Menschen

Ich war auf der Jagd mit einem Vegetarier

Der vegetarische Jäger Fabian Grimm mit mit Gewehr in einem Hochstand

Fabian deutet mit dem Kopf nach links. “Da ist eins”, sagt er. “Das krieg ich. Halt dir die Ohren zu.” Ich suche mit den Augen die Schneise vor uns ab, erkenne das Reh. Es steht zwischen Kiefern und jungen Buchen. Dann knallt es, Rauch wabert um das Gewehr, es riecht wie an Silvester und auf der Schneise sackt das Reh in sich zusammen. Ich habe keine Ahnung, wie Fabian so schnell reagieren konnte. Das alles hat höchsten fünf Sekunden gedauert. Die Hinterläufe des Rehs zucken in der Luft, dann bleibt es liegen. “Es ist tot”, sagt Fabian. Mein Herz pocht.

Es ist der letzte Tag der Jagdzeit auf Rehe; ein sonniger und klarer Januarmorgen in einem Waldstück bei Bayreuth. Kiefern und Fichten wachsen in die Höhe, Brombeerbüsche liegen darunter. Es ist still, nur eine Autobahn brummt im Hintergrund. Manchmal hören wir Vögel; Eichelhäher und Schwarzspechte.

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Fabian Grimm hat ein Tier getötet. Fabian Grimm ernährt sich vegetarisch, außer er oder seine Frau schießen das Fleisch selbst. Wie passt das zusammen? Fabian Grimm ist jemand, der noch vor wenigen Jahren in seiner Wohnung an der Bernauer Straße in Berlin-Mitte saß, Hummus und veganen Brotaufstrich gefrühstückt hat und fest davon überzeugt war, dass er keine Tiere mehr essen will. Heute tut er es doch. Wenn Fabian jagt, dann ist er kein Vegetarier. Seine Ernährungsphilosophie ist in diesem Moment genau das: Philosophie. Theorie. Fabian Grimm ist das Fragezeichen hinter der Frage: Wie geht Fleischessen heute richtig? Ist es umweltfreundlicher, tierlieber, ja fairer, Tiere nur dann zu essen, wenn wir sie selbst getötet haben? Sollten wir alle selbst jagen gehen, wenn wir Fleisch essen wollen?

Jäger Fabian bläst Seifenblasen in die Luft

Fabian findet das nicht. “Ein Tier töten, das muss man lernen.” Tiere töten, das solle nur jemand, “der etwas davon versteht”, sagt er. So wie er.

Ich habe seit 15 Jahren kein Tier gegessen – und ich möchte auch keinem dabei zusehen, wie es stirbt

Eine Stunde bevor es knallt, schleichen wir uns leise an den Hochsitz an, von hinten. “Damit wir nur nach drei Seiten hinstinken”, flüstert Fabian. Oben auf dem Sitz testet er noch einmal den Wind: Bläst Luft aus und folgt der Dampfwolke mit den Augen. Es riecht nach Holz – nass und würzig. Vier Meter über der Lichtung sitzen wir auf einer Holzplanke und warten. Die Morgensonne scheint die Gipfel der Fichten an. Fabians linke Hand ruht im Schoß, die rechte umschließt das Gewehr. Den Lauf legt er auf der Vorderwand des Hochsitzes ab. Sein Zeigefinger liegt neben dem Abzug, der Daumen vor dem Schieber, der das Gewehr entsichert. Auf meinem Schoß liegen zwei Decken. Trotzdem kriecht mir die Kälte in die Knochen. Ich bin selbst Vegetarierin. Seit über 15 Jahren habe ich kein Tier mehr gegessen. Und ich möchte eigentlich keinem dabei zusehen, wie es stirbt. Ich habe Angst vor diesem Moment und weiß nicht, wie ich darauf reagieren werde, ob ich es OK finde oder ob mich der Anblick noch lange verfolgen wird.

Ein totes Reh, ein Jäger, ein Hund

Er ist in Schottland, als Fabian Grimm vom Vegetarier zum Jäger wird. Seine Frau und er sind Zelten. Es regnet, es regnet immer mehr, und irgendwann ruft Lydia bei Freunden an, die in der Nähe eine Viehzucht haben. Schafe. Ein paar Tage helfen die beiden mit, irgendwann fragen sie: Warum schlachtet ihr die Tiere, warum nehmt ihr nicht nur ihre Milch? Die Antwort stellt Fabian Grimms Ernährungsentwurf auf den Kopf: Wenn sie mehrmals am Tag Milch geben müssten, würden die Schafe den ganzen Tag im Stall stehen. “Die haben ein besseres Leben, wenn sie auf der Weide sein dürfen und einfach irgendwann getötet werden”, sagt Fabian. Seitdem isst Fabian Fleisch statt Milchprodukte. Fabians Frau, Lydia, hat Forstwirtschaft studiert. Wer Försterin werden will, braucht in vielen Gegenden einen Jagdschein. Fabian beschließt, den Schein mit Lydia zusammen zu machen. Es ist eine Zeit, in der er viel über seine Ernährung nachdenkt. Er sagt: “Sonst wäre es vielleicht ein Schrebergarten geworden.”

