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Selbst die Polizei lächelte zurück: Der „Aufstand der Anständigen" im Aargau

Nie mehr als drei Polizisten gleichzeitig, dafür aber Mütter mit Kindern, Rentner mit Transparenten und Bier trinkende Revolutionäre.
Alle Fotos von Claude Hurni

Hier sollen also die Anständigen aufstehen? Hier, wo Dörfer Hunderttausende von Franken hinblättern, um sich von der „Last", Asylsuchende aufzunehmen, freizukaufen. Hier, wo deutsche Reporter nach einem Besuch zum Schluss kommen, dass rechtsradikale Ansichten in dieser idyllischen Gegend ihre Heimat gefunden haben. Hier, im „dunklen Fleck der Schweiz". Hier wollen Menschen friedlich gegen Fremdenhass auf die Strasse gehen? Ja, das wollen sie. Und ich bin mittendrin.

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Aarau zeigt sich von seiner besten Seite. Keine rechten (Fast-)Nazis, keine linken Chaoten—nur eine friedliche Kundgebung. Ein unglaublich erfrischendes Erlebnis. Erfrischend, weil es keine Gewalt gibt. Erfrischend, weil die Stimmung von einem kollektiven Lächeln getragen wird. Erfrischend, weil es mich an etwas erinnert, das ich vergessen hatte: Es geht auch ohne Gummischrot und Pfefferspray. Die Aargauer laufen gemeinsam gegen das Dagegen sein. Gegen Fremdenhass, Hetze und Diskriminierung.

Um 18:30 Uhr setzen wir die ersten Schritte in Richtung Aargauerplatz. 45 Minuten lang marschieren wir—angeführt von Politikern und anderen wichtigen Menschen—durch die Stadt mit drei „As" und ohne „G". Eine bulgarische Band unterhält uns Anständigen mit Gute-Laune-Musik à la „Volare"—die Menge quittiert mit einem euphorischen „Cantare ohohoh!"

Applaus, Applaus—für die Musik und die Menschen links und rechts von sich. Ohne lange Pausen wechseln die Lieder. Sie treiben die Stimmung in die Höhe und entfachen dort Diskussionen. Diskussionen, ja. Keine Parolen, keine Wasserwerfer. Und auch die Polizei markiert so wenig Präsenz wie möglich.

Nie erblicke ich mehr als drei Polizisten gleichzeitig. Dafür gibt's Kleinkinder fütternde Mütter, Transparente tragende Rentner und Bier trinkende Revolutionäre in spe. Es scheint, eine Stichprobe der guten Hälfte der Schweiz habe nach Aarau gefunden.

Immer wieder ertappe ich mich bei dem Gedanken: „Jetzt muss doch etwas passieren. Wo bleibt der Knall?" Doch der Knall bleibt aus. Die Anständigen zeigen Anstand. Unterwegs lerne ich einen lokalen Journalisten kennen, der mir ungläubig verrät: „Das muss die grösste Demo im Aargau seit fünf oder sechs Jahren sein—und es ist so ruhig!"

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Auf dem Aargauerplatz angekommen, begrüssen uns lächelnde Ordnungshüter. Einige Polizisten wollen es sich nicht nehmen lassen und klatschten zum Rhythmus der Musik. Auf der Bühne steht eine neue Band und musiziert für die anströmende Menschenmenge.

Die erste Sprecherin betritt die Bühne: „3'500 Personen!", verkündet sie euphorisch, „wann hat es das, das letzte Mal hier gegeben?" Applaus, Applaus.

Schriftsteller Guy Krneta traf mit seiner Rede den Puls der Anständigen: „Anständig ist, zu fragen, wie es dem Gegenüber geht. Anständig ist, zu sagen, man könne nichts dafür, wo man zur Welt komme. Anständig ist, Menschenrechte nicht mit der Armee zu verteidigen, sondern mit offenen Türen. Und mit Anstand." Applaus, Applaus.

Bevor die Menschen wieder aus dem anständigen Kollektiv ausbrechen und sich in alle Richtungen verstreuen, frage ich noch einen Polizisten, wie die Kundgebung seiner Meinung nach verlaufen sei: „Ich darf eigentlich keine Auskunft geben. Aber nein, es ist nichts passiert. Alles ruhig. So ist's lässig. So soll's sein und so macht's Spass", antwortet er mit einem zufriedenen Lächeln—keine Spur von aufgezwungener Autorität.

Es muss nicht immer „Knallen" damit wir das Gefühl haben, dass etwas passiert ist. Eine Demonstration muss keine Ausschreitungen und Grosseinsätze der Polizei beinhalten, damit sie Wirkung entfacht. Das hatte ich vergessen. Der Aargau erlöst sich mit dieser Demonstration ein Stück weit selbst—auch von seinem Schandfleck-Image. Wäre der deutsche Reporter nur dabei gewesen.

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Er hätte gehört, wie ein weiterer Redner den Abend auf den Punkt bringt. Wie er heraushebt, was die Schweiz und der Aargau brauchen, damit nicht nur wir 3'500 anständig sein können, sondern alle 8.1 Millionen:

Wir brauchen keine Leute mit heissem Kopf und kaltem Herzen. Sondern solche mit kühlem Kopf und warmem Herzen.

Applaus, Applaus.

Ivan auf Twitter: @iiivanmarkovic

Vice Schweiz auf Twitter: @ViceSwitzerland