Liebe geht durch den Magen, das wissen wir. Aber wenn Pandemie herrscht und die Liebe drinnen bleiben muss, dann verstopfen wir. Und doch ist Essen so ziemlich die letzte legale Freude, die uns bleibt. Der einzige Luxus, die einzige Möglichkeit, uns schnell und unkompliziert etwas zu gönnen. Was macht das mit uns?
Zum Glück heißt es, dass man ist, was man isst – und nicht wie man isst. Diese zweite Floskel müsst ihr entschuldigen, sie passt einfach zu gut. Denn seit der Pandemie koche ich zwar meistens mehrfach am Tag, müsste also ziemlich hot sein. Wenn es aber darum geht, wie ich dieses heiße Essen dann esse, dann ist das schon weniger attraktiv. Blass sitze ich mit gekrümmtem Rücken im dunklen Zimmer und schlinge in wenigen Minuten riesige Portionen Nahrung in mich hinein. Die Assoziation mit einem Charakter aus Der Herr der Ringe ist beabsichtigt, weil korrekt.
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Ich vermisse die Tage, an denen ich Essen zelebrieren konnte. Mit drei Freunden hatte ich eine Art Essens-Club gegründet. Jeden Freitag trafen wir uns in einem anderen Restaurant, für das wir einen Coupon hatten. Der Rabatt wählte das Lokal für uns. Einer hatte sich zu dem Zweck extra ein Coupon-Heft gekauft, meistens aber nutzten wir Angebote aus dem Internet.
Mal gab es Running Sushi für 6 Euro pro Person, mal All-U-Can-Eat-Gambas (9€ p.P.), zu denen wir noch All-U-Can-Eat-Rippchen (8€ p.P.) bestellten, weil wir Angst hatten, nicht satt zu werden. Das pinke Fleisch der Gambas, der süßlich-salzige Geschmack, den man kaum wahrnimmt, wenn man ihn nicht aktiv sucht, und dann ein kräftiger Biss in die braun marinierten Spareribs, in denen Salz und Saftigkeit dominierten. Einmal waren wir sogar beim Aserbaidschaner, aßen fettiges Fleisch mit wässriger Sauce zu trockenem Brot.
Das Essen war oft miserabel und die Getränke waren geradezu unbezahlbar. Unter anderem deshalb gingen wir anschließend gern in einen dieser Tex-Mex-Läden, die eine Mischung aus Fritteusen-Restaurant und Fusel-Cocktailbar darstellen, sie heißen “Qué pasa” oder “Cancún” oder “Luna”, sehen alle gleich aus und haben auch das gleiche Angebot: Billig-Cocktails und überbackene Nachos. Vor allem gingen wir aber hin, weil wir uns fühlen wollten wie Touristen in unserer eigenen Stadt. Denn außer Touristen besucht niemand diese Läden, das hoffe ich zumindest.
Heute fühlt man sich bereits als Tourist, wenn man nur mal in einen anderen Stadtteil fährt. Andere Kieze und ihre Parkbänke sind schon fast genauso geheimnisvoll wie die maurischen Hinterlassenschaften in Andalusien, die sowjetischen Denkmäler auf dem Balkan und die Frische der Fischbrötchen auf Helgoland.
Essen gehen gibt es nicht mehr, essen in Gesellschaft auch fast nicht. Wobei, neulich fuhr ich im Wedding an einem Stromkasten vorbei, der gegenüber von meinem liebsten Fried-Chicken-Laden den Gehweg begrenzt. Darauf hatten vier Jungs ihre halben Hähnchen, ihre Chili-Wings und Chickenburger ausgebreitet. Sie standen um den Kasten, wie eine Kernfamilie beim Abendessen am Küchentisch sitzt. Die Esskultur ist nicht weg, sie ist nur woanders.
Auch ich treffe mich gelegentlich mit Freunden, um gemeinsam draußen zu essen. So romantisch wie zu viert um den Stromkasten wird es dabei nicht, aber auch wir finden unsere Mäuerchen und Treppenstufen vor verriegelten Verwaltungsgebäuden. Wir erklären den öffentlichen Raum zu unserem Esszimmer. Wie sollten wir es sonst machen? Das ist schön, und doch ist Essen von den Knien oder gebückt bis zur Hüfte nicht so idyllisch, wie es sein könnte. Gespräche sind ohnehin fast unmöglich. Das fehlt mir.
