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DIE LITERATURAUSGABE 2014

Die Literaturausgabe 2014: Samanthas Lösegeld

Merrill Markoe war die erste Chefautorin der David Letterman Show. Jetzt hat sie eine Kurzgeschichte für uns über die Entführung eines YouTube-süchtigen Mädchens geschrieben.

Fotos von Levi Mandel

Samantha ging auf Youtube und klickte auf „Videoantwort posten“. „Hi“, sagte sie nach dem Countdown und stellte kurz sicher, dass ihre Kopie von Meister der Verzweiflung: Das große Buch der Philosophie auf der Seite mit dem Schopenhauer-Zitat offen war, in dem es darum ging, dass sein Leben zu beenden so ist, als „wache man von einem schrecklichen Albtraum auf“.

„Ich bin’s … Ich habe gerade 40 Ambien in dieser Flasche Jack Daniels aufgelöst. In ein paar Minuten werde ich in den Ozean waten. Macht euch nicht die Mühe, nach mir zu suchen. Es ist Flut. Vier Meter hohe Wellen … Als würde es jemanden kümmern, was ich mache.“

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Dann klickte sie auf „Upload“.

Sie überlegte noch, ob sie ihren Matrosenmantel anziehen sollte, denn die Nächte in San Francisco waren bitterkalt, als sie ein Geräusch hörte und etwas Feuchtes an ihrer Nase und ihrem Mund spürte.

„Was zum Teufel“, sagte sie, als es um sie herum dunkel wurde. Wie hatte sie es geschafft zu ersaufen, ohne das Haus zu verlassen?

Der Kriminalbeamte, der um 5 Uhr morgens kam, sah nicht viel älter aus als Samanthas Freunde. (Nicht dass Samantha je mit einem Typen wie dem hier abgehangen hätte. Warum auch, wenn es doch genug heroinabhängige Bandmitglieder gab?) „Wir haben die Vorgabe, erst mal 24 Stunden abzuwarten“, sagte Officer Stratton. „In den meisten Fällen tauchen die Kids dann wieder auf. Haben Sie ihre Computer-Chronik angeschaut? Ihren Facebook-Status?“

„Nein“, sagte Jen, und kam sich ein wenig dumm dafür vor, dass sie es aus Rücksicht auf die Privatsphäre ihrer Tochter nicht getan hatte.

„Dürfte ich mal?“, fragte Officer Stratton und öffnete Samanthas Laptop. Das Erste, was er sah, war eine Nachricht von Youtube, dass das Video erfolgreich hochgeladen worden sei.

Als Samantha wieder zu sich kam, lag sie im Laderaum eines Kleintransporters, der nach Zigaretten und Schweiß roch, auf der Seite. War sie tatsächlich gefesselt und hatte die Augen verbunden? Ja!

„Na, Conrad, das lief doch ganz gut,“ sagte eine tiefe ausdruckslose Männerstimme. „Ich glaube, ich hab mir den Rücken ausgehoben, als ich sie getragen habe. Mein Kreuz ist die Hölle“, antwortete Conrad, dessen Stimme nasaler und knarziger war. „Für ein so kleines Mädchen ist sie ganz schön schwer.“

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„Fuck you. Ich bin nicht mal ein Kilo über dem Normalgewicht für meine Größe“, brüllte Samantha. „Lasst mich raus.“

„Entspann dich, Samantha“, sagte Conrad. „Du kommst sofort wieder nach Hause, sobald deine Mutter zahlt.“

Der Wagen bog scharf nach rechts ab und hielt dann an. „Willkommen in deinem vorrübergehenden neuen Hauptquartier“, sagte Tyson, als er die Seitentür des Wagens öffnete. Samantha fühlte, wie sie unbeholfen angehoben wurde.

