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Popkultur

Mein Freund war ein aufstrebender Comedian, dann kam raus, dass er Kinderpornos guckt

Ich bin sauer, ich fühle mich verraten, aber: Ich habe auch Mitleid mit ihm. Darf ich das?
Ein Foto von einem Auftritt eines Comedians. Die Person ist geschwärzt
Foto: Graham Isador

Der Comedy-Abend lief schleppend. Meine Kolleginnen und Kollegen kamen schlecht vorbereitet auf die Bühne und nuschelten sich unmotiviert durch halbgare Anekdoten. Das Publikum strafte uns mit steinernen Mienen. Aber dann war Walter dran und alles wurde anders.

Er kam mit ausgebreiteten Armen von hinten durch den Saal gelaufen und klatschte die ersten beiden Sitzreihen ab, bevor er die Bühne betrat. Das übrige Publikum begrüßte er mit einem strahlenden Lächeln. Der Saal lebte auf. Leute lachten schon, bevor Walter seinen ersten Witz erzählt hatte. Die Stimmung hatte sich komplett verändert. Die nächsten zehn Minuten trug Walter ein mitreißendes und urkomisches Comedy-Set über Hänseleien in der Schule vor. Sein Auftritt war meisterhaft aufgebaut und vollgepackt mit Selbstironie und schlauen Betrachtungen. Das Publikum krümmte sich vor Lachen. Ich verstand sofort, warum Walter an diesem Abend Headliner war. Nach dem Auftritt stellte ich mich vor und wir wurden Freunde.

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Walter war auf der Bühne so herzlich wie im richtigen Leben. Er gehörte zu der Sorte Mensch, die dir ohne Jammern beim Umzug hilft. Er hörte aufmerksam zu und bewarb Veranstaltungen, in die er nicht involviert war. Bei einem Auftritt beschrieb er sich einmal als den nettesten Kerl der ganzen Comedy-Branche. Eigentlich eine komische Behauptung, bei ihm entsprach sie allerdings ziemlich genau der Wahrheit. In einer Szene, in der Verbitterung und Feindseligkeiten die deprimierende Norm sind, war Walter allseits beliebt. Man gönnte ihm seinen Erfolg, man wünschte ihm aus tiefstem Herzen, dass er erfolgreich ist.

Neben einer Burger-King-Werbung war eine Polizeimeldung zu sehen. Darin tauchte Walters Name auf.

In den zwei Jahren, die wir uns kannten, erarbeitete sich Walter lukrative kommerzielle Auftritte, Rollen in Independent-Filmen und Vorsprechen bei großen Filmproduzenten. Walter schien einer dieser seltenen Fälle zu sein, in denen ein netter Kerl seinen wohlverdienten Erfolg feiert. Auch deswegen war es so ein Schock, seinen Namen in den Lokalnachrichten zu sehen.

Walter war wegen des Besitzes kinderpornografischen Materials angeklagt worden.

Ich erfuhr es von einem Bildschirm auf einem U-Bahnsteig. Neben einer Burger-King-Werbung war eine Polizeimeldung zu sehen. Darin tauchten Walters eigentlicher Name, sein Alter und seine Wohngegend auf. Die Meldung informierte mich, dass Walter auf Missbrauchsdarstellungen von Kindern zugegriffen, sie besessen und verbreitet hatte. Dann wechselte das Bild zur nächsten Meldung. Falls du dich gerade wunderst, ich lebe in Kanada: Hier läuft das mit dem Datenschutz ein bisschen anders.

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Beim Schreiben dieses Artikels habe ich mich gefragt, ob ich Walters echten Namen verwenden soll. Am Ende entschied ich mich dagegen. Der Grund dafür ist ganz einfach: Die Verwendung seines echten Namens hätte Probleme für Menschen aus seinem früheren Umfeld mit sich bringen können – für Familienmitglieder oder Ex-Partnerinnen zum Beispiel. Nur weil ich mich entschieden habe, über diese Sache zu reden, heißt das nicht, dass sie das auch müssen.


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Zuerst ging ich von einem Fehler aus, einer Verwechslung vielleicht. Ich konnte einfach nicht die Person, die ich kannte, mit den Taten verbinden, die ich auf dem Bildschirm gesehen hatte. Das war er nicht. Das konnte er nicht sein. Walter war der Kumpel, den du angerufen hast, wenn du mit dem Auto irgendwo liegengeblieben warst. Er war der Comedian mit dem besten Kopfläuse-Witz. Er war der Typ, der lustige Geschichten über Wrestling und Apfelsorten erzählen konnte. Vor allem aber war Walter mein Freund.

