Lindsay Suvannarath vor Gericht
Lindsay Souvannarath | Foto: Canadian Press | Andrew Vaughan

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Popkultur

Lindsay Souvannarath erzählt, wie sie einen Massenmord plante

Im Internet lernt die 23-Jährige James Gamble kennen. Sie wollen ihr erstes Mal miteinander haben, dann soll der größte Amoklauf in der Geschichte Kanadas folgen.

Alles beginnt mit einem Columbine-Meme.

Es ist ein Bild von den Leichen der beiden Attentäter, die 1999 in ihrer High School zwölf Mitschüler und einen Lehrer erschossen und schließlich Suizid in der Schulbibliothek begangen hatten. Die 23-jährige Lindsay Souvannarath schreibt unter das Foto "Ohne meine Freunde kann ich nicht leben", #Columbine. Die junge Frau postet ihr Werk aus ihrem Zuhause in Geneva, Illinois, auf Tumblr. Es ist Ende Dezember 2014, nur noch wenige Tage bis Weihnachten.

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Über 2.000 Kilometer Luftlinie entfernt, in Halifax am nordöstlichsten Zipfel Kanadas, scrollt der 19-jährige James Gamble durch Tumblr-Beiträge. Über den Columbine-Hashtag stößt er auf Souvannaraths Meme. Er favt das Bild und folgt ihrem Account. Sie folgt ihm zurück, schreibt ihn an.

Souvannarath und Gamble verstehen sich sofort, in kurzer Zeit entwickelt sich eine Online-Romanze. Sie schreiben sich täglich und wollen sich bald treffen. Sieben Wochen später steigt Souvannarath in ein Flugzeug nach Halifax. Sie und Gamble wollen zusammen den ersten Sex ihres Lebens haben und am nächsten Tag den schlimmsten Amoklauf der kanadischen Geschichte verüben.

In den offiziellen Gerichtsunterlagen wird der Plan des Paares so beschrieben: "Am 14. Februar 2015 würden sie zum Food-Court-Bereich des Halifax Shopping Centre gehen und dort Molotowcocktails werfen. Als Nächstes hätten Gamble und Souvannarath wahllos auf die anwesenden Menschen geschossen. Gamble hätte die Verwundeten mit einem Jagdmesser umgebracht. Ihr Ziel war es, so viele Menschen zu töten, wie ihre Munition ihnen erlaubte."

Danach hätten sich Souvannarath und Gamble selbst getötet. Auf drei. Eine Hommage an Columbine.

Dazu sollte es nie kommen. Ihr Plan wurde von einem anonymen Tipp vereitelt. Souvannarath, heute 27 Jahre alt, verbüßt eine lebenslange Haftstrafe in Kanada. Gamble lebt nicht mehr. Jetzt hat sich Lindsay Souvannarath zum ersten Mal dazu entschieden, öffentlich über alles zu sprechen. Für den kanadischen True-Crime-Podcast Nighttime gab sie Moderator Jordan Bonaparte ein ausführliches Interview.

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"Sie hat sich nicht zurückgehalten, sie hat einfach ihre Geschichte erzählt", sagt Bonaparte über sein Gespräch mit der verhinderten Amokläuferin. "Einige der Sachen, die sie gesagt hat, manche fast beiläufig, haben mir die Haare zu Berge stehen lassen. Zwischendurch hatte ich Angst, jemals wieder ein Einkaufszentrum zu besuchen. Für sie schien das alles keine große Sache zu sein."

Unter Nazis und Amokläufer-Fans findet sie Freunde

Ohne Internet wäre das alles undenkbar gewesen: Hier lernten sie sich kennen, tauschten sich über ihre düsteren Fantasien aus und planten per Messenger-App einen Amoklauf.

Offline fiel es Souvannarath schwer, Freunde zu finden. Deshalb verbrachte sie umso mehr Zeit online. Dort, unter anderen Außenseitern, fühlte sie sich verstanden. Extreme Ideologien und Einstellungen faszinierten sie. Mit der Zeit verfestigten sich ihre brutalen Fantasien. Im Internet konnte die US-amerikanische Tochter eines laotischen Vaters und einer osteuropäischen Mutter zu einem überzeugten Neonazi werden.