Nach ein paar Schritten wurde Samantha mit dem Kopf zuerst abgesetzt. Nachdem ihr der Schal von den Augen abgenommen wurde, konnte Samantha ihre Entführer zum ersten Mal betrachten. Sie waren beide etwa mittleren Alters, wenn auch jünger als ihre Eltern. Dass hieß, sie waren vielleicht … was? 30? 35? Tyson war ganz süß, nur seine Augen standen zu dicht beieinander. Er kriegte Extrapunkte für seinen muskulösen Körper, kriegte sie aber gleich wieder abgezogen, weil sein Pony so fettig war. Sie hasste außerdem, wie er angezogen war: ein kurzärmeliges, blassblaues Polyesterhemd und Dockers. Er sieht aus wie jemand, der bei Best Buy arbeitet, dachte sie, ohne zu wissen, dass Tyson vor ein paar Tagen eben dort entlassen worden war. Conrad war genau so alt wie Tyson, aber kleiner und stämmiger. Er trug einen Dreitagebart auf seinen zahllosen Kinns und kurze dunkle Haare, die hinten wegrasiert und oben auf dem Kopf länger waren. Er hatte sich den Schnitt vor Kurzem machen lassen, um seine Chancen zu erhöhen, als Schulbusfahrer angeheuert zu werden.

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„Es ist sieben Uhr morgens“, sagte Conrad. „Lass sie uns anrufen.“

„Wir werden dich hier einsperren, Samantha“, sagte Tyson und rollte ein Tuch zu einem Knebel zusammen, wie er es in Filmen gesehen hatte. „Wir kommen wieder, wenn wir mit deiner Mami gesprochen haben. Ich hoffe, du vermisst uns bis dahin nicht.“

Der Plan war, den wichtigen ersten Kontakt mit Samanthas Mutter mit einem billigen Handy herzustellen, dass sie danach wegwerfen konnten, also parkte Tyson den Van auf dem fast leeren Parkplatz eines 24-Stunden-Supermarkts. Dann krochen die beiden Männer auf die Hinterbank.

Tyson hatte Jens Handynummer vor einer Woche notiert, als er ihre neue Geschirrspülmaschine geliefert hatte.

„Hallo Jen“, sagte Conrad leise in das Telefon. „Wir haben Samantha. Es geht ihr gut. Ich rufe an, um Ihnen zu sagen, wie Sie sie unverletzt zurückbekommen.“ „Ist das ein schlechter Scherz?“, fragte Jen, die erschöpft klang. „Nicht so negativ!“, sagte er. „Ich versichere Ihnen, dass sich alles mit einer kleinen Transaktion klären lässt.“

Conrad kann das ganz gut, dachte Tyson, der seinem Partner gern das Reden überließ. Conrad war besser mit Worten. Er hatte „Transaktion“ gesagt.

„Hier. So hört sich negativ an“, sagte Jen und legte auf.

Conrad starrte Tyson an. „Die Kuh hat einfach aufgelegt!“, sagte Conrad und drückte die Wahlwiederholung. Das hier durfte nicht schiefgehen. Nach einer idiotischen Nacht schuldeten die beiden Männer nun einem Psycho Geld, der ein Tattoo mit einer Machete auf seiner Wange trug. Conrad konnte sich kaum noch erinnern, wie sie es geschafft hatten, sich das ganze Koks selber reinzuziehen, das sie hatten verticken sollen. Nun wollte dieser Typ sein Geld zurück.

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„Ich gebe ihnen jetzt noch eine Chance“, sagte Conrad, als er das zweite Mal anrief. „Chance wofür, du verdammter Idiot?“, sagte Jen. „Meine Tochter hat sich letzte Nacht umgebracht, du Scheißkerl. Tut mir leid, dass ich dir deinen extrem lustigen Scherz ruinieren muss.“

„Was ist da los?“, fragte Tyson durch seine Zähne, während er auf einem Daumennagel herumkaute.

„Sie sagt, Samantha hätte sich umgebracht. Dann hat sie aufgelegt. Was zum Teufel ist das für eine Scheiße?“

„Keine Ahnung. Aber wir sollten das verdammte Telefon jetzt besser los werden,“ sagte Tyson und schob das kleine Nokia-Handy in ein Glas saurer Gurken, das er in einen riesigen grünen Müllcontainer versenkte.

