Lina Khalifeh bringt Frauen bei, gegen gewalttätige Männer zu kämpfen

Die Kampfsportlerin Lina Khalifeh zeigt einen gesprungenen Kick

Es gibt Kampfsportler, die erst mal eine Kokosnuss mit ihrem Kopf knacken müssten, um die Aufmerksamkeit der Leute zu bekommen. Bei Lina Khalifeh reicht dafür schon ein Satz: “Ich bringe Frauen bei, Männer zu verprügeln.”

Während die 33-Jährige das sagt, spannen sich ihre Hände um die Lehne des Lounge-Sessels, in dem sie gerade auf einer Bühne vor über 400 wichtigen Leuten sitzt – so als müsse sie sich jeden Moment herauskatapultieren. Dann lacht sie und die Menschen im Saal lachen mit. Die Frau mit dem Kurzhaarschnitt ist hier in dieser blau ausgeleuchteten Mehrzweckhalle unter all den europäischen Königinnen, Staatschefs und NGO-Bossen, die einzige, die ein Hemd mit Haifischkragen zu groben Lederboots trägt. Es ist vielleicht genau die richtige Mischung aus Seriosität und Rambo-Attitüde, die es braucht, um Politikerinnen und Politikern klarzumachen, wie man mit Kicks, Schlägen und Hebeltechniken für Geschlechtergerechtigkeit kämpfen kann.

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Auf Einladung der EU ist Lina Khalifeh Anfang Juni nach Brüssel gekommen. Bei den European Development Days treffen sich mehr als 8.000 Entwicklungshilfe-Expertinnen und -Experten – dieses Jahr, um über die weltweite Lage der Frauenrechte zu diskutieren. Die durchtrainierte Frau ist hier so etwas wie eine Militärsanitäterin, die vom Schlachtfeld kommt, um den Chefärzten in ihren bequemen Büros zu erzählen, wie die Welt da draußen wirklich aussieht. Diese Welt liegt für Lina Khalifeh in ihrer Heimat Jordanien, unweit des Toten Meeres, in den steilen Hügeln und Gassen der Vier-Millionen-Stadt Amman.

Im konservativ geprägten Jordanien sagten 2013 noch 14 Prozent aller Frauen zwischen 15 und 49 Jahren, dass sie innerhalb der letzten zwölf Monate körperliche oder sexuelle Gewalt durch ihre Partner erfahren hatten – in Deutschland sagten das drei Prozent der Frauen. Bis zu einer Gesetzesänderung im August 2017 war es in Jordanien möglich, dass Männer, die eine Frau vergewaltigt haben, der Strafe entgingen. Sie mussten ihr Opfer nur heiraten. Das neue Gesetz habe aber nichts daran geändert, dass Angst vor Gewalt für Frauen noch immer so sehr Alltag ist, sagt Khalifeh, dass sich viele nicht trauen würden, alleine das Haus zu verlassen. Schon lange habe sie es satt gehabt und gedacht, “ich kann etwas dagegen tun”. 2012 gründete sie deshalb in Jordanien die erste Selbstverteidigungsschule für Frauen im Nahen Ostens. Doch bis es soweit war, musste die junge Lina noch ein paar Jungs erklären, dass Mädchenhände nicht nur Locken bändigen können. Besonders, wenn man sie zu Fäusten ballt.

1990 begann sie mit fünf Jahren bei ihrem Cousin Taekwondo zu trainieren. Nur weil der Trainer ein Verwandter war, ließen ihre Eltern es zu. Lina Khalifeh wollte lernen, sich gegen die Nachbarjungs zu wehren, die sie mit Steinen bewarfen, sagt sie: “Ich wollte mit ihnen mithalten, das hat sie genervt.” Aus der fünfjährigen Gassengöre wurde eine erwachsene Turnierkämpferin mit 19 Goldmedaillen und drei schwarzen Gürteln. Neben Taekwondo lernte sie Kung Fu, Muay Thai, Aikido und Boxen. “Die Turnierkämpfe haben mir Selbstbewusstsein gegeben”, sagt Khalifeh, bis ein Fight die Seiten aus dem Drehbuch ihres persönlichen Bruce-Lee-Films riss.

