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Was die Nacht mit uns macht

Dunkelheit löst etwas in uns aus. Wir werden leichtsinniger, dümmer, ein bisschen böser. Die Nacht ist meine Lieblingsdroge.
Foto: CC0 Public Domain

Irgendwas passiert mit uns, sobald es draußen dunkel wird. Irgendwas Abartiges. Wir feiern, ohne nachzudenken, haben Sex, ohne nachzudenken, verhalten uns auch ohne Alkohol vollkommen irrational und handeln generell viel unüberlegter, als wir uns das tagsüber je trauen würden. Der vermeintliche Schutz der Dunkelheit ist Realität und er ist one hell of a drug.

Je später es wird, desto impulsiver werden wir. Bei manchen äußert sich das in Möbelrücken um 3:00 Uhr morgens, äußerst fragwürdigen Mitternachtssnacks und noch fragwürdigeren Booty Calls—bei anderen wiederum in Straftaten und Gewalt. Aber was genau passiert da in unseren Köpfen? Warum macht die Nacht uns zu einer Horde Gestörter, die weder Essverhalten noch Libido unter Kontrolle zu haben scheinen?

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Zunächst mal riecht die Nacht schon ganz anders als der Tag. Sie hat einen recht seltsamen Geschmack, so bedrohlich und gleichzeitig angenehm in ihrer Ruhe. Im Winter stinkt sie einfach nur nach Winter, im Sommer schmeckt sie dafür umso besser, aber das ganze Jahr über ist sie ein unheimlich intensiver Trip.

Ganz nebenbei ist sie auch noch ein Jungbrunnen: Unser Tag-Nacht-Rhythmus wird von dem Hormon Melatonin gesteuert. Das wird im Zwischenhirn—genauer gesagt in der Zirbeldrüse—produziert und sorgt dafür, dass unser Körper den Wechsel zwischen Tag und Nacht wahrnimmt. Seine Bildung wird über die Netzhaut kontrolliert—Tageslicht wirkt hemmend, erst bei Dunkelheit steigt die Produktion an. Die Zirbeldrüse ist also sowas wie unsere innere Uhr, die dem Rest unseres Körpers mitteilt: „Hey, es ist Nacht—wieder ein Tag vorbei. Los, älter werden!"

Melatonin hat außerdem noch einen anderen Effekt: Es (be)hindert den Alterungsprozess, wird deshalb sogar in Anti-Aging-Produkten verwendet. Ist der Melatonin-Spiegel permanent erhöht, wird damit der Tag-Nacht-Rhythmus manipuliert und der Körper altert langsamer.

Foto via VICE Media

Es gab mal ein (ziemlich fragwürdiges, Frankenstein-eskes) Experiment, in dem jungen Mäusen die Zirbeldrüsen von älteren Mäusen—und umgekehrt—eingepflanzt wurden. Das Ergebnis: Die eigentlich jüngeren Mäuse wurden träge und bekamen schadhaftes Fell, die älteren hingegen waren wieder quicklebendig und wurden am Ende sogar doppelt so alt wie ihre jüngeren Kollegen.

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Vereinfacht gesagt: Dunkelheit hält jung. Oma sollte also Recht damit behalten, dass genug Schlaf wichtig für die Gesundheit ist. Oma hatte immer recht. Alternativ könnte man wohl auch einfach die Augen permanent geschlossen halten—also rein theoretisch. Augen zu, ewige Jugend! Könnte das vielleicht Chers Geheimnis sein? Schlafmangel hat die sicher keinen.

Ich hingegen schon. Zu wenig Schlaf hat auf den Körper tatsächlich einen ähnlichen Effekt wie ein Rausch—allerdings kein besonders schöner. Eher einer von den Räuschen, bei denen man am nächsten Tag laut aufstöhnen muss, um die eigene innere Scham zu übertönen. Die „Wieso rede ich nur so viel Scheiße"-Art. 24 Stunden ohne Schlaf sollen laut Neurologen ungefähr 1 Promille entsprechen, auch Halluzinationen können dabei auftreten.

Schlaf kann man übrigens nicht nachholen. Der bleibt einfach abgängig. Wer unter der Woche wenig bis kaum schläft, und denkt, die fehlenden Stunden eh am Wochenende nachholen zu können—da bin ich ganz bei euch, aber wie so vieles im Leben läuft das nicht so einfach. Leider.

Ein samstägliches 20-Stunden-Koma zur Kompensation hilft zwar gegen Müdigkeit, der Kopf bleibt jedoch weiterhin Matsch. Eine Studie aus dem American Journal of Physiologe zeigt, dass vermeintlich ausgleichender Schlaf am Wochenende zwar weniger müde macht, die verlorene Konzentration und Aufmerksamkeit jedoch nicht wiederherstellt. Ein Wochenende, an dem man vielleicht auch noch aufgeputscht bis 7:00 Uhr fortgeht, reicht eben nicht, um fünf Tage Schlafmangel wiedergutzumachen.

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Das erste Gefühl, das wir der Nacht als Kind entgegenbringen, ist aber eigentlich ein anderes: und zwar Angst. Diese Furcht vor der Dunkelheit ist etwas sehr Intuitives. Je älter man wird, desto eher verschwindet sie auch—aber ein kleiner Rest von ihr bleibt immer, sonst würden wohl Horrorfilme keine so große Faszination auf uns ausüben. Und damit meine ich nicht nur die offensichtlichen Titel wie Don't be Afraid of the Dark (von 1973 und 2010) oder The Town that Dreaded Sundown (von 1976 und 2014).

Foto: CC0 Public Domain

Auch Dr. Sigrun Roßmanith, Fachärztin für Psychiatrie, psychotherapeutische Medizin und Neurologie in Wien, erwähnt im Gespräch besagte nächtliche Angststörungen, die bei Betroffenen ihren Ursprung meist in der Kindheit haben. Dass Menschen in der Nacht ungebremster sind, hängt aber laut ihr—neben dem „Konsum von gewissen Substanzen", eh—vor allem mit dem Nicht-gesehen-werden zusammen.

„Tagsüber haben wir mehr Kontrolle über das, was wir tun. In der Dunkelheit macht das vieles leichter." Das ist der springende Punkt: Kontrolle. Tagsüber wird sie uns aufgebürdet, wir müssen Verantwortung für unser Handeln übernehmen—ob wir nun mal wollen oder nicht. In der Nacht wird sie uns abgenommen, und wir geben sie nur allzu gern her. Dieser Kontrollverlust ist wohl das, was die Nacht so aufregend scheinen lässt.

Die Nacht macht uns angreifbarer, gleichzeitig bietet die Dunkelheit Schutz. Vielleicht ist es auch genau diese Ambivalenz, die sie auch so spannend für uns macht. Vielleicht als Realitätsflucht, um alles, was tagsüber sichtbar ist, ignorieren zu dürfen. Denn die Nacht macht eben nicht nur Angst, sondern auch—und vor allem—verdammt viel Spaß.

Franz schläft nie, twittert aber. Auch nachts: @FranzLicht