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Eine von Souvannaraths Neonazi-Zeichnungen

"Meine Nazi-Einstellung ist eher zufällig entstanden. Ich bin auf dieser Kunstseite auf ein Gemälde gestoßen, das ich wirklich cool fand. Also habe ich es kommentiert und ein bisschen mit dem Künstler gesprochen", sagt Souvannarath im Interview mit Bonaparte. "Der Künstler stellte sich als Nationalsozialist heraus."

Da war sie 16. Sie folgte dem Künstler und fing an, sich mit seinen Ansichten und Neonazi-Kunst zu beschäftigen. Sie kam mit immer mehr Neonazis in Kontakt, freundete sich mit ihnen an und verbrachte viel Zeit in Online-Communitys, in denen Hass zelebriert wird.

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"Als ich anfing, das Columbine-Tag zu posten und mit Gleichgesinnten zu interagieren, fand ich viele neue Freunde, mit denen ich unglaublich viel gemein hatte." – Lindsay Souvannarath

Nach und nach adaptierte sie die Ideologie und wurde schließlich Mitglied in einem der berüchtigtsten Neonazi-Foren überhaupt: Iron March. Hier führte sie anscheinend eine Online-Beziehung mit dem Gründer der Seite, dem einflussreichen Neonazi Alexander Slavros. In dem Podcast beschreibt Souvannarath die Beziehung als "richtig dumme, oberflächliche Geschichte, die ich wahrscheinlich ernster genommen habe, als ich sie hätte nehmen sollen". Wenn sie im Interview von dieser Beziehung erzählt, generell von ihrem offenbar unerfülltem Liebesleben, wird ihre sonst so gelassene Stimme plötzlich brüchig.

Ihren Tumblr-Blog taufte sie Cockswastika, "Schwanzhakenkreuz", und teilte darauf faschistische und gewaltverherrlichende Inhalte.

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Die Homepage ihres Blogs "Cockswastika"

Zur gleichen Zeit schrieb Souvannarath morbide Kurzgeschichten, einige wurden bekannte Creepypastas, wie online geteilte Gruselgeschichten auch heißen. In einer dieser Geschichten wollte sie einen Amoklauf einbauen und so begann sie, sich mit Columbine zu beschäftigen. Der Massenmord hinterließ einen bleibenden Eindruck bei ihr. Und wieder fand sie eine Internetgemeinschaft, die ihre Faszination teilte: die sogenannten Columbiners.

"Als ich anfing, das Columbine-Tag zu posten und mit Gleichgesinnten zu interagieren, fand ich viele neue Freunde, mit denen ich unglaublich viel gemein hatte. Diese eine Sache verband uns alle, aber es gab auch noch andere Dinge. Es wurde einfach sehr wichtig für mich."

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Offline hielt sich Souvannarath mit ihrer Faszination für Massenmörder und ihrer neonazistische Gesinnung eher zurück. Ihre Familie beschrieb sie laut Gerichtsunterlagen als jemanden, der "manchmal übertriebenermaßen Regeln gehorchte". Offen rebelliert habe sie nie. In einem Brief an den Richter schreiben ihre Eltern, dass Souvannarath in der ersten Klasse von einer Lehrerin vom Amoklauf in Columbine erfahren hatte. Danach habe sie tagelang nicht mehr alleine einschlafen können. Souvannarath habe außerdem sehr darunter gelitten, einen laotischen Vater und eine osteuropäische Mutter zu haben. Anders auszusehen habe ihr Gefühl verstärkt, eine Außenseiterin zu sein.

Trotz ihres hohen IQs, so schreiben die Eltern, fehle es ihrer Tochter an emotionaler Reife. In vielerlei Hinsicht würde sie sich wie ein Kind verhalten. Sie lebte nach dem College wieder bei ihren Eltern. Einen Job hatte sie nicht. Bis heute glaubt ihre Familie nicht, dass ihre Tochter ihren Plan jemals in die Tat umgesetzt hätte.

"Sie ist fast eine andere Person. Ich glaube, wenn sie und Gamble ihre Tat am Telefon und nicht über den Facebook-Messenger geplant hätten", sagt Bonaparte, "wäre wahrscheinlich nichts davon passiert."

Von Sexting zum Amoklauf

James Gamble hatte einen ähnlichen Pfad eingeschlagen. Der 19-Jährige aus Halifax begeisterte sich ebenfalls für Nazis und bewunderte die Columbine-Attentäter. Ihre Unterhaltungen hätten rein freundschaftlich begonnen, sagt Souvannarath. Gamble habe schon bald Gefühle für sie gezeigt, sie habe am Anfang nur mitgemacht. Als dann aber der Plan für das Treffen und den Amoklauf aufkam, begann Souvannerath "sich stark zu ihm hingezogen zu fühlen".

