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Zwei Autostunden von Wien entfernt wird auf Refugees geschossen und keinen interessiert es

Wir haben uns wohl an diese neue, brutale Realität, die inzwischen auch Europa eingeholt hat, gewöhnt. Und mit unseren eigenen Idealen gebrochen.

Wie die Nachrichtenagentur TASR am letzten Montag berichtete, wollte eine Streife der slowakischen Finanzpolizei in der Nacht von Sonntag auf Montag vier mit Refugees besetzte Autos bei Velky Meder, einem Ort in der Nähe der ungarischen Grenze, anhalten. Eines der Fahrzeuge sei aber erst durch Schüsse zu stoppen gewesen.

Eine Sprecherin der slowakischen Finanzpolizei erklärte, man habe "mehrere Schüsse auf die Reifen des Fahrzeugs abgegeben". Einer von diesen Schüssen habe jedoch die Heckscheibe des Wagens getroffen und eine 26-jährige Syrerin verletzt. Der Frau musste im Zuge einer Operation ein Projektil aus dem Rücken entfernt werden, wie das Krankenhaus in Dunajska Streda laut Presse bestätigte. Über den derzeitigen Gesundheitszustand der Frau ist nichts bekannt.

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Natürlich ist es klar, dass die Polizei ein Auto, das versucht, sich einer Kontrolle zu entziehen, notfalls auch mit Schüssen stoppen wird. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele. Es ist aber auch klar, dass Schutzsuchende, aufgrund der verschärften Grenzkontrollen auch innerhalb der Europäischen Union, wieder vermehrt auf Schlepper angewiesen sind. Und Schlepper lassen sich bei ihrem Handwerk nun mal nicht gerne erwischen.

Das slowakische Innenministerium hatte schon vor dem Vorfall gewarnt, dass sich unter Flüchtenden vor allem wegen der stärkeren Kontrollen an der österreichisch-ungarischen Grenze zunehmend eine Ausweichroute über die Slowakei und Tschechien nach Deutschland etabliere und man illegal eingereiste Refugees an der Weiterreise hindern werde. Dieses "Hindern" hat sich nun in Schüssen auf eine flüchtende Frau manifestiert. Der zu erwartende Aufschrei blieb aber aus.

Wo bleibt die Empörung?

Als die mazedonische Polizei im vergangenen August zum ersten Mal Tränengas und Schockgranaten gegen Flüchtende einsetzte, war die Empörung groß. Anfang April dieses Jahres sprach der griechische Premierminister Alexis Tsipras nach einem erneuten Tränengaseinsatz von Seiten Mazedoniens gar von einer "Schande für die europäische Kultur".

Als die AfD-Chefin Frauke Petry im Jänner sagte, man müsse im Extremfall zum Schutz der Grenze vor Schutzsuchenden auch "von der Schusswaffe Gebrauch machen" und ihre Parteikameradin Beatrix von Storch noch präzisierte, dass auch auf Frauen und Kinder geschossen werden könne, gab es einen Aufschrei in ganz Europa. Der Vorschlag der AfD sei geisteskrank, menschenverachtend und völlig verroht, hieß es noch vor vier Monaten beinahe einstimmig. Von einem "Verrat an den Werten der Zivilisation" sprach CDU-Vizechef Armin Laschet.

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Schutzsuchende an der griechisch-mazedonischen Grenze. Foto: Freedom House | flickr | Public Domain 1.0

Völlig verroht ist es aber auch, dass die Schüsse an der slowakisch-ungarischen Grenze nicht mehr wert sind als eine kurze Chronikmeldung. Anscheinend ist diese Brutalität zur Normalität geworden—nicht für die Syrer, die seit Jahren unter dem Bombenhagel in Aleppo leiden, sondern für uns. Sie ist angekommen im "zivilisierten Europa". Im "Europa der Menschenrechte". Sie hat die "Willkommenskultur" ersetzt.

Wenn in Idomeni Kinder im Schlamm geboren werden, Menschen auf der Flucht mit Tränengas, Schockgranaten und Gummischrot zurückgetrieben werden, Flüchtlingskinder offenbar massiven sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind und türkische Grenzbeamte laut Human Rights Watch allein im April mindestens drei syrische Schutzsuchende erschossen haben, reagieren unsere Medien und Politiker nur mit einem kollektiven Schulterzucken.

Wir haben uns an diese neue, brutale Realität, die inzwischen auch Europa eingeholt hat, gewöhnt. Wir haben mit unseren eigenen Tabus gebrochen. Wir sind abgestumpft—selbst bei erschreckenden Nachrichten, die in unmittelbarer Nähe passieren. Ein Schuss auf Schutzsuchende, mitten in Europa, 150 Kilometer von Wien entfernt, ist für uns nichts anderes mehr als ein weiterer Bombenanschlag auf einen irakischen Wochenmarkt. Das soll nicht heißen, dass uns Bombenanschläge im Irak im Gegensatz zu Schüssen auf Flüchtlinge in Europa zu Recht egal sind. Aber wenn wir einfach hinnehmen, dass die Lage mitten in Europa für Schutzsuchende genauso schlimm ist wie in langjährigen Kriegsgebieten, dann hat Europa ausgedient.

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