Auf der Rückfahrt zum Haus stellte Conrad das Radio ein. Und tatsächlich spielten sie den Ton von Samanthas Youtube-Nachricht auf allen Kanälen. „Heilige Scheiße“, sagte Tyson. „Wir sollten sie schnellstens zurückbringen und uns verdünnisieren.“ „Sie zurückbringen?“, sagte Conrad. „Sie ist doch kein Kleidungsstück, das man zurückgeben kann. Wir müssen das jetzt durchziehen, wenn wir wollen, dass wir morgen noch den Kopf am Hals haben.“

„Niemand wird uns ein Lösegeld bezahlen. Sie denken ja alle, dass sie tot ist“, sagte Tyson, dessen Herz so schnell schlug, dass er nach Luft zu schnappen begann. „Wir müssen halt beweisen, dass sie noch lebt“, antwortete Conrad. „Wir lassen sie anrufen. Oder, besser noch, wir machen ein neues Youtube-Video mit ihr.“

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„Was sie dann zu unserem Rechner zurückverfolgen können.“

„Dann zerlegen wir das Ding halt danach und verstreuen die Teile auf unserem Weg aus der Stadt.“

„Und was ist, wenn sie nicht kooperiert?“, fragte Tyson.

„Schon mal vom Stockholm-Syndrom gehört? Wir sorgen dafür, dass sie uns liebt. Sie ist bestimmt hungrig. Lass uns ein paar Donuts für sie kaufen.“

Es war sechs Uhr morgens, als Conrad und Tyson die Auffahrt des kleinen gemieteten Hauses im Walnut Creek hinauffuhren, in dem Samantha im hinteren Schlafzimmer eingesperrt war. Zu dem Zeitpunkt lief ihr Youtube-Video schon auf allen Kanälen. „Wir haben dir ein paar Donuts mitgebracht, Samantha“, sagte Conrad und probierte ein harmloses Lächeln, als er den fettfleckigen, pinkfarbenen Karton der Bäckerei zu ihr herüber trug. Er kam nicht umhin zu bemerken, wie klein und verletzlich sie wirkte, wie sie da gefesselt auf der verblichenen alten Couch lag.

„Weil ich eine fette Sau bin?“, waren Samanthas erste Worte, als sie sich aufrichtete. „Lass uns der fetten Tussi ein paar Donuts mitbringen, oder was? Nein, danke!“

„Wir dachten, dass du vielleicht hungrig bist“, sagte Conrad und schnappte sich einen Donut mit einfachem Zuckerguss. „Wir sind nett zu dir. Du bist nett zu uns. Wir müssen einen Nachtrag zu deinem Youtube-Video machen, weil deine Mutter und alle anderen sonst denken, du bist tot.“

„Was genau meint ihr?“, fragte Samantha. „Wie oft ist es denn angeklickt worden?“ Conrad checkte das Video auf seinem Smartphone. „Du hast 200 Kommentare. Und du bist 176.000 Mal angeklickt worden.“

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Während Samantha nachdachte, schlich sich ein Lächeln in ihr Gesicht.

„Nicht schlecht für ein paar Stunden“, sagte Samantha. „Kannst du mir ein paar der Kommentare vorlesen?“ Conrad seufzte. „OK. Der erste geht so: ‚OMG. Kanns nicht glauben. SOB.‘ Ich weiß nicht, ob das ‚Son of a Bitch‘ heißen soll, oder für ‚sob‘, schluchzen steht. Der nächste: ‚Manchmal weiß man nicht, wie wichtig einem eine Person ist, bis so etwas passiert. Ich wünschte, ich hätte dich besser kennengelernt, Samantha.‘“

„Von wem ist das?“, fragte Samantha.

„Da steht nur Raven2004EVER“, sagte Conrad.

„Wow“, sagte sie. „Taylor Parkhurst. Der hat immer so getan, als wisse er nicht mal, dass ich existiere. Wer hat noch so geschrieben?“

„Ich stell mich jetzt nicht hier hin und lese dir 200 Kommentare vor“, sagte Conrad. „Lass uns in das andere Zimmer gehen.“

„Vergesst es“, sagte sie und breitete ihre Arme aus, als würde sie gerade gekreuzigt. „Dann bringt mich besser gleich um. Ist mir so was von egal.“

„Und was jetzt?“, fragte Tyson, der Conrad in die Küche gefolgt war. „Ich halte die Knarre auf sie. Du schleppst sie zum Computer. Wir müssen ihrer Mutter ja nur klarmachen, dass sie noch lebt.“ Samantha hatte sich auf dem durchgewetzten Sofa zusammengerollt.

„Steh auf“, sagte Conrad. Als sie sich nicht rührte, griff Tyson ihr unter die Arme und zerrte sie auf ihre Füße. „Hör gefälligst zu, wenn wir mit dir reden“, sagte er ihr.

