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Drogen

'Left Foot Right Foot' schickt die Swissness auf den Strich

Left Foot Right Foot ist grosses Coming of Age-Kino aus der Schweiz. Endlich ein Film ohne Suisse Miniature-Neurose!

Auf den ersten Blick ist Left Foot Right Foot wie La Haine in einem reicheren Land und in einer anderen Subkultur. Schnell wird klar, dass hier aber nicht ein angebliches oder tatsächliches Ghetto in die Romandie projiziert wird oder der den Trailer antreibende Skatepunk nicht eine Tony Hawk-Memorial-Feier untermalt. In Left Foot Right Foot geht es um das Erwachsenwerden. Und zwar um das richtige Erwachsenwerden, also nicht das „Ich wichse mich durch die RS"-Erwachsenwerden à la Achtung, fertig, Charlie. Left Foot Right Foot ist einer der seltenen CH-Filme, die niemand durch den Diminutiv-Suisse Miniature-Fleischwolf gedreht hat. Vielleicht der erste seit Snow White! (Womöglich erinnere ich mich auch falsch und Snow White war beschissen. Jedenfalls ist Snow White ein CH-Film, der ganz ohne Marco Rima oder Matthias Gnädinger auskommt.)

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Aber zurück zu Left Foot Right Foot: Vince skatet, belegt Pizzas, kifft und verkauft Gras. Seine Freundin Marie trippelt als Glitter-Hostess durch einen zweifelhaften Club und lässt sich von dessen Besitzer bezahlen, um ihm in zweifelhaften Fickstellungen zuzuschauen. Mika, Vinces Bruder, ist Autist, stumm und hechtet von Euphoriemoment zu Euphoriemoment. Vince und Marie nehmen Schritt für Schritt, tapsen ambitionslos durch die Stadtrandtristesse. Mika tapst auch, allerdings in einem immerwährenden Schwall aus Sinneseindrücken: Permanente Reizüberflutung, permanent schäumende Gefühle.

Regisseur Germinal Roaux ist vor allem auch Fotograf und durch seine Arbeiten ziehen sich Bilder der jeweils aktuellen Jugend(-kultur). Left Foot Right Foot ist sein erster Spielfilm. Ganz im Fiktionssektor mag Germinal ihn aber auch nicht verorten. Die blutjunge Orientierungslosigkeit hat Germinal schließlich live miterlebt: „Vor fast zehn Jahren habe ich diese Mädchen in einem Schweizer Club getroffen. Krass—die waren 18 Jahre alt und prostituierten sich. Das ist absurd. Die prostituieren sich für Accessoires!" Left Foot Right Foot beobachtet die Jugend am Seelenbazar. Auch die Graustufen wirken laut Germinal an dieser Observantenperspektive mit: „Monochromes Filmen ermöglicht einen anderen Blick als im Leben, hebt Weggabelungen hervor, Gegensätze. Ich versuche, Geschichten zu zeigen, die verschieden verstanden werden können, Lücken und stille Momente zu lassen, die dem Publikum Raum lassen." Durch die monochrome Romandie führt eine Kamera, die beobachtet und dem Geschehen Zeit lässt.

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Left Foot Right Foot hat den Swiss Film-Award für die beste Kamera eingesackt und Dimitri Stapfer den Award für den besten Nebendarsteller. Dimitri gibt im Film den Freistil-Autisten Mika: „Ich habe versucht, mich bei der Rolle nicht auf ein echtes Krankheitsbild festzufahren. Mika ist halt ein Autist mit geistiger Beeinträchtigung. Dazu habe ich auch in einem Heim geschnuppert. Mein erster Eindruck war: Die checken nichts. Mein zweiter Eindruck war: Die checken alles."

Als pogend lachende Ein-Mann-Armee untergräbt Mika das verstummte Beziehungsleben von Marie und Vince. Dimitri konnte—seinem miesen Französisch sei Dank—für die Einfühlung in die Autisten-Rolle auf die Sprachbarriere bauen. Trotzdem sei es als Mika anstrengend gewesen: „Er nimmt immer alles wahr, ist immer überall präsent. Da bewegt sich was! Von dort kommt ein Geräusch! Es war jedes Mal, wie wenn man nach drei Wochen in einer Alphütte in die Stadt zurückkommt. Dauerreizüberflutung."

Visuelle Reize, Stille und Stimmungswechsel, die im echten Leben ohne Substanzeinwirkung unmöglich sind. Bei Left Foot Right Foot hält das Publikum Schritt mit der Wahrnehmung von Vince, Marie und Mika. Jede Entscheidung—ob im Skatepark oder Club-Backstage—wird intim miterlebt. So gehen wir nochmals durch die Wirren der Postpubertät: Boarder-Kultur, Wii-Games und Handymodelle, auf denen Snake einfach vorinstalliert sein muss. Irgendwie hängt der Film einfach noch in den Nullerjahren.

Das ist aber egal, denn die Urban Outsider-Story, die der Swissness das Brett um die Ohren schlägt, ist zeitlos. Wie mir Germinal gesagt hat: „Kino ist immer im Jetzt!" Und einmal darf ein Schweizer Film auch wirklich Kino genannt werden. Kino, Cinema, genau so wie es Godard gemeint hat. Also, ab ins Kino! Bitte supportet den Gegenentwurf zu „Achtung, fertig Charlie!", damit wir die immer gleichen Marco Rima-Sketches nie wieder hören und sehen müssen.