Während eines Kampfes 2002 verdrehte sie plötzlich ruckartig ihr Knie. Sie konnte spüren, das irgendetwas riss, aber durch ihren Körper pumpte so viel Adrenalin, dass sie die Schmerzen kaum spürte. Sie machte weiter, besiegte ihre Gegnerin, holte noch mal Gold – und verlor trotzdem. Der Arzt diagnostizierte Zerrungen und Risse an allen Bändern. “Mein Kreuzband war komplett zerfleddert.” Auf die OP folgten sechs Monate Reha. Sie könne nie wieder kämpfen, sagte der Arzt. Lina Khalifeh wollte das nicht akzeptieren, “ich war schon immer eine Kämpferin”.

Lina Khalifeh demonstriert den Angriff nach der Verteidigung | Foto: Autor

“Habt ihr ein Herz?”, fragt Lina Khalifeh die Leute von der Bühne. “Dann hört darauf, was es euch sagt.” Viele nicken zustimmend. Khalifeh hat auf ihr Publikum eine ähnliche Wirkung wie Apple-Chefs oder evangelikale Prediger. Aber Lina Khalifeh verkauft weder Smartphones noch Spiritualität, sondern eine Idee: Frauen müssen sich selbst schützen, wenn die Gesellschaft daran scheitert. Selbst ein paar Journalisten applaudieren. Dass sie Leute mitreißen kann, entdeckte Khalifeh gezwungenermaßen durch das, was vor 14 Jahren einer Freundin widerfuhr.

Das was sie 2004 erlebte, erzählt Lina Khalifeh so: Sie saß gerade in einer Vorlesung an der Uni und erschrak, als ihre Freundin Sara den Hörsaal betrat. Ihr Gesicht war voller blauer Flecken, sie weinte. Nach der Vorlesung erzählte sie, dass ihr Vater und ihr Bruder sie jeden Tag schlagen. Khalifeh redete auf ihre Freundin ein, sagte: “Zeig sie an!” Doch Sara antwortete nur “nein” und ging. Sie glaubte nicht, dass sie etwas tun könnte. Khalifeh machte das wütend. Also begann sie, Taekwondo, Boxen und Selbstverteidigungstechniken zu unterrichten. Nur zwei Frauen kamen zum ersten Treffen in den Keller ihres Elternhauses, es war konspirativ, ein bisschen wie in einer Widerstandsgruppe. Dabei wollte sich Khalifeh gar nicht verstecken.

Dann bittet Lina Khalifeh eine Teilnehmerin, sie mit beiden Händen zu würgen

Als sie mit ihrer Idee an die Öffentlichkeit ging, um mehr Frauen zu überzeugen, wurde sie gleichzeitig belächelt und gefürchtet. Dass eine Frau anderen Frauen beibringt, sich gegen Gewalt zu wehren, war in etwa so, als hätte Khalifeh eine Bombe im Fundament des Patriarchats zünden wollen. Männer drohten ihr, aber auch Frauen. So sehr hatte sich das System etabliert, in dem Frauen auf keinen Fall gegen Männer aufbegehren. Doch die wenigen Frauen, die kamen, brachten beim nächsten Mal ihre Freundinnen mit. Irgendwann waren es so viele, dass Lina Khalifeh ein Studio mieten konnte. 2012 gründete sie in Amman die Organisation Shefighter. Bis heute hat sie in 27 Ländern mehr als 15.000 Frauen trainiert und über 350 Trainerinnen zertifiziert.

