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Rechtsextremismus

Was es für Minderheiten bedeutet, wenn 467 gesuchte Neonazis frei herumlaufen

"Alltagsrassismus wird meiner Meinung nach oft als Ausnahme abgestempelt."
Louise, eine Schwarze Frau, schaut in die Kamera
Foto: Privat

In ihrer grenzenlos unkreativen Art haben sich Neonazis äußerlich immer mehr an militante Linke angepasst. Das macht es schwieriger, sie zu identifizieren. Dass die Polizei aktuell 467 Rechtsextreme per Haftbefehl vergebens sucht, dürfte aber einen anderen Grund haben. Die Rechten sind schlichtweg untergetaucht. Die Zahl stammt aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linkspartei. Gewaltbereite Rechtsextreme, die auf der Flucht sind, können eine Gefahr für viele Menschen darstellen. Vor allem für Menschen mit Migrationshintergrund. Deshalb haben wir fünf von ihnen gefragt, wie sicher sie sich fühlen, wenn gesuchte Neonazis frei herumlaufen.

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Assim, 23

Man hält sich Obst vor das Gesicht

Assim ist 2015 aus Syrien nach Deutschland geflohen. Er lebt in Berlin-Kreuzberg | Fotos, wenn nicht anders angegeben: Viktoria Grünwald

VICE: Was schätzt du, wie viele von der Polizei gesuchte Neonazis in Deutschland frei herumlaufen?
Assim: Gute Frage. Ich würde sagen weniger als 500 Leute, aber es gibt bestimmt mehr, die nur noch nicht gesucht werden.

Deine Schätzung kommt hin. Macht dir das Angst?
Ich habe eigentlich vor gar nichts Angst. Obwohl ich letztes Jahr bedroht wurde, allerdings nicht von Nazis, sondern von der arabischen Mafia in Berlin. Da wurde ich zweimal mit einem Messer auf der Straße angegriffen und musste ins Krankenhaus. Vor diesen Leuten habe ich mehr Angst als vor fremden Neonazis auf der Straße.

Aber pauschal kann ich nicht sagen, vor wem ich mich mehr fürchte. Es gibt gute und schlechte Deutsche, genauso wie es gute und schlechte Ausländer gibt. Egal ob Nazi oder nicht, man weiß nie, von wem man bedroht wird.


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Fühlst du dich sicher, wenn du alleine durch die Stadt fährst?
Eine Bekannte von mir wohnt in Berlin-Marzahn und dort wohnen mehr Rechtsextreme als hier in Neukölln. Aber selbst wenn ich dort allein mit der Bahn unterwegs bin, egal ob spät abends oder früh morgens, mache ich mir darüber keine Gedanken.

Ismael, 35

Junger Mann lächelt in Kamera

Ismaels Mutter ist deutsch, sein Vater kommt aus Mosambik

VICE: Was sagst du dazu, dass in Deutschland 467 Rechtsextremisten per Haftbefehl gesucht werden?
Ismael: Das sind leider viel zu viele, aber ich dachte, es wären mehr. Ich komme selbst aus Berlin-Hellersdorf und da nimmt es wirklich Überhand. Aber heutzutage kann man Neonazis immer schlechter erkennen. Früher war das einfacher, da haben sie sich selbst durch Symbole und bestimmte Kleidung zu erkennen gegeben. Heute sehen sie aus wie Hipster und tragen nicht mehr unbedingt klassische Bomberjacken und Glatzen. Die Tatsache, dass es noch immer so viele Menschen gibt, die derart ausländerfeindlich sind, löst bei mir ein Gefühl von Machtlosigkeit aus.

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Warst du schon mal Opfer rechtsextremer Gewalt?
Klar, ich komme aus Hellersdorf – da steht das quasi auf der Tagesordnung. Und ich habe das Gefühl, dass es immer schlimmer wird.

Lien, 25

Frau trägt rosa Jacke und hält eine Zigarette

Lien stammt aus dem Südwesten Chinas. Seit drei Jahren lebt und arbeitet sie in Berlin

VICE: Fühlst du dich wohl hier in der Stadt?
Lien: Ich fühle mich sehr wohl, mir ist noch nie was passiert.

