Ich traue niemandem, der sagt, dass er nichts bereut. Ständig lese ich in Interviews in irgendwelchen Magazinen die Frage „Was bereust du?“, die man gerne berühmten Personen stellt. „Ich bereue nichts“, sagen sie dann, wenn sie Karl Lagerfeld sind. „Alles, was ich bisher getan habe, hat mich hierher gebracht“, fügen sie oft hinzu und meinen damit, dass alles aus einem Grund passiert ist und es deswegen auch nichts zu bereuen gibt. Ja, alles, was du bisher getan hast, hat dich hierhin gebracht. Aber wo bist du? In einer Villa, gebaut aus deinen eigenen Tränen? Alles, was Charles Manson getan hat, hat ihm einen langen Aufenthalt in einem Hochsicherheitsgefängnis eingebracht. Ich sag ja nur.
Bedauern ist das, was uns von den Berühmtheiten trennt. Genau darum ist es wichtig, sich seiner Fehltritte bewusst zu sein und auch sieben Jahre später noch schweißgebadet aufzuwachen, wegen dem, was man irgendwann einmal vor sieben Jahren zu einem ganzen Raum voller Menschen gesagt hat. Ein Raum voller Menschen, die cool genug waren, damals nichts zu sagen. Angenehm cool. Und dann warst da noch du. Behalt dir diese Angst im Hinterkopf. Diesen Schrecken wegen all der düsteren Dinge, die du jemals getan hast, wegen allen Möglichkeiten, die du vertan hast, und wegen all der Liebschaften, die du nicht eingegangen bist. Und natürlich wegen all der Kinder, die du in der Schule gemobbt hast und die jetzt wahrscheinlich in Therapie sind. Obwohl man das natürlich nicht genau sagen kann, weil einige nie wieder in der Schule aufgetaucht sind. Wegen all dem solltest du dich richtig schlecht fühlen.
Mein Bedauern liegt neben mir wie ein Messer. Ich bereue Sachen in meinen schwächsten Momenten und das macht meine Schwachpunkte noch schwächer. Ich werde euch jetzt von der Sache erzählen, die ich bisher am meisten bedaure. Es wurde niemand getötet oder vergewaltigt, was definitiv schlimmer wäre. So etwas habe ich nicht gemacht. Es geht auch nicht darum, dass ich das Vertrauen irgendwelcher Leute missbraucht habe, obwohl das wahrscheinlich mal vorgekommen ist (sehr wahrscheinlich sogar). Ich bereue auch nicht, grausam zu Leuten gewesen zu sein, die mich geliebt haben, oder die Tatsache, dass ich nicht nur ein, sondern gleich zwei mal von der Uni geflogen bin.
(Die selbe Abteilung in der selben Uni—OK, ich entschuldige mich einfach mal bei der Portugiesischen Fakultät. Es war super von euch, dass ich meinen Bachelor bei euch machen durfte, obwohl ich kein Wort Portugiesisch verstanden habe. Noch netter war es, dass ich meinen Master machen durfte, obwohl ich noch nicht mal meinen Bachelorabschluss in der Tasche hatte und einfach für ein Jahr nach Hong Kong gezogen bin, um dort als Statist in wirklich schlechten Serien mitzuspielen. Danke auch dafür: Obwohl ich zurück nach London kam und jahrelang ein komplett anderes Studium an einer Abendschule absolvierte, habe ich nebenbei versucht, in der Werbebranche zu arbeiten, und mich dann für ein Masterstudium der portugiesisch-afrikanischen Studie entschieden. Nur um nach acht Wochen zu merken, dass es keinen Sinn macht, wenn man noch nie in Afrika war, nebenbei noch arbeiten muss und unendlich viele Bücher liest, von denen man die Hälfte nicht mal ansatzweise versteht. Auch konnte ich nie so wirklich die Studiengebühren zahlen, weswegen ich letzten Endes doch wieder abgebrochen habe, bevor jemand merkte, dass ich das schon mal getan hatte. Ach übrigens, und damit nicht zusammenhängend haben mich meine Eltern „Sophie“ genannt, weil es Weisheit auf Griechisch bedeuted.
Wie gesagt bereue ich davon nichts. Am meisten bereue ich—und während ich das tippe, wird mir wirklich ein bisschen übel, weil meine Eltern gerade bei mir übernachten und ich morgen Geburtstag habe, mich also jeder nett behandeln muss, als ob ich 12 wäre und sie das trotzdem lesen und mich hassen werden; OH GOTT.
Scheiß drauf. In meinen späten Teenager-Jahren verbrachten ich und ein Typ, der ein paar Jahre älter war als ich, eine Nacht in einer kleinen Stadt an der Küste. Er war großartig. Wir übernachteten in einem sehr süßen kleinen Bed-and-Breakfast, welches von einer Familie geführt wurde. Sie rieten uns, für ein paar Drinks in einen Pub zu gehen. Das taten wir und kamen ziemlich betrunken zurück zum Haus. Dort fanden wir ein Gästebuch, in dem sich all die entzückend freundlichen Gäste mit entzückenden Danksagungen und Grüßen an die entzückende Familie und das entzückende kleine Gästehaus am Meer verewigt hatten. Es war voller Bemerkungen aus den letzten Jahren, wie freundlich die Gastgeber, wie gemütlich die Bettdecken und wie warm der Toast war.
Ein Pärchen ging noch einen Schritt weiter. Sie hatten ein Bild von sich gemalt, wie sie gerade eine wundervolle Zeit im B&B verbringen. Ganz offensichtlich hatte diese Zeichnung Jahre gedauert, wenn man sich die niedlichen Details der Wanderausrüstung ansah. So unglaublich entzückend gezeichnet und so frisch, da die Seite danach noch leer war, aber gleichzeitig auch so erhaben, dass man sich noch für Jahre daran erinnern würde.
Genau darum weiß ich bis heute nicht, warum ich Folgendes in riesigen Buchstaben auf die Rückseite geschrieben habe: „SOPHIE UND *** WAREN HIER UND VERDAMMTE SCHEISSE SIND WIR BESOFFEN SCHEISSE FOTZE FUCK FUCK FUCK“. Ich bin nicht genau sicher, was ich noch geschrieben habe, aber alleine der Satz nahm fast die gesamte Seite ein—die Rückseite der wunderbaren Zeichnung.
Ihr seht, darum muss man Sachen bereuen. Wenn ich so etwas nämlich nicht bereuen würde, wäre ich vielleicht eine gemütliche Person geworden, die abends gerne Fernsehen schaut und zufrieden mit dem momentanen Zustand ist. Zur Zeit ist es aber so, dass ich mindestens ein Mal am Tag voller Scham und Selbsthass daran zurückdenke. Und das bringt mich dazu, noch härter an mir zu arbeiten und meine Schuld irgendwie wieder gut zu machen.
Zumindest dachte ich mir das so, als ich angefangen habe, diese Kolumne zu schreiben. Mittlerweile bereu ich das allerdings. Die ganz einfache Tatsache ist, dass ich keine Ahnung habe, warum ich das Gästebuch ruiniert habe und nie mit dieser Schuld leben konnte. Dieser Text hat keine Pointe. Auf Wiedersehen.