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Popkultur

'Birdman' vs. 'Boyhood' und warum es die Academy eigentlich nicht gibt

Ein Film, der mit einem schwebenden Ex-Batman in Unterhosen beginnt, hat am Ende die höchsten Preise der Filmindustrie abgeräumt. Aber wer steht hinter der Entscheidung und was bedeutet sie?

Titelbild von 20th Century Fox Filmverleih

Als ich die Oscars live-getweetet habe, dachte ich noch, ich wäre über meiner Pizza eingeschlafen und hätte nur geträumt, dass Alejandro Iñárritu mit Birdman wirklich die Preise für besten Film und beste Regie gewonnen hat. Der Moment war einfach zu skurril: Iñárritu, der in seiner Oscar-Rede über sein schlechtes Englisch scherzt; Sean Penn, der kurz davor "Who gave this son-of-a-bitch a Green Card?" sagt; Lady Gaga mit ihrer ironiefreien Performance von "The Sound of Music" (okay, das hat nicht viel mit dem Rest zu tun, aber was zur Hölle?).

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Selbst jetzt, nachdem die ganze Welt darüber geschrieben und das halbe Internet sich darüber beschwert hat, fällt es mir noch schwer zu glauben, dass die Academy dem Schmalz-Schmonzes von Boyhood (bei aller Liebe zu der durchaus schön erzählten, aber eben eigentlich in 39 Tagen gefilmten und aus TV-Serien bekannten Zeitraffer-Geschichte) eine Abfuhr erteilt und sich für den konzeptuell komplett kaputten, filmisch phänomenal funktionierenden Birdman entschieden hat.

Sicher, Boyhood ist ehrlich, emotional, anti-postmodern und ziemlich episch—aber das ist Wrestling auch und obwohl ich es gerne schaue, erwarte ich nicht, dass WrestleMania einen Oscar gewinnt (obwohl ich die Rede dazu gerne hören würde). Birdman hingegen ist nicht nur gut, es ist ein Meta-Film, in dem es genauso viele Mini-Filme zu entdecken gibt wie in Synecdoche, New York und der alleine für das Gefühl, dass man zweieinhalb Stunden nicht geblinzelt hat, die richtige Entscheidung für beide Preise ist.

Aber bevor wir über die Entscheidungen "der Academy" reden, sollten wir kurz klären, wer "die Academy" eigentlich ist. Auch, wenn der Name einen dazu verführt, an eine geschlossene Jury zu denken, die mit ihrem mächtigen Marketingzepter aus Gold über das Leben und Sterben von Kunstwerken entscheidet, ist „die Academy" in Wahrheit (schockierenderweise!) nicht wie die Republikanische Partei bei den Simpsons, die in einem düsteren Dracula-Schloss um eine Tafel sitzt und im Blitzgewitter Pläne schmiedet.

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„Die Academy" ist der Dachname für einen Verband aus zirka 6.000 Mitgliedern. Die Liste ist nicht öffentlich, auch wenn man weiß, dass Michael Haneke Mitglied ist und Woody Allen nicht (er hat die Einladung abgelehnt). Wie bei den Freimaurern oder Sozialen Netzwerken in der Beta-Phase braucht man eine Einladung, um mitspielen zu dürfen—und das ist auch schon wieder alles, was „die Academy" mit Freimaurern oder Sozialen Netzen zu tun hat.

Die Entscheidungen „der Academy" folgen also keinem zentraler Plan der Cine-Illuminati. Sie sind nicht mal kollektive Entscheidungen, sondern einfach nur ein kumuliertes Abstimmungsergebnis. Anders als bei einer Jury, wo eine kleine Gruppe von Menschen (und meistens auch Dieter Bohlen) im Dialog miteinander zu einem Entschluss kommt, fällen die Mitglieder der Academy ihr Urteil isoliert und sind am Oscar-Abend wahrscheinlich genauso überrascht über das Ergebnis wie alle außer den beiden Notaren von Price-Waterhouse-Coopers, die die Umschläge zur Show bringen.

Unbeeinflusst ist die Academy natürlich trotzdem nicht. Genau wie wir sichtet sie die Filme nicht im luftleeren Raum. Und weil Hollywood nicht umsonst das Zentrum des Film geschäfts ist, setzt jedes namhafte Studio mit gesalzenen Oscar-Kampagnen auf die Bezirzung der 6.000er Gemeinde. Für diese PR- und Marketing-Kriege nicht ganz unbedeutend ist auch die Demographie der Academy: 93 Prozent weiß, 70 Prozent männlich, im Durschnitt 63 Jahre alt. Alles das spielt mit, wenn Studiobosse und Produzenten ihr Geld an der „Filmbörse" namens Box Office vermehren und im Vorfeld der Oscars den Marktwert ihrer verheißungsvollsten Filmpferdchen steigern wollen.