Aktuell werden Hunderte Neonazis von der Polizei gesucht. Hast du Angst, Opfer rechter Gewalt zu werden?
Hier in Berlin ist es so international und groß, dass ich mir darüber keine Gedanken mache, auch wenn das eine große Zahl ist. Durch mein asiatisches Aussehen werde ich eher für eine Touristin gehalten und die Leute denken gar nicht, dass ich hier lebe.

Können diese Rechtsextremen zu einem großen Problem werden?
Ja, aber mehr in den kleineren Städten, nicht hier in der Hauptstadt. Wir haben das in Sachsen-Anhalt gesehen und dort ist es sicher gefährlicher. In Kleinstädten prallen nicht so viele Kulturen aufeinander, deshalb fällt alles, was fremd ist, mehr auf. Dort gibt es mehr Groll und Hass gegen Ausländer und Menschen bedrohen sich gegenseitig, weil ihnen das Verständnis für andere Kulturen fehlt. Das fühlt sich weit weg an für mich, aber ich hoffe, alle Kriminellen werden gefasst.

Louise, 24

Junge Frau blickt in Kamera

Louise ist in Deutschland geboren und hat durch ihre Mutter jamaikanische Wurzeln | Foto: Privat

VICE: Was schätzt du, wie viele Neonazis trotz vorliegenden Haftbefehlen auf freiem Fuß sind?
Louise: Schwer zu sagen, vielleicht so 150?

Es sind 467. Was löst das für ein Gefühl bei dir aus?
Es verwundert mich ehrlich gesagt nicht wirklich, dass es so viele sind. Ich glaube, dass Themen wie Rassismus generell nicht wirklich ernst genommen werden, außer es handelt sich um einen großen Vorfall, der von öffentlichem Interesse ist. Alltagsrassismus wird meiner Meinung nach oft als Ausnahme abgestempelt. Ich finde es schlimm, dass so viele Nazis ohne Strafe davonkommen, zumal es sich ja meistens nicht um Einzeltäter handelt.

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Hast du bereits Erfahrungen mit Rechtsextremismus gemacht?
Nicht direkt. Rassismus und rassistisch motivierte Straftaten werden oft verheimlicht und runtergespielt. Man wird beispielsweise auch so gut wie nie auf der Straße wegen seiner Hautfarbe beleidigt. Aber Blicke sagen manchmal mehr als Worte. Es sind mehr versteckte Gesten, die einen spüren lassen, dass man unerwünscht ist.

Hast du Angst, wenn du nachts alleine unterwegs bist?
Ich würde nicht unbedingt sagen, dass ich Angst habe. Aber ich bin sehr aufmerksam und schaue mich immer um. Außerdem laufe ich dann immer sehr schnell nach Hause, dadurch fühle ich mich sicherer.

Sahin, 19

Mann im Profil vor Bus

Sahin ist in Berlin-Neukölln geboren und aufgewachsen. Seine Familie stammt aus der Türkei

VICE: In Deutschland werden 467 Rechtsextreme per Haftbefehl gesucht. Wie fühlst du dich dabei?
Sahin: Ich hätte sogar gedacht, es sind bis zu zweitausend. Ich bin in Berlin-Neukölln geboren und fühle mich hier wohl. Diese 467 sind nur eine Zahl. Diese Leute stehen nicht real vor mir und deshalb ist das nicht so schlimm für mich.

Wurdest du schon einmal angegriffen?
Es gab einmal eine Situation im Bus, da wurde ich beleidigt. Da saßen ein paar Typen, die waren betrunken und sagten zu mir: "Sei leise", und: "Dreckskanacke". Aber ich wusste, die haben getrunken und labern nur, deswegen habe ich das einfach ignoriert, und das war OK. Sonst ist nie etwas passiert, darüber bin ich froh.

Manche der gesuchten Neonazis sollen gewaltbereit sein. Macht dir das Sorgen?
Berlin ist meine Stadt, ich bin hier geboren und aufgewachsen. Ich kenne mein Viertel und die Leute und fühle mich deshalb sicher. Man kann nichts gegen Nazis tun und man weiß nie, was kommt. Wir sollten alle gut zusammenhalten, damit wir uns wohl fühlen können auf den Straßen. Wenn diese Leute von der Polizei gesucht werden, kann ich nur hoffen, dass man sie findet.

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