Stattdessen eben meist das gute Selbstgekochte, gemütlich im Bürostuhl vor dem Arbeitslaptop. Ich koche viel und gut dieser Tage. Ich probiere regelmäßig neue Gerichte aus und perfektioniere alte. Ich habe jetzt einen Pizzastein wie ein hobbyloser Familienvater und versuche, einen Teig zu mischen, der Blasen wirft wie beim Italiener. Seitdem ich weiß, dass meine Miete in den nächsten zwei Monaten safe ist, kaufe ich auch mal bei Edeka ein. Das ist natürlich blanker, unnötiger Luxus und völlig dekadent. Aber es ist auch ein geiles Gefühl, die gesamte Palette an Fleischersatzprodukten durchprobieren zu können
Und doch ist das tollste Essen fast wertlos, wenn man es mit niemandem teilt. Von Sonnenuntergängen kann man wenigstens noch Fotos machen, sie auf Instagram posten und dazu schreiben, dass das Leben wie eine Schachtel Pralinen sei. Essensfotos hingegen sehen meistens eklig aus, und uninspirierte Kalendersprüche wirken dazu auch deplatziert.
Ich stehe also mehrere Stunden in der Küche, ohne dass ich mich über das Ergebnis wirklich freuen könnte. Der Luxus, den gutes Essen hat, geht dabei verloren. Denn für Luxus braucht es das Gefühl der Erhabenheit. Es muss sich so anfühlen, als gönne man sich etwas. Aber ich sehe es noch nicht mal ein, mein Essen optisch ansprechend auf dem Teller zu drapieren. Im kalten Halblicht meines Bildschirms kann ich den Teller ohnehin kaum erkennen. Wenn ich überhaupt hinsehen würde.
Was ich zu Beginn der Pandemie allerdings noch als Luxus empfand, war es, Essen zu bestellen. Curly Fries mit einem saftigen Burger, ein Familienmenü frisches Sushi oder ein indisches Curry mit ölig-geilem Bathura-Brot. Ich wohne in einer hippen Berliner Gegend, die Auswahl an Restaurants ist gigantisch. Ich habe zwar ein schlechtes Gewissen, wenn die jungen Männer und Frauen die vier Stockwerke zu mir hochlaufen müssen, wo ich dann in Unterhemd und zerfetzter Jogginghose meine fettig frittierten Mahlzeiten entgegennehme. Dafür versuche ich, immer ein glänzendes Zwei-Euro-Stück als Trinkgeld bereit zu halten. Gar nicht so leicht, wenn man alles kontaktlos per PayPal oder Sofortüberweisung bezahlt.
Essen zu bestellen, war dieser Funken Bourgeoisie, den ich mir gönnte. Ein Funken Unabhängigkeit und Großspurigkeit, der das Dunkel erhellte, durch das die Wintermonate, der Lockdown und das Alleinsein uns führten. Ich wanderte zwar durchs finstere Tal, doch der Stecken und Stab der Lieferando-Fahrer trösteten mich darüber hinweg.
Zumindest bis sie das nicht mehr taten. Denn seit einiger Zeit fühlt sich nicht einmal mehr das bestellte Essen luxuriös an. Es ist zwar immer noch verschwenderisch. Nur hat die Verschwendung ihre Erhabenheit verloren. Ich werfe das Geld für bestelltes Essen raus, wie wir alle unsere Leben, doch fühlt sich jetzt beides gleich beschissen an.
Denn so gut ist das bestellte Essen auch nicht. Im Gegenteil, der Burger hat die Konsistenz von porösem Gummi, die Pommes sind durchgeweicht und an den Enden schon kalt. Die Avocado im Sushi hat braune Stellen, und sowieso schmeckt eigentlich alles immer sehr ähnlich. Der einzige Vorteil des Bestellens bleibt, dass man dafür nicht einkaufen gehen muss. Ansonsten dauert es meistens länger, als selbst zu kochen, ist teurer, weniger lecker und produziert Müll, der am nächsten Tag mein Zimmer vollmüffelt.
Ich kann also drauf rumkauen, so lange ich will. Essen ist nicht mehr das Gleiche. Es dient nicht mehr der Freude, sondern der Lebenserhaltung, der Strukturierung des Tages und dem Müdemachen. Und der Beschäftigung, denn auch wenn ich es in zehn Minuten verspeist habe, dauert das Kochen selbst doch mehrere Stunden, in denen ich in einer Mischung aus Stress und Gedankenverlorenheit mit dem Arbeitstag abschließe, manchmal auch schon mittags. Und obwohl der Genuss weitgehend verloren gegangen ist, bleibt Essen die einzige Freude des Tages, der sonst nur voller Arbeit ist. Das Feierabendbier in der Kneipe, der Film im Kino oder die paar Bahnen im Schwimmbad sind es sicher nicht.
Damit ich also wieder ein gesundes Verhältnis zum Essen entwickeln kann, bleibt nur eins: Wir brauchen wieder die Möglichkeit, unsere Freizeit mit Dingen zu füllen, die nicht auf eine Person oder das Draußen beschränkt sind. Damit wir wieder mit Freunden essen können, uns dabei ins Gesicht sehen und unterhalten: Das Essen muss noch nicht mal gut sein, solange wir gemeinsam darüber schimpfen und hinterher in die schmuddelige Cocktailbar mit Mexiko-Flair gehen können.
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