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Popkultur

Warum die Medien-Trauer um Karl Lagerfeld heuchlerisch ist

Früher war ich ein großer Fan von ihm. Dann hat er die Kontrolle über sein Leben verloren.
Lagerfeld
Foto: imago | Schwörer Pressefoto || Montage: VICE

Für mich war er immer schon da. Und manchmal dachte ich, er würde es auch immer sein. Über 60 Jahre lang arbeitete Karl Lagerfeld in der Mode und seit ich denken kann, war er Chefdesigner bei Chanel. Eine Modewelt ohne "Karl"? Unvorstellbar.

Nun ist er weg. Und die großen Medienhäuser, Promis, Modemenschen betrauern seinen Tod. Melania Trump und Christian Lindner twittern ihren Respekt, Claudia Schiffer und Diane Kruger instagrammen ihre Dankbarkeit. Die Zeit bezeichnet ihn als den "letzten Superstar der Mode". Die deutsche Vogue schreibt einen Nachruf auf "den größten Mode-Revolutionär unserer Zeit" und der Spiegel zitiert den Designer Michael Michalsky: "Karl, das war viel zu früh!".

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Während die meisten Medien Lagerfelds Lebenswerk preisen, seine "schönsten Kollektionen" in Dauerschleifen zeigen, verstaubte Interviews reposten und das tun, was sie zu Lagerfelds Lebzeiten schon getan haben – ihn hofieren –, denke ich mir: Was ist mit dem ganzen Bullshit, den er von sich gegeben hat? Seine polemischen Aussagen gegen Flüchtlinge und "dicke Frauen", seine Verharmlosungen von sexuellen Übergriffen?

Fast alle Berichte über Lagerfelds Tod reflektieren sein Genie, seinen Einfluss auf die Mode, seine Vita. Nur die ungepuderte Seite Lagerfelds, die fehlt.

Karl Lagerfeld war lange mein Idol. Ich schaute zu, wie er für Arte seine Kindheit, seine Eltern und seine Entwürfe skizzierte, mit denen er früher bei einem Wettbewerb gegen Yves Saint-Laurent angetreten war. Oder wie er Markus Lanz bei Markus Lanz ganz beiläufig mit genuschelten Weisheiten entwaffnete. Mein Studium an einer Mode-Uni begann ich auch wegen ihm und meine erste Vogue war eine Spezialausgabe über Lagerfeld und eine Ausstellung seiner Skizzen, "Modemethode", die ihm die Bundeskunsthalle in Bonn widmete. Lange hatte diese Vogue einen Ehrenplatz in meinem sonst sehr Vogue-armen Bücherregal.


Auch bei VICE: So habe ich mich an die Spitze der Paris Fashion Week gemogelt


Wer Karl Lagerfeld kennt, kennt auch seine Sprüche. Eigentlich. Seine Sticheleien, die man als Lagerfeld-Nerd gerne mal als harmlose Provokation abheftet. "Ich bin im Grunde harmlos. Ich sehe nur nicht so aus", sagte er mal im Zeitmagazin. Man fand es lustig, als er bei Johannes B. Kerner gegen Heidi Klum wetterte. Die kenne er ja nicht, und die Claudia kenne sie auch nicht und in Paris sei sie ja nie gewesen. Klassiker. Schmunzeln musste man vielleicht auch, als er kurz darauf Seals Hautbeschaffenheit als "Kraterlandschaft" bezeichnete. Aber was, als es krasser wurde?

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Als er sagte, dass "dicke Frauen" nicht auf den Laufsteg gehörten? Als er sexuelle Übergriffe als Styling-Routinen verharmloste? Als er Geflüchtete als die "schlimmsten Feinde" der Juden bezeichnete? Was ist, wenn aus Karl dem Großen auch mal Karl die Dreckschleuder wird?

Mir geht es nicht darum, jemanden nach seinem Tod zu diskreditieren. Vielmehr geht es um die einseitigen, fast schon naiven Trauerberichte. Karl Lagerfeld, ein Ritter in weißem Hemd und schwarzen Anzug. Ein Bild, das sich die Modewelt in die geschminkten Augen brennen will.

So lange sich Lagerfeld sein Leben schon der Schönheit verschrieben hat, so oft zog er auch eine klare Grenze zur Hässlichkeit. Die Message dahinter: Wer schön ist, ist nicht dick.

