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true crime

Darum bleiben in Deutschland jedes Jahr mehr als 1000 Morde unentdeckt

Das sind fast dreimal so viele wie bisher in den Akten der Polizei stehen. Frankfurt versucht jetzt, das zu ändern.
Die Gerichtsmedizin bei einem Einsatz in Berlin | Foto: imago | Olaf Wagner 

Es gibt Morde, von denen erzählen sich Gerichtsmediziner immer wieder. Weil sie beinahe keiner bemerkt hätte. Der Eine: Ein Hausarzt hatte bei einer Leiche in München einen natürlichen Tod festgestellt. In der Brust der toten Frau steckte aber ein Küchenmesser mit schwarzem Griff – das war erst dem Bestatter aufgefallen. Bei einem ähnlichen Fall in Hannover stellte eine Ärztin als Todesursache Herzversagen fest. Später fand der Bestatter im Rücken der Leiche sechszehn Messerstiche.

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Die wohl bekanntesten Fälle zunächst unentdeckter Morde sorgten 2005 für Schlagzeilen: Damals beobachteten Kollegen, wie der Krankenpfleger Niels Högel die Spritzenpumpe eines Patienten auf der Intensivstation in Delmenhorst manipulierte, um ihm das Medikament Gilurytmal gegen Herzrhythmusstörungen zu verabreichen, ohne dass ein Arzt das angeordnet hatte. Die Polizei begann damit, Todesfälle zu untersuchen, bei denen er diensthabender Pfleger war. Daraufhin haben die Behörden in 332 Fällen Strafverfahren wegen Mordverdachts eröffnet. Für zwei Morde und zweifachen Mordversuch wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt, Ermittler gehen mittlerweile davon aus, dass er möglicherweise bis zu 106 Menschen umgebracht hat. Das wäre die schlimmste Mordserie der BRD.


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All die Fälle deuten auf ein riesiges Problem hin. "Die Praxis der ärztlichen Leichenschau in Deutschland ist bekanntermaßen schlecht", sagen Forscher der Universität Rostock. Sie untersuchten 10.000 Todesbescheinigungen zwischen 2012 und 2015. Im Herbst 2017 stellten sie ihre Ergebnisse vor: Nur 223 davon waren ohne Fehler. 27 Prozent wiesen mindestens einen schwerwiegenden Fehler auf, 50 Prozent enthielten mindestens vier leichte.

Rechtsmediziner schätzen, dass deswegen 1.000 Tötungsdelikte pro Jahr übersehen werden. Das wären dreimal so viele, wie derzeit in den Statistiken stehen: 2016 gab es in Deutschland 373 Morde. Die Stadt Frankfurt finanziert jetzt ein Pilotprojekt mit 100.000 Euro, damit immer ein Rechtsmediziner zum Einsatz kommt, wenn die Polizei zu einem Todesfall hinzugerufen wird. 7.000 Todesfälle gab es im letzten Jahr in Frankfurt, bei 935 wurde die Polizei eingeschaltet.

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Auch der Frankfurter Rechtsmediziner Marcel Verhoff hat einmal einen Mord entdeckt, eher zufällig. Unter einem Pflaster auf der Brust einer Leiche fand er eine Stichwunde. Der Frankfurter will die Leichenschau verbessern, wie auch viele seiner Kollegen. Verhoff nennt Gründe, warum die Leichenschau so schlecht funktioniert: Hausärzte, die das in aller Regel übernehmen, hätten eine gewisse "Scheu" vor der Leiche und wären von vornherein der Meinung, dass sich bei einer Leichenschau ohnehin nichts sehen lasse. Um eine Leiche vernünftig zu untersuchen, müsse sie ausgezogen werden, doch welcher Arzt traue sich schon, vor den trauernden Angehörigen eine Leiche zu entkleiden? "Die meisten Totenscheine werden am Küchentisch ausgefüllt", sagt Verhoff.

Die Forscher der Uni Rostock kommen zu dem Schluss: "Es sind keine Spezialisten am Werk. Wenn ein niedergelassener Arzt beispielsweise zweimal im Jahr zu einer Leichenschau gerufen wird, stellt sich bei ihm kaum eine Routine ein." Ohne entsprechende Schulungen können sie Würge- und Drosselmale leicht übersehen.

Der Gerichtsmediziner Günter Weiler sprach mit dem Spiegel über Gift- und Medikamenten-Morde, über deren Dimension im Land überhaupt nichts bekannt sei. Die Leichen wiesen keine Spuren auf. Die Dunkelziffer der Tötungsdelikte sei so hoch, dass "wir nicht einmal die Spitze des Eisbergs kennen".

Wird ein Mord erkannt, sind die Aussichten sehr gut, den Schuldigen zu überführen. 96,5 Prozent der Morde werden in Deutschland aufgeklärt, so die polizeiliche Kriminalitätsstatistik. Das Problem sind Fälle, bei denen ohnehin keiner genau hinsieht: Tote im Drogenmilieu, Tote ohne Obdach, alte und kranke Menschen. Wie die Toten von Niels Högel. Sie haben keine sichtbaren Verletzungen, ohne Obduktion lässt sich in den meisten Fällen nichts feststellen. Doch werden in Deutschland gerade einmal zwei Prozent der Leichen obduziert, in Skandinavien sind es 50 Prozent.

Nicht die Geschichten von Messern in Brustkörben, die erst im letzten Moment entdeckt werden, sind so erschreckend. Nicht die kuriosen Fälle, von denen sich Gerichtsmediziner in kleiner Runde erzählen. Das Problem sind die vielen Fälle, denen man gar nicht ansieht, dass es Mord ist.

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