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James Gamble

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"Wir unterhielten uns anfangs über unsere Klamotten und darüber, dass wir gerne Sachen tragen, die andere einschüchtern. Ich fragte ihn, ob er Orte habe, an denen er regelmäßig abhängt, damit ich dort auftauchen kann und die Leute denken: 'Oh Gott, jetzt sind da zwei von der Sorte'", erzählt Souvannarath. "Es war mehr oder weniger seine Idee, den Anschlag in diesen Anziehsachen auszuüben. Ich stimmte ihm zu."

In den siebeneinhalb Wochen bis zum Treffen schreiben sie jeden Tag über den Facebook-Messenger miteinander, manchmal stundenlang. Ihre Beziehung spielt sich fast ausschließlich in Chats ab. Sie schicken sich Fotos, anzügliche Nachrichten und planen ihren Amoklauf.

Bonaparte, der das komplette Chatprotokoll gelesen hat, findet die Entwicklung ihrer Beziehung bemerkenswert: Souvannarath sei sehr schnell von einem "Oh, ich finde dich irgendwie süß" zu "Ja, ich steige in einen Flieger und mit den Waffen deiner Eltern bringen wir uns um – wie die Typen von Columbine" gewechselt. Beide schienen schon lange nur auf diesen Moment gewartet zu haben.

In den Wochen vor dem Februar 2015 muntern Souvannarath und Gamble sich gegenseitig auf. Sie chatten nicht nur über den Plan selbst, sondern auch darüber, wie berühmt sie damit würden. Souvannarath scheint immer mehr den Bezug zur Realität zu verlieren: Sie ist davon überzeugt, dass die Geister der Columbine-Attentäter von ihren Körpern Besitz ergriffen haben.

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"Ich glaubte, dass die Seele von Eric H. irgendwie in meinem Körper wohnte. Je mehr Zeit wir mit der Planung verbrachten, desto mehr ergriff sie Besitz von mir", sagt Souvannarath.

Erst Sex, dann Massenmord

Souvannarath und Gamble diskutieren den Schauplatz ihres Massenmords. Die Bibliothek ist im Gespräch, aber das wäre zu sehr wie Columbine gewesen. Eine Grundschule? Würde die falsche Message senden. Ein Krankenhaus? Souvannarath ist nicht komplett abgeneigt, aber findet es letztendlich sinnlos. Schließlich entscheiden sie sich für das Einkaufszentrum. Sie versprechen sich davon "den größten Spaß", außerdem wäre es laut Souvannarath "ein Protest gegen Kapitalismus, Konsum und Gier" gewesen. Das Einkaufszentrum hätte es ihnen dazu erlaubt, ihre "idealen Opfer" zu finden: "christliche Frauen mittleren Alters" für Gamble; "alle, die besonders missgebildet aussehen" für die von Sozialdarwinismus und Eugenik besessene Souvannarath.

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Ein typischer Post auf Lindsay Souvannaraths Blog

Für die Tat wollen sie die Waffen von Gambles Eltern verwenden. Er selbst will seine Mutter und seinen Vater am Abend vor Souvannaraths Ankunft umbringen. Souvannarath will in Halifax bei Gamble übernachten. Sie wollen den ersten und letzten Sex ihres Lebens haben, sich gegenseitig entjungfern, bevor sie am nächsten Tag den Food-Court des Einkaufszentrums in Brand setzen und wahllos auf Menschen schießen. Gambles bester Freund Randall S. will sie dabei unterstützen. Für seine Rolle sitzt er momentan eine zehnjährige Haftstrafe ab. Die drei hofften, andere zu ähnlichen Taten zu motivieren und einen Kultstatus wie den der Columbine-Attentäter zu erreichen.

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Noch wichtiger als die Einzelheiten des Tatablaufs scheint beiden die Ästhetik zu sein, die Kleidung, die sie tragen werden und die Message, die sie damit verbreiten wollen. Ihre Outfits planen sie penibel. Sie sollen eine Hommage an die Columbine-Täter sein, aber ihnen gleichzeitig eine eigene Identität verleihen.