“Fair ist es, zu schießen”

Dann taucht plötzlich das Reh auf. Fabian zieht sein Gewehr nach links, ich ziehe meine Hände über die Ohren. Fabian drückt ab.

Eine Plastikbox mit Blutspuren drin

Ist Fabian überhaupt noch ein Vegetarier?

“Ich gehe vom Tier aus, nicht vom Menschen”, sagt er. Es sei entscheidend, wie es dem Tier geht, bevor es stirbt. Nicht, wie es ihm geht, wenn er es isst.

Also ist Tiere zu töten OK?

“Jein”, sagt Fabian. Tierhaltung lehne er für sich ab. Aber Wild zu schießen, das tut er eben doch. Für ihn ergibt das Sinn. Die Wälder funktionierten ohne uns Menschen nicht mehr, sagt er. Wir müssten Rehe schießen, sonst fressen sie die jungen Bäume kaputt. Naturschutz, das ist die Begründung der meisten Jäger. Dagegen halten Kritiker: Die Natur würde sich schon selbst regulieren, ließe man sie nur endlich in Ruhe.

Das tote Reh hängt an einem Baum, Fabian kniet davor

Fabian schießt nur bei jeder vierten oder fünften Jagd. Fühlt er sich jetzt gut, erfolgreich? Oder schuldig? Fabian zieht die Augenbrauen zusammen. “Ich habe heute Morgen mein Gewehr eingepackt mit dem Ziel, etwas zu schießen. Ich fahre nicht in den Wald, um dann zu überlegen. Die Entscheidung habe ich vorher getroffen.” Er beantwortet nicht meine Frage. Er weicht aus: “Der Punkt ist doch: Es ist nicht schlimm für mich. Für das Tier ist es schlimm.”

Fabian findet es richtig zu schießen, wenn er eine Möglichkeit dazu hat. “Wenn ich ein Reh sehe und nicht schieße, obwohl ich könnte, da fangen die Machtspielchen an. Fair ist es zu schießen.” Ist es das? Ist es fair, ein Tier zu töten, nur weil es aus Versehen auf der Schneise steht? Oder hat sich Fabian einfach eine Erklärung zurechtgelegt, die plausibel klingt?

Wo eben noch Fell war, schwappt nun Blut

Wir klettern vom Hochsitz und gehen auf das tote Tier zu. Das Tier guckt uns mit offenen Augen an. Das Fell ist graubraun, sieht dick und weich aus. Einzelne Haare zittern weit hinter dem Tier im kniehohen Gebüsch. “Die sind rausgeschossen worden, als das Projektil das Tier durchbohrt hat”, sagt Fabian. “Das war sofort tot, ist direkt umgefallen. Das, was man haben möchte”, sagt Fabian.

Das Reh hängt an einem Ast

Fabian hebt das Reh an den Vorderläufen hoch, klemmt den Kopf zwischen eben diese und zieht das Bündel hinter sich her. Die Totenstarre hat noch nicht eingesetzt, der Körper bewegt sich weich und geschmeidig. Fabian legt das Tier auf dem Rücken auf einem Waldweg ab. “Normalerweise würde ich mich für einen Moment neben das Reh setzen”, sagt er. Aus Respekt für das Reh? Er schüttelt den Kopf. “Für mich. Um Ruhe reinzukriegen.” Die Formulierung “Respekt für das Tier” findet er verlogen. “Ich habe das gerade totgeschossen”, sagt er, “etwas Respektloseres kann ich gar nicht machen.”

Fabian setzt die Klinge an und schneidet einen Halbkreis rund um den After. So kann er das Darmende lösen, erklärt er mir. Er greift mit dem Zeigefinger in den Schlitz und zieht den weißen Schlauch als Schlaufe ein Stück hervor und trennt ihn ab. Dann sägt er das Brustbein auf, die Säge ratscht hin und her, ein paar Knochenteile bleiben an der Klinge hängen. Fabian bricht den Brustraum auf. So heißt das in der Jägersprache, “Aufbrechen des Tiers”. Wo eben noch Fell war, klafft nun eine offene Lücke. Dunkles Blut schwappt in der Höhle. Fabian greift hinein, es sabscht und schlotzt, dann löst er das Herz heraus. Es ist vollkommen intakt. Die Kugel hat nur die Lunge getroffen.