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„Du klingst genau wie meine Mutter“, sagte Samantha, die anfing, das lustig zu finden. „Bestimmt sagst du mir gleich noch, ich soll die Haare nicht so ins Gesicht hängen lassen.

„Los!“, sagte Tyson und schob sie zur Tür.

Das Zimmer mit dem Computer sah genauso aus wie das andere, mit dem einzigen Unterschied, dass es hier einen Plastikschreibtisch gab.

„Oh mein Gott“, sagte Samantha, während sie sich in ihr Youtube-Konto einloggte. „Seitdem du das letzte Mal gecheckt hast, sind noch 25 Kommentare dazugekommen. Turner Leventhal hat mir ein Gedicht geschrieben. Krass.“

„Samantha, das Einzige, was du sagen musst, ist: ‚Mom, gib ihnen was sie wollen, damit ich nach Hause kommen kann‘“, sagte Conrad. „Auf gar keinen Fall“, sagte sie. „Denkst du, ich will dahin zurück?“

„Dann setz dich wenigstens hin und schau unglücklich aus“, sagte Conrad, während er sich nach vorne beugte und auf Aufnahme drückte. Im selben Moment ließ sich Samantha mit dem Gesicht zuerst nach vorn auf die Tischplatte fallen. Conrad stellte schnell die Kamera aus.

„Setz dich gerade hin!“, brüllte Tyson und drückte ihr die Knarre in den Rücken. „Dann erschieß mich doch“, sagte sie. „Komm schon! Jetzt sei nicht so!“, sagte Conrad. „Du musst nicht mal was sagen. Ich spreche was drüber, und sobald wir das Geld haben, erschießt Tyson dich gern.“

„Ich? Auf gar keinen Fall“, sagte Tyson. „Es war nie die Rede davon, dass ich jemanden umbringen soll! Was ist los mit dir, Samantha? Warum willst du überhaupt sterben? Weißt du nicht, dass Gott jeden von uns auf die Erde geholt hat, damit wir unseren Beitrag leisten?“

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„Versuch du doch mal, bei meiner Mutter zu wohnen und Nietzsche und Schopenhauer zu lesen“, sagte Samantha. „Gib mir einen guten Grund, warum ich weiterleben soll.“ Tyson sah zu Conrad. „Das krieg ich hin“, sagte Conrad und zwinkerte. „Jetzt schau gut zu.“

„Vielleicht kannst du dich ja mal umschauen, wie hübsch es hier ist. Hinter den Bäumen da ist ein hübsches Bächlein. Und wenn der Schläger den Ball an der richtigen Stelle trifft … ist das das Größte“, sagte Conrad. Er zeigte Samantha das Video von sich beim Golfspielen, das er gepostet hatte. Seine Golftalent zu beweisen war ihm so wichtig gewesen, dass er einen Typen mit einem Stativ und einer HD-Kamera angeheuert hatte.

„Du erzählst mir tatsächlich vom Golfen, um mir einen Grund zum Weiterleben zu geben?“, sagte Samantha.

„Das kann schon ein guter Grund sein. Mein Lieblingsplatz ist zehn Minuten von hier entfernt. Ich sag dir was … Wir gehen da jetzt hin. Ich mach dir die Handschellen ab und …“

„Spar dir die Mühe“, sagte sie.

„OK, mit dem Golfen geb ich dir recht, aber komm schon! Die NASCAR-Autorennen?!“, sagte Tyson. Er freute sich, dass er einen Clip des Rennens gefunden hatte, bei dem er letzte Woche gewesen war.

„Im Ernst“, sagte er. „Ich kaufe uns Tickets für das Rennen in Daytona!“

„Um Autos im Kreis fahren zu sehen?“, sagte Samantha. „Wisst ihr, eigentlich seid ihr diejenigen, die über Selbstmord nachdenken sollten.“

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„Jetzt bist du wieder dran“, sagte Tyson zu Conrad.

