Auf halbem Weg zwischen Norwegen und dem Nordpol befindet sich die Inselgruppe Spitzbergen. Auf dem Archipel leben mehr Eisbären (rund 3.000) als Menschen (rund 2.500). Es gibt auf der ganzen Erde keine dauerhaft bewohnte Siedlung, die nördlicher liegt.
Das Leben auf Spitzbergen, das zu Norwegen gehört und von den Einheimischen Svalbard genannt wird, ist nicht gerade angenehm. Dort oben ist es nicht nur eisig kalt – bei unserem Trip Ende Oktober lag die Durchschnittstemperatur bei minus elf Grad Celsius –, sondern auch dunkel. Zwischen November und Februar schafft es die Sonne nicht über den Horizont.
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Spitzbergen ist aber auch bekannt, weil sich dort seit 2008 eine wichtige Pflanzensamenbank mit inzwischen über einer Million Pflanzenproben befindet. Man kann sich das Ganze wie eine Art landwirtschaftliche Absicherung vorstellen: Die Proben werden uns helfen, falls es in Zukunft zu einer globalen Pflanzensamenknappheit kommen sollte.
Mein Bruder, der mich für die Fotos begleitet, und ich sind jedoch nicht nach Spitzbergen gereist, um die Pflanzensamenbank zu besichtigen. Nein, wir wollen etwas über die Food-Szene in der nördlichsten Siedlung der Welt lernen. Wir übernachten in Longyearbyen, mit gut 2.000 Einwohnern der größte Ort der Inselgruppe. Kaum überraschend versuchen die Menschen dort, das Meiste aus den besonderen geografischen Umständen zu machen: So ziemlich jedes Geschäft und Unternehmen in Longyearbyen bezeichnet sich als das nördlichste Irgendwas der Welt. Entlang der Hauptstraße passiert man zum Beispiel den nördlichsten Supermarkt der Welt, den nördlichsten Friseur der Welt, das nördlichste Museum der Welt und den nördlichsten Foodtruck der Welt.
Um herauszufinden, was die authentisch arktische Küche ausmacht, nehmen wir drei nördlichste Etablissements der Welt ins Visier: den Supermarkt, ein traditionelles Wirtshaus und ein Luxusrestaurant.
Als erstes gehen wir in den Supermarkt und sind verblüfft, wie groß die Auswahl in diesen extremen Gefilden ist. Wer hätte gedacht, dass man auch am Nordpol ganz einfach an ordentliches Obst und Gemüse kommt? Dann bemerken wir zwei regionale Delikatessen: Rentier-Jerky und geräucherten Wal.
Die luftdicht verpackten Rentierstangen sind mit Salz, Pfeffer und Speck gewürzt und schmecken nicht schlecht, solange man keine aromatische Explosion erwartet. Bei einer blinden Verkostung würde man das Rentier-Jerky wahrscheinlich kaum von normalem Trockenfleisch unterscheiden können. Aber ich muss zugeben, dass ich es schon ziemlich aufregend finde, in der Heimat des Weihnachtsmanns in ein Stück Rudolph zu beißen.
Beim Wal sieht es jedoch anders aus. Das Stück Fleisch schmeckt komisch – wie extrem salziger Fisch mit einem Nachgeschmack von Steak. Genauso verwirrend ist die gleichzeitig zarte und zähe Konsistenz. Und trotzdem: Zusammen mit einem Stück norwegischem Käse – die Kombination wurde uns vom Metzger des Supermarkts empfohlen – entsteht ein seltsamerweise sehr zufriedenstellender Snack.
Nach unserer Tour durch den außergewöhnlichen Supermarkt ist es an der Zeit, wie die Einwohnerinnen und Einwohner von Longyearbyen essen zu gehen. Das Problem ist bloß, dass viele Lokale dort die Art von Pizza und Burger servieren, die man auch sonst überall auf der Welt findet. Wir suchen jedoch nach einer authentisch spitzbergischen Restauranterfahrung.