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Das T-Shirt und die Skinny-Jeans, die Souvannarath beim Amoklauf tragen wollte

Dann müssen sie sich für ein Datum entscheiden. Ihre erste Wahl fällt auf den 1. Februar 2015, aber weil Souvannarath zu lange gewartet hat, sind die Flugtickets zu teuer geworden. Gamble schlägt schließlich den Valentinstag vor. Das würde der Tat eine besondere Ebene verleihen. Souvannarath stimmt zu und bucht sich einen Platz.

Der Plan scheitert, als die Umsetzung beginnt

Wie bei einer kruden Schnitzeljagd hinterlässt das Paar im Internet Hinweise auf den geplanten Amoklauf. Am bekanntesten dürfte ein Foto der beiden sein: Gamble mit Scream-Maske, Souvannarath mit Totenkopf-Bandana über Mund und Nase. Dazu die Worte: "Valentine's Day it's going down" – "Am Valentinstag ist es so weit".

Souvannarath verfasst einen Abschiedsbrief mit der Überschrift "Der Untergang". Der Brief soll automatisch einen Tag nach dem Massaker gepostet werden. Er beginnt mit: "Vielleicht hast du schon die Nachricht von dem Massenmord in Halifax gehört".

Aber Souvannarath und Gamble treffen sich nie.

Ihr Plan zerbröckelt, als sie ihn in Bewegung setzen. Die beiden sind, um es diplomatisch auszudrücken, miserable Kriminelle. Sie halten ihr Vorhaben nicht besonders geheim, prahlen sogar vor diversen Menschen damit. Schließlich geht ein anonymer Hinweis bei der Polizei ein. Souvannarath schafft es zwar, sich aus dem Elternhaus zu schleichen und in einen Flieger nach Halifax zu steigen, allerdings hat sie anscheinend nicht damit gerechnet, ohne Rückflugticket und mit so gut wie keinem Gepäck die Aufmerksamkeit der kanadischen Behörden auf sich zu ziehen. Als die Grenzbeamten sie befragen, weiß sie nicht, was sie sagen soll.

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"Die habe meine Sachen durchsucht und ihnen gefiel nicht, was ich bei mir hatte. Sie mochten meine Bücher nicht, sie mochten die Mütze mit dem Hakenkreuz nicht", sagt Souvannarath. "Dann kam die Polizei und nahm mich fest, weil ich Drohungen ausgesprochen hatte."

Gamble ist zu diesem Zeitpunkt bereits tot.

Während Souvannarath im Flieger nach Halifax saß, war die Polizei zu Gambles Haus gefahren, um ihn wegen des anonymen Tipps zu befragen. Die Beamten umstellten das Haus und forderte ihn auf, nach draußen zu kommen. Gamble sagte, dass er kooperieren und rauskommen würde. Dann erklang von drinnen ein Schuss. Als die Polizei das Haus betrat, stellten die Beamten fest, dass er Suizid begangen hat. Seine Eltern hatte er nicht getötet. Es kursieren Gerüchte, dass es Gamble selbst gewesen war, der den anonymen Tipp abgegeben hat. Freunde sagen, dass er depressiv gewesen sein soll.

Vom Tod ihres Online-Partners erfährt Souvannarath, als sie den Polizisten auf eine Frage antwortet: "Keine Ahnung, fragt James."

"Der hat sich den Kopf weggeschossen", entgegnet ein Beamter.

Der folgende Prozess schlug in Nordamerika große Wellen. Souvannarath musste sich für Verschwörung zum Mord, Verschwörung zur Brandstiftung, illegalen Waffenbesitz zu gefährlichem Zweck gegen die Öffentlichkeit und Drohungen in den sozialen Netzwerken verantworten. Der vom Gericht beauftragte Psychiater attestierte Souvannarath eine schwere Depression, die sie höchstwahrscheinlich schon vor dem Fall gehabt hat.

Lindsay Souvannarath bekannte sich in allen Punkten schuldig, zeigte keinerlei Reue und wurde im April 2018 zu lebenslanger Haft verurteilt – die ersten zehn Jahre ohne Aussicht auf Bewährung. Diesen Februar ist die Souvannarath in Berufung gegangen.

Den Nighttime Podcast kannst du hier hören.

Notrufnummern für Suizidgefährdete bieten Hilfe für Personen, die an Suizid denken – oder sich Sorgen um einen nahestehenden Menschen machen. Die Nummer der Telefonseelsorge in Deutschland ist: 0800 111 0 111. Hier gibt es auch einen Chat. Trauernde Angehörige von Menschen, die Suizid begangen haben, finden bei Organisationen wie Agus Hilfe.

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