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Offizielles Pressefoto von 20th Century Fox

Womit wir auch wieder bei Birdman wären. Für mich ist der Sieg von Birdman in den beiden Top-Kategorien nämlich aus zwei Gründen faszinierender als der von so ziemlich jedem anderen Oscar-Gewinner: Erstens war der Film auf dem Papier in jeder Hinsicht der totale Außenseiter (und einer der finanziell am wenigsten erfolgreichen Oscar-Filme überhaupt)—und zweitens hat sich diese Wahrnehmung innerhalb weniger Minuten nach dem Sieg komplett ins Gegenteil gedreht. Während Boyhood eigentlich der perfekte High-Concept-Artikel für Hollywood ist und sich bequem auf einen Song, ein Plakatsujet und ein griffiges Konzept (12 Jahre Zeitraffer einer Familie) runterbrechen lässt, ist Birdman der weirdeste, unzusammenhängendste, ausuferndste, vielschichtigste (Achtung!) Arthouse-Film, der seit Heaven's Gate nominiert war (und wir wissen, wie die Geschichte für Regisseur Michael Cimino und ganz Hollywood ausgegangen ist). Es hätte im Vorfeld wahrscheinlich niemanden gewundert, wenn Birdman für genau einen Nebenschauplatz-Oscar in Best Editing nominiert gewesen wäre—und den auch noch verloren hätte. Jetzt, wo er die beiden höchsten Preise der Branche abgestaubt hat, ist das Bild ein völlig anderes.

Plötzlich ist Boyhood das übersehene Meisterwerk, das als cineastische Ausnahmeerscheinung keine Chance bekommen hat, weil es zu verrückt, zu groß, zu visionär war; und Birdman ist der Vertreter des selbstbeweihräuchernden Systemfilms, der nicht über den Tellerrand des Startums schaut und gewinnen musste, weil er den Hollywood-Alten schmeichelt.

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Dass die Academy Boyhood übergangen und seine Größe nicht erkannt hat, ist ihr größter Fehler der letzten 20 Jahre, heißt es. Dass man mit dieser Einschätzung „der Academy" so etwas wie ein gemeinsames Gehirn und eine nicht vorhandene Kollektiv-Identität unterstellt und Birdman zum braven (Studio-)Systemfilm stilisiert, hat schon eine gewisse Ironie, wo sich gerade Birdman von allen nominierten Filmen am meisten aus dem künstlerischen Fenster lehnt und am wenigsten den alten weißen Männern schmeichelt, die es einfach nicht schaffen (wie es im Film heißt), sich einen Twitter-Account oder auch nur eine Facebook-Page zuzulegen.

Wie schnell sich die Wahrnehmung von Boyhood und Birdman mit zwei Auszeichnungen ins genaue Gegenteil verkehrt hat (Boyhood wurde vor den Oscars die längste Zeit als Top-Favorit bezeichnet), sagt vor allem viel darüber aus, was Preise mit Inhalten machen: Sie adeln sie und machen sie damit zu Schnöseln. Es ist so, als würde Michael Häupl Heinz-Christian Strache von heute auf morgen zum Ehrenbürger der Stadt Wien ernennen.

Offizielles Pressefoto von 20th Century Fox

Was dabei immer mitspielt, ist das gute, alte Narrativ vom Underdog gegen das Establishment. Ironischerweise ist das dieselbe Geschichte, die auch Hollywood selbst seit seiner Gründung antreibt. Alle Mega-Blockbuster handeln im Grunde vom Sieg des Undergrounds (egal, ob in der Form der von außerirdischen Aggressoren bedrohnten Menschheit, von Nazis bedrohten Juden oder von Rassisten bedrohten

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Hollywood hat seine Liebe zu den Underdogs in die Mainstreamkultur integriert—weil es so beides bedienen kann, aber auch, weil wir nun mal beides bedient haben wollen.

Insofern ist das Beruhigende am Streit Boyhood vs. Birdman auch, dass beide Filme künstlerische Underdogs und gleichzeitig geadelter Hollywood-Mainstream sind. Es ist auf jeden Fall Jammern auf hohem Niveau. Egal, ob man Birdman nun für den besseren FIlm hält und Boyhood als reines Blendwerk mit einem guten PR-Spin bezeichnen würde, oder umgekehrt—das Signal, das alleine schon von diesem Kopf-an-Kopf-Rennen übrig bleibt, ist, dass Hollywood immer noch relevante (Kunst-)Kinokämpfe austrägt (so wie auch mit CitizenFour, Selma und The Imitation Game).

Die Synopsis der 87. Academy Awards liest sich so: Ein Film, der mit einem schwebenden Alt-Star in Unterhosen beginnt und sich mit Broadway und Batman beschäftigt, hat die höchsten Ehren der Filmindustrie abgeräumt. The End. Und das ist an und für sich schon eine ziemlich gute Geschichte, finde ich.

Ihr könnt Markus auf Twitter mit eurem Lieblingssong aus Boyhood ärgern: @wurstzombie

Titelbild von 20th Century Fox Filmverleih