Ihr Team gibt nicht nur Selbstverteidigungskurse, sondern auch Workshops zu häuslicher Gewalt, sexueller Belästigung und Frauenrechten. Dafür gehen sie genauso in jordanische Flüchtlingscamps, wie in die niederländische Zweigstelle von Shefighter, wo die Bedürfnisse der Teilnehmerinnen ganz andere sind. Dort hätten viel mehr Teilnehmerinnen Depressionen, aber auch ihnen könne das Training helfen, indem es das Selbstbewusstsein der Teilnehmerinnen stärke, sagt Khalifeh. Gleich gibt sie vor einer Messewand auf der lächelnde Menschen Nationalfahnen schwingen einen Selbstverteidigungskurs. Die Trainingsecke kann nicht unbedingt mit einem Shaolin-Tempel mithalten, aber etwa 20 Frauen sind gekommen. Um sie herum lärmt das Stimmengewirr der Konferenz. Ab und zu bleibt jemand stehen, blickt skeptisch und eilt dann zum nächsten Termin.



“Hebt die Hand, wenn ihr schon Erfahrung mit Selbstverteidigung habt und verlasst das Gebäude, falls ihr Zumba macht”, sagt Lina Khalifeh und lacht. Dann bittet sie eine Teilnehmerin, sie mit beiden Händen zu würgen. “Nicht so schüchtern, solange ich noch reden kann, ist alles OK.” Mit einer fließenden, erstaunlich unspektakulären Bewegung windet sie sich aus dem Griff.

Etwas Abseits stehen zwei junge Männer und erkunden mit den Händen die Taschentiefe ihrer Anzughosen. “Traut euch, macht mit!”, sagt Khalifeh, schlängelt sich wieder aus einem Würgegriff und stoppt ihre niederfahrende Faust Millimeter vor dem Nasenbein ihrer Trainingspartnerin. “Äh, das wäre nicht gut für mein Image”, murmelt einer der Männer. Dann gehen sie.

Sie stieß den Angreifer weg. Sie kämpfte, er rannte. Lubna war wütend und setzte ihm nach

Lina Khalifeh musste sich noch nie gegen einen echten Angreifer verteidigen. “Wenn du selbstbewusst auftrittst, legen sich solche Leute nicht mit dir an. Das sind im Grunde Feiglinge.” Eine ehemalige Kursteilnehmerin habe ihr erzählt, dass ein Typ, der ihr auf der Straße von hinten an die Schulter griff, sofort weggerannt sei, als sie ihre Kampfposition einnahm. Das reiche aber nicht immer aus. “Ein anderes Mädchen aus Jordanien, Lubna, wurde von hinten gestoßen, als sie gerade den Aufzug ihres Hauses betrat. Ein massiger Typ würgte sie und versuchte, sie zu vergewaltigen.” Lubna habe nicht atmen können, Panik bekommen – aber dann funktionierten ihre Reflexe aus dem Training. “Sie stieß den Angreifer weg. Sie kämpfte, er rannte. Lubna war wütend und setzte ihm nach. Auf der Straße erwischte sie ihn und schlug ihm ins Gesicht bis er weinte. Er flehte sie an, aufzuhören”, erzählt Khalifeh. Inzwischen sitze der Täter wegen sexueller Nötigung drei Jahre im Gefängnis ab. “Als Lubna mir das alles am Telefon erzählte, machte mich das sehr stolz.”

Aber auch viele der Teilnehmerinnen, die sich in Brüssel zwischen Stehtischen und Mülleimern voll leerer Kaffeebecher gegenseitig die Beine wegziehen, und aus vergleichsweise privilegierten Verhältnissen stammen, sagen, dass sie sich vor allem nachts auf der Straße nicht sicher fühlen. Lina Khalifeh sagt, sie ärgere sich, wenn Politiker sagen, man müsse nur in bessere Bildung investieren, um das Problem zu lösen. “Ein Universitätsprofessor kann immer noch seine Macht nutzen, um eine Studentin sexuell zu belästigen.”

Die klassische Entwicklungszusammenarbeit – Gesetze aushandeln, Gelder bewilligen, gucken, dass die auch ankommen – dauert Lina Khalifeh zu lange. “Weißt du, ich bringe Frauen nicht wirklich bei, wie sie Männer verprügeln. Ich bringe ihnen bei, wie sie sich gegen Gewalt verteidigen. Und wenn diese Gewalt von Männern ausgeht, werden sie eine entsprechende Antwort kriegen.”

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