„Schon mal vom Ultra Miami Festival gehört?“, fragte Conrad, während er den Namen bei Youtube eintippte und durch die zahllosen Videos zu klicken begann, die die Leute gepostet hatten. „Sieh dir an, was für einen Spaß die haben—wie sie abgehen und tanzen! Schau dir die sexy Kostüme an! Diplo tritt da auf und Afrojack auch!“

„Sehe ich aus, als würde ich mit Jungs abhängen, die halbnackte, tanzende Mädchen auf ihren Schultern sitzen haben?“, sagte Samantha.

Conrad biss sich auf die Lippe, während Tyson einen Blick in das örtliche Veranstaltungsprogramm warf. „Bist du ein Star-Wars-Fan? Es gibt bald einen Marathon“, sagte er, während er scrollte. „Große Lasershow im Planetarium. Bon Jovi kommt. Warst du schon mal auf einem Renaissance-Markt? Dieses Jahr haben sie eine Miniatureisenbahn.“

„Um fünf nehmen sie in San Jose eine Folge von Glücksrad auf“, sagte Conrad.

„Hey! Ich habe ‚Gründe weiterzuleben‘ gegoogelt“, sagte Tyson, der von seinem Handy ablas. „Grund eins und zwei sind Scheiße, aber Grund Nummer vier… Alte Leute kriegen Sonderrabatte!“

Samantha starrte ihn an.

„Ich hab’s!“, sagte Tyson und tippte mit rasender Geschwindigkeit etwas in das Suchfeld. „Was ist das?“, fragte Samantha mit einem Anflug von Interesse. „Ein Babyozelot mit einer Babyziege. Hast du schon mal das Faulaffenbaby mit dem winzigen Sonnenschirm gesehen?“, fragte Tyson. „Oh mein Gott!“, sagte sie.

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„Und schau dir diese Sugar-Glider-Babys an! Sieh nur, ihre Augen. Oder hier, ‚Die Kleine Kuh‘. Sie folgt dieser Lady überall hin.“

„Dieses Stachelschweinbaby ist das süßeste überhaupt!“, sagte Samantha. „Was das für Geräusche macht! Das ist zu süß!“

„Warte erst mal ab, bis du den kleinen Fuchs gehört hast.“

„Ich will sie alle haben!“

„Bingo! Hier hast du deinen Grund zum Leben!“, sagte Tyson. „Du musst verwaiste Babytiere retten! Ein Tierwaisenhaus eröffnen!“

„Genau!“, sagte Conrad. „Du kannst helfen, Tierbabys zu retten. Genau wie wir, sobald wir das Geld von deiner Mutter haben.“

„Ihr wollt das erpresste Geld spenden, um Tierbabys zu retten?“, fragte Samantha.

„Das hast du wohl nicht von uns gedacht?“, sagte Conrad.

„Ihr könnt unmöglich glauben, dass ich euch das abnehme.“

„Du hältst uns doch hoffentlich nicht für so bescheuert, eine schwere Straftat zu begehen, ohne einen guten Grund dafür zu haben“, sagte Conrad. „Wir sind Ökoterroristen. Du hilfst uns dabei, den Planeten zu retten.“

„Wow“, sagte sie. „Wenn ihr das in dem Video sagt, bin ich dabei.“

„Mom, bitte gib diesen Jungs das Geld, damit ich nach Hause kommen kann“, sagte Samantha. „Das Geld wird gebraucht, um Tierbabys zu retten. Ich werde auf immer dankbar sein. Diese Erfahrung hat mir die Augen geöffnet.“

„Oh, das hättest du aber nicht sagen müssen,“ sagte Tyson gerührt, während Samantha auf Upload klickte. „Das ist jetzt wahrscheinlich das Stockholm-Syndrom“, sagte Samantha, „aber diese Baby-Tiervideos …Ich fühle ganz ehrlich etwas. Das geht mir nie so, wenn meine Mutter irgendwas von Gesichtsunterspritzungen und ,Wem steht’s besser?‘ vor sich hin brabbelt.“ „Wow. Das ist vielleicht das Beste, was ich in meinem Leben je für jemand getan habe“, sagte Conrad. „Na ja, du hast mir neulich Gras zum halben Preis verkauft“, hielt Tyson dagegen.

