fritz, ihrem Freund, der im Krieg war. Sie diskutieren über irgendwas, und zwei Briefe von Sophie kommen verzögert an. Fritz schreibt ihr dann, sie hätte als Mädchen instinktiv sehr schön reagiert, indem sie einfach geschwiegen hätte. Man kann gut erkennen, wie ihr daraufhin regelrecht der Kragen platzt. Er gehe doch wohl nicht davon aus, dass sie ihr Hirn nicht zum Denken nutze. Als instinkthaftes Mädchen wollte sie sich schon überhaupt nicht beschreiben lassen. Instinkt verbinde man mit Tieren. Da kann man schon sagen, dass ihr das Thema Gleichberechtigung wichtig war.

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War sie bis zu ihrem Tod mit ihrem Freund Fritz zusammen?
Ja, auch wenn sie sich zuletzt im Mai 1942 gesehen haben. Aber sie haben sich geschrieben. Es war aber eine krisenhafte Beziehung. Sie war innig, die beiden waren sich sehr nah und sehr wichtig, aber sie hatten auch viele Krisen. Und man merkt immer wieder, wie Sophie Distanz zu Fritz sucht. 

Warum?
Das hat mehrere Gründe. Der Soldatenberuf war ein Grundproblem für die beiden, darüber diskutieren sie in ihren Briefen auch viel. Er wurde dann sogar zum Kriegsgegner.

Sie hat ihn überzeugt?
Nicht allein, auch seine Erfahrungen im Krieg. Die Erschießung von Kriegsgefangenen. Wie seine Vorgesetzten über die Ermordung von Menschen sprechen. Aber er konnte da nicht raus. Er konnte nicht nach Hause gehen. Wer desertierte, wurde erschossen. 

Was war das andere Problem der Beziehung?
Ich glaube, dass das alles zu früh war, zu ernsthaft. Dass Sophie gerne noch etwas anderes erlebt hätte, oder dass es sie einfach überfordert hat, diese Ernsthaftigkeit.

War sie denn treu?
Sie schreibt in ihrem Tagebuch, dass sie sich ein bisschen in Alexander Schmorell verknallt habe. Aber der war in eine ganz andere Frau verliebt, deshalb wurde da nichts draus. Ich denke, das war eher eine Schwärmerei, aber sonst hatte sie neben Fritz keinen anderen. 

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Was wissen Sie sonst über ihr Privatleben, was hat Sophie Scholl begeistert?
Sie konnte sehr gut zeichnen, war begabt und hat sogar mal überlegt, Kunst zu studieren. Sie machte Musik, spielte Klavier und ging gern auf Konzerte. Außerdem tanzte sie gern. Vor allem Foxtrott, der war damals noch kein braver Tanzstunden-Schleicher, sondern richtig wild. Sophie tobte sich gern aus. 

Haben Sie eine Idee, was Sophie gemacht hätte, wenn die Nazis sie nicht ermordet hätten?
Ich stelle mir gern vor, dass sie mit zu den Müttern des Grundgesetzes hätte werden können. Sie hätte vielleicht mit Essays und Artikeln auf sich aufmerksam gemacht, sie war ja sehr klug und aufmerksam. Vielleicht hätte sie auch noch mal ihre Studienfächer – Bio und Philosophie – hin zu Jura geändert und wäre dann eine beratende Stimme gewesen. 

War Sophie links?
Sie war nicht rechts im Sinne von national-völkisch denkend. Aber kommunistisch war die die Weiße Rose auch nicht. Deswegen konnte man sie in der frühen BRD auch so gut als Projektionsfläche feiern. Ich weiß nicht, ob Sophie ein klares Bild davon hatte, was für einen Staat sie hätte haben wollen. Es ging ihr einfach um Freiheit und Menschenwürde. Und darum, dass ein Staat Regeln haben und sich dem Menschen gegenüber wertschätzend verhalten muss.

Wie stand sie zum Volk?
Sie hat gesagt, dass es darum gehe, welche Seite die gerechte ist, nicht darum, ob es die eigene ist. Das ist schon sehr modern gedacht. Um Nation geht es ihr gar nicht. Man wirft der Weißen Rose auch vor, dass sie sich keine Gedanken über die Zeit nach den Nazis gemacht haben. Sie hatten aber die Idee, dass Deutschland sich europäisch vernetzen und nur im Verbund mit Europa existieren sollte. 

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War sie Europäerin?
Ins Ausland reisen konnte sie ja nicht. Aber sie sprach gut Englisch und Französisch und las die Literatur auch im Original. Ich denke schon, dass sie Europa als Kulturraum begriffen und keine Feindschaften gehegt hat. 

Wie stand sie zu Homosexualität, ihr Bruder stand ja deswegen vor Gericht?
Ich denke, davon wusste sie höchstwahrscheinlich, und ich denke, dass sie es akzeptiert hat, auch wenn vor allem ihre Mutter das als "unrein" bezeichnete. Aber Sophie war empathisch und tolerant. 

Was heißt das?
Wenn jemand sagte, dass er etwas fühle, dann sprach sie ihm das nicht ab. Einmal war sie empört darüber, dass zwei jüdische Mitschülerinnen nicht in die Hitlerjugend durften. Den ganzen rassistischen Unterbau verstand sie da noch nicht. Also schlug sie vor, einen eigenen Club zu gründen, nur zu dritt. Sie häkelten sich bunte Mützen und wollten damit in die Schule gehen. Die verbot das, aber das ist für mich Sophie Scholl. So spontan und mitfühlend.

Und wie hätte Sophie Scholl auf die Situation heute reagiert? 
Ich finde die Frage nicht so wichtig wie die, wie wir selbst damit umgehen, wenn wir ihre Werte wichtig finden. Sie war nüchtern, auch in dem Sinne, dass sie keine Probleme hatte, das auszusprechen, was sie sieht. Sie war keine, die etwas beschönigt hat. Sie hat den Finger auf die Wunde gelegt. Wir leben heute in einer Demokratie, in der jeder sagen kann, was er denkt. Das konnte Sophie nicht. Aus der Beschäftigung mit der Weißen Rose folgt für mich, dass wir die Demokratie bewahren müssen. Dass wir ihre Feinde daran hindern müssen, sie zu zerstören. Und die Feinde sitzen jetzt schon im Parlament.

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