Als ich aus der U-Bahn nach oben auf die Straße ging, raste mein Herz. Ich überlegte, Walter direkt anzurufen, aber als ich seinen Namen in meiner Kontaktliste eingeben wollte, konnte ich einfach nicht. Stattdessen checkte ich seine Social Media Profile. Sie waren alle abgeschaltet. OK, kein gutes Zeichen.

Ich begann, Nachrichten an unsere gemeinsamen Freunde zu schreiben. Sobald ich zu tippen begonnen hatte, hörte mein Telefon nicht mehr auf zu brummen. Hast du schon gehört? Weißt du, was da los ist? Ist das wahr? Wir alle versuchten, irgendeinen Sinn aus der Nachricht zu ziehen, gingen alle Möglichkeiten durch. Schließlich bestätigte jemand, die schlimmsten Befürchtungen. Ja, es war er. Ja, er war verhaftet worden. Mir wurde schlecht und ich wartete auf eine Erklärung. In gewisser Weise warte ich darauf bis heute.

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Die Monate danach waren geprägt von Spekulationen. Was genau war auf seinem Computer gewesen? Was ist mit seiner Freundin? Muss Walter ins Gefängnis? Jemand sagte mir schließlich, dass er gestanden habe und unter strengen Auflagen wieder bei seinen Eltern wohne. Die genauen Details habe ich nie erfragt. Die Leute brachten ihre Gefühle unterschiedlich zum Ausdruck. Comedians rissen Witze. Geschäftsleute beklagten, dass sie ganze Kampagnen einstampfen mussten. Andere wiederum sprachen einfühlsam über die Opfer solcher Missbrauchsdarstellungen. Der Begriff "Pädophiler" fiel häufig. Auch wenn die Bezeichnung angemessen ist, sträubte sich jedes Mal alles in mir, wenn ich jemanden das Wort sagen hörte.

Walter ist ein Pädophiler.

Ich konnte es einfach nicht glauben. Aber es war die Wahrheit. Es war nur einer von vielen widersprüchlichen Gedanke, die in meinem Kopf umhergeisterten.

Sobald dieses Mitleid in mir aufkam, ekelte ich mich vor mir selbst.

Ich kenne die Einzelheiten seines Vergehens nicht und ich weiß nicht, ob auch andere betroffen waren. Ich weiß allerdings, dass Walter seinen Trieben nachgegeben hatte. Er hatte eine schreckliche Entscheidung getroffen, die sein Leben für immer verändert hat. Die Konsequenzen, denen er sich ausgesetzt sah, waren Nichts im Vergleich zu dem, was die Kinder durch die Darstellungen durchmachen mussten, die er konsumiert hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sein Handeln ihre Leben beeinflusst hat, welche Schäden sie dadurch davongetragen haben. Die emotionalen Konsequenzen für Walter konnte ich mir allerdings vorstellen. Was er getan hat, war schrecklich. Und damit zu leben, bedeutete das Ende von allem, was bis dahin gewesen war.

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Innerhalb weniger Tage war er vom beliebten und hoffnungsvollen Comedy-Newcomer zu einer der meistgehassten Gestalten der Stadt geworden. Er verlor seine Freunde. Er bekam keinen Job mehr in seinem Bereich – oder irgendwo anders. Er muss sich extrem einsam gefühlt haben. Auch wenn er das alles verdient hat, spürte ich in mir immer noch Mitleid. Und sobald dieses Mitleid in mir aufkam, ekelte ich mich vor mir selbst. Dieser Ekel wiederum fütterte meine Wut auf Walter.

Ich verstand alle, die wütend waren. Auch wenn nicht jeder Pädophile Kinder missbraucht oder seinen Trieben in irgendeiner Weise nachgeht, hatte Walter Material runtergeladen, für das einige der verletzlichsten Mitglieder unserer Gesellschaft ausgenutzt und missbraucht worden waren. Freunde hatten ihn in die Nähe ihrer Kinder gelassen. An ihrer Stelle wäre ich noch viel wütender gewesen. Ich verstand, warum Menschen sich hintergangen fühlten. Walter hatte sich selbst den Titel des freundlichsten Comedians verpasst, und wir alle hatten ihm geglaubt, ihn für Shows gebucht und die Bühne mit ihm geteilt. Jetzt das?