Man empfiehlt uns das familiengeführte Restaurant Mary Anne’s Polarigg. An dieser Stelle muss ich anmerken, dass es auf Spitzbergen kaum Vegetation gibt – abgesehen von ein paar kleinen Pflanzen und Pilzen, die jedes Jahr im August und September aus dem Boden sprießen. Vegetarier und Veganer haben es auf diesem Archipel nicht leicht.
Deshalb stehen auf den Speisekarten der authentisch regionalen Restaurants vor allem Rentier, Robben, Wal und Schneehühner – die einzigen Vögel, die das ganze Jahr über auf der Inselgruppe leben. Die Besitzerin von Mary Anne’s Polarigg versichert uns, dass alle Zutaten aus der Umgebung stammten und es hier “nichts Natürlicheres” gebe, als diese Tiere zu essen.
Die Jagd ist auf Spitzbergen tatsächlich sehr wichtig und streng reguliert. Alle Ortsansässigen dürfen pro Jahr ein Rentier für den privaten Verzehr erlegen, für einige richtige Jäger liegt die Obergrenze bei 25. Im Grunde gilt: Alles, was auf Spitzbergen gejagt wird, wird auch auf Spitzbergen gegessen.
Das Rentier wird uns mit gekochtem Gemüse serviert und schmeckt besser als die Stangen aus dem Supermarkt. Die Spezialität des Hauses ist allerdings Robbe, und die Angestellten betonen eifrig, dass das Tier nirgendwo anders auf der Welt so schmecke wie hier. Das liege daran, dass die Robben rund um Spitzbergen Schalentiere essen und nicht – wie die Robben rund um Grönland und Norwegen – normale Fische. Deshalb schmecken die spitzbergischen Robben ähnlich wie Wal, nur ein wenig intensiver und bitterer. So intensiv, dass der Chefkoch von Mary Anne’s Polarigg, als er in Longyearbyen ankam und zum ersten Mal Robbe probierte, nicht ganz sicher war, ob er da nicht doch Rindfleisch im Mund hatte.
Zum Abschluss unserer Food-Tour steht ein Besuch im Huset Svalbard an, dem einzigen Restaurant in Longyearbyen mit Instagram-Account. Frederik, der Chefkoch dort, ändert alle drei Monate die Speisekarte, damit es nicht langweilig wird. Rentier findet man darin trotzdem oft, bei unserem Besuch in Form von geräucherter Rentierherz-Pastete, serviert auf Pilzmousse. Der Koch hat die Pilze dafür selbst gepflückt. Gemüse muss vom Festland aus geliefert werden, was bis zu einem Monat dauern kann.
Frederik findet nicht, dass es so etwas wie eine arktische Küche gibt. Was er kocht, sei einfach das, was auf Spitzbergen eben gegessen werde. Die Auswahl ist vielleicht beschränkt, aber das gibt den Köchinnen und Köchen immerhin die Möglichkeit, in der Küche kreativ zu werden. Die traditionellen Gerichte von Spitzbergen lassen sich nur auf der Inselgruppe finden, für die regionalen Lebensmittel gibt es kaum einen Exportmarkt.
Der nächste Gang besteht aus noch mehr Rentier: Rentier-Carpaccio, serviert mit getrocknetem Seetang und Lachskaviar. Als Beilage reicht man uns ein Butterbrot mit geriebener Rentierkeule. Zur Sicherheit frage ich nach: Ja, auf das Butterbrot wurde wirklich ein Teil eines Rentier- Vorderbeins gerieben.
Es gibt aber eine Sache, die Frederik im Huset Svalbard nicht serviert: Walfleisch. Das liege daran, dass der einzige örtliche Fischer, der das Fleisch für die Gemeinde beschafft, beim Fischen Dynamit einsetzen soll. Frederik sei mit dieser Methode nicht einverstanden.
Leider muss Frederik unserem privaten Abendessen bald ein Ende bereiten, da die ersten Gäste des Abends ins Restaurant kommen. Zum Abschluss fragen wir den Koch noch, wie er die spitzbergische Küche in drei Adjektiven beschreiben würde. Seine Antwort: “Herausfordernd, einschränkend, befreiend.”