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Landgericht Berlin

Erster Prozesstag gegen U-Bahn-Treter: Der Angeklagte weint

Und seine Verteidiger unterstellen einer Schöffin Rassismus.

Was die Tat so unfassbar macht, ist ihre Sinnlosigkeit. Am 27. Oktober 2016 steigt eine Frau die Treppe zum Bahnsteig der U8 im Berliner Bahnhof Hermannstraße hinunter, hinter ihr geht eine Gruppe Männer. Plötzlich löst sich einer der Männer aus der Gruppe, geht der Frau hinterher und tritt ihr mit voller Wucht in den Rücken. Der Tritt schleudert die Frau die Treppe hinunter, sie landet hart auf dem Bahnsteig, bricht sich einen Arm und verletzt sich am Kopf. Der Mann zieht an seiner Zigarette und geht weiter, als sei nichts gewesen.

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Die Szene kennt mittlerweile fast jeder. Eine Überwachungskamera der BVG hat sie aufgenommen, sechs Wochen später veröffentlicht die Polizei das Video, weil sie mit der Fahndung nicht weiterkommt. Der Schock und die öffentliche Empörung sind groß, der Inhaber einer privaten Sicherheitsfirma setzt ein Kopfgeld von 2.000 Euro auf den Täter aus.

Wenig später wird ein 27-jähriger Bulgare an einem Berliner Busbahnhof festgenommen. Swetoslaw S. wird vorgeworfen, der Mann aus dem Video zu sein. Er wird wegen gefährlicher Körperverletzung angeklagt, außerdem soll er sich in den Wochen vorher vor insgesamt drei Frauen entblößt und selbst befriedigt haben.

Seit dem heutigen Donnerstag wird der Fall vor dem Berliner Landgericht verhandelt. Aber noch bevor überhaupt die Anklage verlesen werden kann, stellen Swetoslaws Verteidiger einen Befangenheitsantrag gegen eine der Schöffinnen. Die Frau aus Mariendorf hat in der Vergangenheit offenbar mehrere wütende Leserbriefe an den Tagesspiegel geschrieben, in denen sie sich beschwert hatte, dass "kriminelle Jugendliche mit Migrationshintergrund" nicht hart genug bestraft würden. "Diese Äußerungen lassen befürchten, dass die Schöffin den Angeklagten härter bestrafen will, als es der Tat gerecht wird", sagt die Verteidigerin.


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Danach liest sie einen kompletten Artikel aus dem Tagesspiegel vor, in dem es um eine Auseinandersetzung des Berliner Grünen-Politikers Özcan Mutlu mit zwei türkischen Currywurst-Verkäufern geht. Die Schöffin habe darunter kommentiert, Mutlus Problem sei "ein gelebter Türkenwitz". Offenbar will die Verteidigung darauf hinaus, dass die Schöffin generell ein Problem mit Migranten hat, sie sei möglicherweise "nicht unvoreingenommen".

Während die Anwältin die Geschichte über Mutlu vorliest, hört Swetoslaw reglos seiner Dolmetscherin zu, die ihm jedes Wort ins Türkische übersetzt – der Angeklagte gehört zu einer türkischsprachigen Minderheit aus Bulgarien. Als die Verteidigerin fragt, "soll ich noch den zweiten Artikel vorlesen?", rufen ein paar Journalisten laut "Nein, danke!".

Kurz darauf beendet die Richterin den ersten Prozesstag nach nur 45 Minuten, um eine Stellungnahme der Schöffin einzuholen. Während die zahlreichen Journalisten und Zuschauer genervt wieder aus dem Saal schlurfen, winkt Swetoslaws Familie dem Angeklagten in seinem Glaskasten zu. Der Angeklagte steht auf, und plötzlich sieht man, dass ihm Tränen über das Gesicht laufen. Er weint noch, als seine Verteidiger sich von ihm verabschieden und die Justizbeamten die letzten Journalisten aus dem Saal scheuchen.

Der Prozess wird am kommenden Dienstag fortgesetzt.

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