In einer Industrie, die Schönheitsideale mit wenigen Kollektionen revolutionieren kann, stand Lagerfeld immer auf der Seite der Schlanken. Als 2009 eine Debatte über dünne Models ausbrach und sich die Brigitte entschied, nur noch "normale Frauen" und keine Models mehr zu fotografieren, kommentiere Lagerfeld im Focus: "Da sitzen dicke Muttis mit der Chips-Tüte vorm Fernseher und sagen, dünne Models sind hässlich."

Auch Jahre später ändert Lagerfeld seine Meinung nicht. 2012 sagte er, ein großer Adele-Fan übrigens, dass die Sängerin "ein bisschen zu fett" sei. Aber sie habe ein schönes Gesicht. 2013 sagt er im französischen Fernsehen, dass "keiner im Publikum dicke Frauen sehen" wolle. Übergewichtige würden außerdem der Gesellschaft zur Last fallen. "Das Loch in den Sozialkassen kommt auch von Krankheiten, die sich zu dicke Leute eingefangen haben." Die Vorsitzende der französischen Vereinigung "Belle, Ronde, Sexy et je m'assume" (zu Deutsch: "Schön, rund, sexy – ich steh' zu mir") zeigte ihn daraufhin wegen Diffamierung und Diskriminierung der Gemeinschaft von Frauen mit Rundungen an.

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In den Nachrufen auf den Designer werden seine verschrobenen Schönheitsideale, wenn überhaupt, nur auf Pausenhof-Lästereien reduziert. Sticheleien, über die man augenzwinkernd hinwegschaut. Dass sich der Mann in seiner Stellung als "Modezar" mit seinen Statements gegen eine körperpositive Modewelt stemmte, wird nicht thematisiert. Zu groß ist der Respekt vor dem Tod, vor dem Werk. Lagerfelds Hemdkragen soll weiß bleiben.

Auch für seine Aussagen zur #MeToo-Debatte wurde Lagerfeld kritisiert. Im Interview mit dem Magazin Numéro sagte er: "Ich habe es satt." Er sei schockiert über die Starlets, "die 20 Jahre gebraucht haben, um sich zu erinnern, was passiert ist". Lagerfeld habe "irgendwo gelesen", dass man nun Models fragen müsse, ob sie sich wohl fühlen beim Posieren. "Es ist unglaublich. Wenn du nicht willst, dass an deiner Hose rumgezogen wird, werde kein Model! Tritt einem Kloster bei, es wird immer einen Platz für dich im Kloster geben. Sie rekrutieren sogar!"

Viele Frauen kritisierten Lagerfeld für diese Aussage, darunter Victoria's-Secret-Model Bridget Malcom und die Schauspielerin Rose McGowan, eine der ersten Frauen, die Harvey Weinstein sexuelle Übergriffe vorwarfen. Sie nannte Lagerfeld auf Instagram einen "frauenfeindlichen Dinosaurier".

Die deutsche Vogue veröffentlichte Auszüge des kontroversen Interviews und schnürte die Statements zu folgendem Themenpaket: Ein bisschen etwas über Lagerfelds "unverändert hohen Workload", ein paar Gedanken zu Frankreichs First Ladys und Feindschaften in der Modewelt. Das Thema #MeToo wird in sechs Zeilen unkommentiert abgehandelt, die kontroverse Aussage, Models mögen ins Kloster gehen, wenn sie nicht angefasst werden wollen, gar nicht erst zitiert. Stattdessen darunter ein weiterer Artikel: "Karl Lagerfeld mit Bart – eine Vogue-Redakteurin kommentiert den Look."

Vielleicht ist es einfach so, dass sich Modejournalisten und Modejournalistinnen mehr für Gesichtsbehaarung interessieren, als dass Karl Lagerfeld sexuelle Übergriffe als "normal" im Fashion Business verharmlost. Vielleicht führte auch der enorme Hype um Lagerfeld zu einer Art Immunität, blöde Sprüche reißen zu können. Die Mode hat ihn schließlich hochleben lassen, was würde passieren, wenn er fallen würde?

Karl Lagerfeld war seine eigene Karikatur, so sagte er immer. Seine Sprüche waren Teil seiner Figur – und für viele auch der Grund, ihn als Exzentriker zu glorifizieren. Niemand verlangt, ihn in einem Nachruf zu zerreißen. Man kann ihn als Genie bezeichnen oder mit Königen vergleichen. Aber es ist heuchlerisch, wenn man nur eine Seite zeigt.

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