Der größte Irrglaube im Hinblick auf unseren Sommerurlaub—gleich nach der unter Hipstern verbreiteten Annahme, in den Norden zu fahren wäre irgendwie intellektueller als in den Süden, weil man dort Dosenbier vorm Geysir statt Mai Tai am Meer trinkt—ist ja, dass man seine freie Zeit nur dann wirklich genießt, wenn man in ihr das genaue Gegenteil von allem tut, das uns im Alltag zu Menschen macht.
Dazu gehört neben dem kompletten Abstreifen jeglichen Schamgefühls (also: Reden über den Stuhlgang) und dem kompletten Verlust unseres Mode-Sinns (also: Aussehen wie Stuhlgang) immer öfter auch das Ausschalten unseres Handys (damit man sich, passend zum Rest, auch gleich wie Stuhlgang fühlt). Aber genau wie bei der romantischen Vorstellung vom noblen Norden, wo schon das einfache Rausschauen auf die Brandung voller vergeistigter Ingmar Bergman-Momente steckt, ist auch das Offline-Sein ein Konstrukt, das im Wesentlichen nur aus der Ferne funktioniert und mit dem praktischen Urlaubserlebnis recht wenig zu tun hat.
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Ich sage das, weil ich letzte Woche selber auf Urlaub war—und dabei auch einige Male mit den Unterschieden zwischen dem, was man sich projektiv unter Erholung vorstellt und dem, was einen dann auch wirklich entspannt, zu kämpfen hatte.
Wie sich aufmerksame Leser bestimmt schon denken, war ich im Süden, auf einer kleinen griechischen Insel, wo man außer Urlaub nicht viel machen kann. Weil aber auch auf den kleinsten griechischen Inseln schon das 21. Jahrhundert eingekehrt ist, hatte das Hotel neben einem ordentlichen Infinity Pool vor allem auch gratis WLAN in der Lobby, was dazu führte, dass sich zu jeder Uhrzeit menschliche Motten mit ihrem Smartphones und Tablets um die unsichtbaren Wellen scharten.
Mein Vorhaben, für eine Woche komplett von der Bildfläche zu verschwinden, war mit dem WLAN-Passwort am Hotelempfang gestorben. Als ich kurz darauf den ersten Tweet absonderte, wurde ich aus dem heimischen VICE-Office entsprechend mit familiärer Fürsorge ermahnt: „Verpiss dich ins Meer” und „Mach gefälligst Urlaub” erwärmen mir heute noch das Herz, wenn ich dran denke. Auch auf Facebook wurde mein Bedürfnis, den Rest der Welt an den Farbnuancen des griechischen Abendhimmels teilhaben zu lassen, eher mit schwarmintelligenter Abwehrhaltung gegenüber dem verpönten Urlaubs-Posten quittiert als mit Likes. Recht haben sie, dachte ich mir. Urlaub ist zum Abschalten da, und in Der talentierte Mr. Ripley oder der Raffaelo-Werbung tun sie das auch immer ohne Hochtechnologie.
Nach drei Tagen im aufoktroyierten Offline-Exil begann sich meine Einstellung langsam zu ändern. Ich fragte mich, wer eigentlich bestimmte, dass diese Sache namens Urlaub, die andere Menschen anscheinend jährlich machten, aus sozialmedialem Reizentzug in einer landschaftlich unterfordernden Einöde bestehen musste. Ich fragte mich, warum das Beobachten der kleinen Kringel in meinen Augen, die vor dem blauen Himmel hin und her tanzten, eher dem korrekten Entspannungs-Modus entspricht, als zum Beispiel das Beobachten meiner Facebook-Timeline. Und ich fragte mich, warum es den Nichturlaubenden in der Heimat eigentlich so wichtig war, mir zu verordnen, auf welche Art ich mich zu erholen hatte.
Eine mögliche Antwort (die praktischerweise auf so ziemlich alles passt, was irgendwie mit Kulturphänomenen der Gegenwart zu tun hat) lautet Interpassivität. Dabei geht es um die Beobachtung, dass wir unsere Konsumgüter manchmal nur kaufen (oder downloaden), um sie ins Eck zu stellen (oder auf der Festplatte zu haben)—also nicht mehr aktiv selbst genießen, sondern unser „Genießen weiterdelegieren” und die Sache danach trotzdem als abgehakt betrachten. Jeder, der Ulysses oder die Bibel im Bücherregal stehen hat, weiß, wovon ich rede. In Bezug auf den Urlaub der anderen würde das bedeuten: Wenn wir schon nicht selbst Spaß haben, soll es wenigstens jemand anders für uns tun, anstatt uns daran zu erinnern, dass es auch in Griechenland WLAN gibt und die Netzgesellschaft längst ihre unsichtbaren Tentakel bis an den Strand ausgestreckt hat.
Eine andere Erklärung wäre, dass uns das Online-Süchteln der anderen den Spiegel vorhält: Immerhin verbringen die meisten von uns ihre freien Tage nicht erlebnisoptimierend mit Picknicks, Foto-Ausflügen und Flohmarkt-Besuchen, sondern einfach nur mit Schuldgefühlen auf der Couch. Im Urlaub online zu sein—und damit nicht das zu tun, was man sich in seinen romantischen Entspannungs-Kalender geschrieben hat—ist das sozialmediale Äquivalent zum Couch-Potato-Dasein trotz Picknick-Plan.
Was auch immer der wahre Grund dafür ist: Nach drei Tagen geistiger Selbstbeschneidung wünscht man sich jedenfalls ein Ende des fremdverordneten Kommunikationsentzugs. Entspannung an allgemeingültigen Kriterien festzumachen, ist Bullshit. Seinen Urlaub danach auszurichten, was andere in ihn hineinprojizieren, ebenso.
Computer am Flughafen Karpathos. Foto von VICE Media
Gegen Ende war meine Antwort auf die sozialmedialen Verscheuch-Versuche: Für mich bedeutet Urlaub nicht, offline sein zu müssen—sondern off- und online das tun zu können, was ich will.
Natürlich rufen solche Aussagen immer auch die kulturpessimistische Kritik an der ständigen Arbeitsbereitschaft und der pausenlosen Erreichbarkeit auf den Plan, die während der Urlaubszeit zwischen „RTL Extra” und dem Feuilleton durch die ausgehungerten Medien geistern. Und natürlich muss es in Ordnung sein, dass wir in unseren Köpfen Trennlinien ziehen und gewisse Dinge (wie Arbeit) zumindest zeitweilig hinter uns lassen; aber deshalb das Internet aus unseren Urlauben verbannen zu müssen, hat auch nicht viel mit Selbstbestimmung zu tun.
Urlaub ist immerhin Pause von der Arbeit, nicht Entzug vom Leben—und zu dem gehören nun mal auch gewisse technologische Errungenschaften und Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Internet). Und jetzt verpisst euch nach draußen, es ist grade wieder schönes Wetter.