Neben dem Zorn herrschte auch Verzweiflung. Der Fall brachte in manchen Menschen schreckliche Erinnerungen hoch. In anderen hatte er das Grundvertrauen erschüttert. Und ich verstand sie alle, ich konnte ihre Gefühle nur zu gut nachvollziehen. Trotzdem gab es noch einen Teil von mir, der unfassbares Mitleid mit Walter hatte.

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Egal, was Walter getan hat: Es gibt auch noch die guten Erinnerungen mit ihm.

Auf ein hypothetisches Szenario lässt sich leicht reagieren. Wenn du mir sagen würdest, ein Fremder würde Kinderpornografie runterladen, würde ich diese Person sofort als Monster abstempeln. Ich kann mir kaum etwas Verabscheuungswürdigeres vorstellen. Wenn es sich dabei aber um eine Person aus deinem Bekannten- oder sogar Freundeskreis handelt, wird die Sache komplizierter. Das macht die Tat nicht entschuldbarer. Überhaupt nicht. Aber egal, was Walter auch getan hat, es gibt auch noch die guten Erinnerungen mit ihm. Der Täter hier war kein gewissen- und reueloser Bösewicht. Der Täter war ein Mensch mit Nuancen. Ich weiß nicht, ob es das besser oder schlimmer macht.

Seit dem Vorfall habe ich probiert, meine Gefühle zu sortieren, die ich für Walter und seine Handlungen hatte. Irgendwann war es einfach zu viel. Es gab nichts, was ich tun konnte, anstatt mein Leben irgendwie weiterzuleben. Wenn da zwei Dinge nicht gewesen wären.

Monate nach dem Vorfall bekam ich eine E-Mail von Walter. Er entschuldigte sich für die Auswirkungen, die seine Taten vielleicht auf mein Leben gehabt hatten. Falls ich mich auf einen Kaffee treffen und ihn irgendwas fragen wolle, würde er mir zuhören. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Schließlich fragte ich, wann wir uns treffen wollen. Ob ich tatsächlich zum Treffen auftauchen würde, war eine andere Frage, aber immerhin bot sich hier eine Gelegenheit, die Sache abzuschließen. Nach zwei weiteren E-Mails, in denen es nur noch um Ort und Zeit ging, verlor sich unser Vorhaben.

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Ein paar Wochen später bekam ich einen Anruf. Es war mein Freund Peter, eine lokale Comedy-Größe. Peter, dessen Namen ich ebenfalls geändert habe, klang verstört, redete schnell und atmete schwer. Er war gerade Walter begegnet. Sie hatten an einer Fußgängerampel gewartet, Walter auf der gegenüberliegenden Seite. Peter beschrieb die Gefühle, die ihm in der Situation durch den Kopf gingen. Er hat selbst ein Kind, was Walters Verbrechen noch ungeheuerlicher für ihn macht. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, Walter körperlich wehzutun. Ihm zur Bestrafung für seine Taten ernsthaft Schmerzen zuzufügen. Dann spielte er mit dem Gedanken ihm auf der Straße nachzulaufen und laut hinterherzurufen, was er getan hatte, damit alle wissen, dass sich ein Pädophiler unter ihnen befindet. Am Ende tat Peter was ganz anderes.

Als die Ampel auf Grün sprang und beide aufeinander zu gingen, versuchte Walter, sich so klein wie möglich zu machen. Mit gekrümmtem Körper, hochgezogenen Schultern und gesenktem Kopf lief er los. Als sich beide für einen kurzen Moment auf der gleichen Höhe befanden, drehte sich Peter zu Walter und sagte: "Hey, wir alle wollen nur, dass du die Hilfe bekommst, die du brauchst." Walter nickte und ging weiter.

Peter entschuldigte sich für den Anruf. Er habe nur wissen wollen, ob er meiner Meinung nach das Richtige getan habe. Er wollte wissen, ob er irgendetwas hätte anders tun sollen. Ich sagte ihm, dass ich es nicht wisse. Ich weiß es immer noch nicht, aber ich denke ständig darüber nach.

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