Ich hatte Angst vor diesem Anblick – jetzt finde ich es eigentlich ganz schön

Wenig später hängt das leblose Tier kopfüber am Ast eines Baumes. Zum Ausbluten. Ein süßlicher Geruch strömt heraus, ein bisschen nach Ei riecht es. Fabian sagt: “Eher nach Kacke.” Er hebt die Innereien heraus. Auf dem grünen, dichten Moos vor Fabian und mir liegt jetzt das, was das Tier noch vor einer Stunde am Leben gehalten hat: seine Organe. Sie dampfen in der Januarluft. Mattlilafarben liegt da die Leber, blauschwarz schimmernd die Milz. Die Lungenblätter sind dunkelrot – und faserig zerschossen an der Stelle, wo Fabians Projektil eingeschlagen hat.

Fabian schneidet die Innereien

Ich hatte Angst vor diesem Anblick. Dass mir übel wird. Dass es zu viel ist für mich. Jetzt, wo ich davor stehe, finde ich es eigentlich ganz schön. Auf eine archaisch wahre Art zeigt dieser Haufen: so funktioniert Leben. Diese Organe, die jetzt nutzlos neben dem toten Tier liegen, waren das, was es zu einem Lebewesen gemacht hat. Keine Seele, keine Metaebene, keine Transzendenz. That’s it.

Fabian greift die Speiseröhre und zieht langsam den ganzen Verdauungstrakt vor sich in die Luft. Die Innereien gleiten nacheinander vom Waldboden in die Höhe, bis der Enddarm über dem Moos pendelt. “Das hängt alles zusammen”, sagt Fabian, und ich verstehe das große Ganze, der Lebenskreislauf, das Essen und Gegessenwerden, aber er meint es einfach nur wörtlich: Die Organe hängen aneinander. Fabian sagt: “Ein Tier ist eigentlich ein Schlauch. Oben ein Loch, unten ein Loch, und dazwischen hängt ein bisschen was dran.”

Der vegetarische Jäger zerlegt das geschossene Reh

Wie ein Chirurg arbeitet sich Fabian an dem Tier entlang. Er setzt die Schnitte so, als wären unsichtbare Linien aufgemalt, die nur er sehen kann. Bis nur noch muskelbepackte Hinter- und Vorderbeine und der Brustkorb am Ast hängen. Wie ein Stück Fleisch beim Metzger.

Nur wer es übers Herz bringt, ein Tier zu töten, um es zu essen, sollte es essen

Ein Tier schießen und es dann weiterverkaufen, das würde Fabian nie, sagt er. “Das würde sich für mich falsch anfühlen. Zersplittert.” Genau das ist es, was Fabian nicht will. Für ihn ist es nur logisch, Tiere zu essen, wenn der Prozess eine Einheit bildet: Jagen, Ausnehmen, Zerteilen, Zubereiten, Essen. So ist das für ihn ethisch vertretbar.

Dass er nicht die Augen davor verschließt, wie sein Fleisch in die Bolognese kommt, macht es tatsächlich für mich akzeptabler, dass er dieses Reh essen wird. Viele Fleischesser ekeln sich davor. Fabian nicht. Er verarbeitet das Lebewesen komplett selbst zum Lebensmittel. Davor habe ich große Achtung.

Fabians Hund auf einem Baumstumpf

Dennoch bestärkt mich selbst das alles eher darin, Vegetarierin zu bleiben. Denn Fabian ist konsequenter als ich. Nur wer es übers Herz bringt, ein Tier zu töten, um es zu essen, sollte es essen. Ich bringe das nicht übers Herz. Vielleicht, denke ich nach diesem Ausflug, sollte ich sogar vegan essen?

Die Sonne steht mitten am Himmel, als Fabian fünf Plastiktüten mit Fleisch in eine Kiste sortiert. Zehn Kilo Fleisch und Knochen sind, was vom Reh übrig ist. Das Fleisch in den Tüten hat Fabian thematisch sortiert: In einer Tüte liegt das Fleisch, das er zu Hack verarbeiten will, in einer anderen liegen die Filets. Gratis gibts dieses Reh nicht. Fabian zahlt für jedes Kilo 5,50 Euro an den Forstbetrieb. Den Kopf legt er mit ihn die Kiste. Fabian wird ihn mitnehmen. Ein Jagdmagazin hat ihm den Auftrag gegeben, ein Rezept mit Hirn zu schreiben.

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