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„Es war aber superschwach. Und du darfst nicht vergessen, dass damit unser Problem mit Mr. Machetengesicht erst begann.“

„Da wir hier alle gerade ehrlich miteinander sind“, sagte Tyson, „muss ich dir etwas gestehen, Samantha. Conrad hat das mit dem Geldspenden nicht ganz ernst gemeint. Aber da ich sehe, wie wichtig es dir ist, will ich, dass du weißt, dass ich persönlich dafür sorgen werde, dass wir in deinem Namen eine Spende an eine Tierschutzvereinigung deiner Wahl überweisen werden.“

„Du weißt nie, wann du aufhören musst zu quatschen“, sagte Conrad und rollte mit den Augen. „Lass uns losgehen und sie anrufen.“

„Sollten wir sie nicht wieder fesseln?“, fragte Tyson.

„Überhaupt nicht nötig“, sagte Samantha, als die beiden sie wieder im Schlafzimmer einsperrten.

Während Conrad und Tyson wieder zu dem Parkplatz fuhren, um ein zweites Mal anzurufen, zerschlug Samantha die Fensterscheibe mit ihrem Schuh. Das Fenster lag zu weit oben für sie, um hindurch zu klettern, aber nicht so hoch, dass man ihre Hilferufe nicht gehört hätte. Drei verschiedene Nachbarn riefen die Notrufnummer an. Als Samanthas zweites Video sich um Mitternacht herum mit rasender Geschwindigkeit im Internet zu verbreiten begann, saß Officer Stratton neben Jen auf dem Bett und hörte über Kopfhörer mit, wie Conrad seine Forderungen verlas. Während vor dem Haus am Walnut Creek ein siebenköpfiges Einsatzkommando vorfuhr.

20 Minuten später wurden Conrad und Tyson verhaftet, als sie ihren Van in der Auffahrt parkten. Tyson hatte noch die Flasche Skinnygirl Sangria in der Hand, mit der er mit Samantha hatte anstoßen wollen.

Samantha fand sich nach der Rückkehr im Zentrum eines medialen Zyklons wieder. Alle wollten wissen, wie es ihr ging und wie sie sich nach diesem Trauma wieder im normalen Leben zurechtfand. Die Kids in der Schule waren so beeindruckt von ihr, dass es kaum zu glauben war. Das Beste war, dass sie drei Kilo abgenommen hatte.

„Gekidnappt zu werden war schrecklich“, sagte Samantha zu Oprah, „aber auf eine Weise war es auch ein Geschenk. Es hat mich von einem egoistischen Kind zu jemandem gemacht, der Prioritäten hat und die Dinge einordnen kann.“

Als das Interview gesendet wurde, holte Samantha Angebote für ein Buchprojekt ein, das Das Geschenk meiner Entführung heißen sollte, und in dem es darum ging, wie aus ihr eine lebensbejahende, besondere Person geworden war. Die Angebote überschlugen sich und sicherten ihr einen Vorschuss von 1,7 Millionen. Ein paar Wochen später kaufte sie die verlassene Farm, in der ihr Tierheim entstehen sollte.

Conrad und Tyson wurden wegen Entführung verurteilt, obwohl ihr Anwalt versuchte, sie als Lebensretter bei einem Selbstmordversuch darzustellen. Aber wegen der schmeichelhaften Kommentare von Samantha scharte sich auch um die beiden bald eine kleine Fangemeinde.

Das brachte Conrad auf die Idee, einen Onlinekurs über Entführung als Therapie anzubieten. Als sie auf Bewährung entlassen wurden, war das Hörbuch zu Kind-Napping schon auf Amazon erhältlich.

Tyson, der es satt hatte, von Conrad herumkommandiert zu werden, und der außerdem seinen eigenen albtraumhaften Absturz in die Kriminalität verstehen wollte, verbrachte seine Zeit hinter Gittern damit, philosophische Texte zu lesen, vor allem von Nietzsche und Schopenhauer. Nach seiner Entlassung wusste er nicht, was er tun sollte und zog bei seiner Mutter ein. Als er eines Tages aus der Stadt zurückkam, trug er einen Spruch von Schopenhauer auf den Rücken tätowiert: „Keine Befriedigung aber ist dauernd, vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens.“

Eine Woche später löste er 40 Ambien in einer Flasche Jack Daniels auf. Während er in die Bewusstlosigkeit driftete, waren seine letzten Gedanken: Mist, ich habe vergessen ein Youtube-Video zu machen.

Merrill Markoe war die erste Chefautorin der David Letterman Show.