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Reisen

​Interrail ist geil

Der Eiserne Vorhang ist nicht gefallen, damit wir jeden Abend in der Dorfdisco in unserem Heimatkaff versumpfen.

Fotos vom Autor.

Vor einiger Zeit war hier zu lesen, was Interrail doch für ein beschissener Albtraum sei. Das sehe ich anders: Interrail ist so ziemlich das Beste, was man mit vier Wochen im Sommer, ein paar zusammengesparten hundert Euro und einem riesigen Rucksack anfangen kann. Wenn man ein paar grundsätzliche Dinge beachtet, kann selbst auf einem osteuropäischen Provinzbahnhof mehr Spaß haben als beim All-inclusive-Ballermann-Urlaub oder im testosterongesteuerten, überteuerten Maturareise-Partyresort.

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Die Menschen

Man muss allein fahren. An Interrail sind schon Freundschaften zerbrochen und Beziehungen auseinandergegangen—daher ist es besser, die Freunde gleich daheim zu lassen. Du stehst also verkatert am Bahnhof, hast dein Interrail-Ticket und trägst einen Rucksack, der etwa gleich viel wiegt wie du. Und sofort spürst du eine gewisse unendliche Freiheit. Wohin nun? Am besten steigst du in den erstbesten Zug, der in eine Stadt fährt, deren Namen du gar nicht aussprechen kannst.

Keine Sorge: Man ist nie wirklich allein. Als ich letzten Sommer in meinem Hostel in Brüssel ankam, warf ich meinen Rucksack auf das Bett, und noch bevor er die Matratze berührt hatte, war ich in ein Trinkspiel mit einem Dutzend bildhübscher Schwedinnen verwickelt. Auch sonst trifft man in Hostels und Zügen garantiert immer irgendwelche lustigen Reisenden, meist Australier mit klischeehaftem Akzent und YOLO-Attitüde. Mit denen kann man sich dann über jene Interrailer lustig machen, die—schwerer Fehler!—als Pärchen unterwegs sind und nach zwei Tagen schon keine Lust mehr auf die ganze Pärchenscheiße haben.

Wer will schon romantische Instagram-Posts vor dem Eiffelturm machen, wenn man tage- und nächtelang die exotischsten Biersorten ausprobieren und die absurdesten Menschen kennenlernen kann? Ich habe zum Beispiel in Warschau mit einem Schotten Bier getrunken und ihm gespannt zugehört, als er von seinem Job erzählte: Er impft Thunfische. Ja, die daraus resultieren Unterhaltung war genau so lustig, wie man sich das vorstellt. Dann war da auch noch die klischeehafte Südstaaten-Amerikanerin, die in ihrer kompletten Reiseplanung vergessen hatte, dass der Monat Oktober existiert. Man sieht: Die interessantesten Gespräche führt man nicht daheim auf irgendeiner WG-Party oder in einem Club, sondern um 4:00 Uhr früh in einer äußerst ranzigen Kellerbar in einem zwielichtigen Viertel von Budapest.

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Der Alkohol

Dann wäre da das Thema Alkohol. Das ist natürlich ein integraler Bestandteil des Interrailens, solange man aus finanziellen Gründen gewisse skandinavische Länder meidet. Bevor sich jemand aufregt: Ja, in Paris ist Bier auch teuer, aber wer dort keinen Wein trinkt, hat was Grundlegendes nicht verstanden. Das Praktische am paneuropäischen Alkoholkonsum auf Schienen ist, dass dein Körper sich nach zwei, drei Tagen so daran gewöhnt, dass du keinen Kater mehr bekommen wirst. Zumindest für eine Weile: Der wochenlange Rauschzustand rächt sich erst dann, wenn man auf der letzten Etappe des Heimwegs die österreichische Grenze passiert und am nächsten Tag mit dem kolossalen, gesammelten Kater des gesamten letzten Monats aufwacht.

Unschlagbar ist am Interrailen auch das Preis-Rausch-Verhältnis: Einmal bin ich, sehr unausgeschlafen und mit kolossalen Kopfschmerzen, in ein Gasthaus in Prag gewankt und wollte eigentlich nur eine Kleinigkeit zu essen und ein großes, erfrischendes Glas Wasser. Der Blick auf die Speisekarte brachte eine Überraschung: 0,5 Liter Wasser um 4 Euro, 0.5l Bier um 2,50 Euro. Der erfahrene Interrailer spart natürlich, wo er kann, und so spazierte ich nach dem dritten Bier erfrischt und voller Tatendrang wieder aus dem Gasthaus und, nach einer zufälligen Begegnung mit den drei Spaniern, die ich schon in Amsterdam getroffen hatte, nicht in die Altstadt zum Sightseeing, sondern schnurstracks in die nächste Bar. Das obligatorische Urlaubsfoto von dieser berühmten Prager Brücke habe ich mir dann später bei Google besorgt.

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Das Geld

Sparen kann man nicht nur beim Alkohol, sondern auch bei den Zügen. Zu den 400 Euro für das Interrail-Ticket sollten eigentlich keine Kosten dazukommen, denn: Sitzplatzreservierungen und blitzsaubere Hochgeschwindigkeitszüge sind für Snobs und zerstören das klassische Interrail-Feeling. Professionelle Interrailer bevorzugen die langsameren, aber viel charmanteren Provinzzüge, mit denen man zwar mal das Dreifache an Reisezeit benötigt, dafür aber unendlich mehr Spaß hat.

Ein italienischer Eisenbahnstreik und serbischer Schienenersatzverkehr sind nämlich lustiger, als sie zunächst klingen. Und in Frankreich kann eh niemand Englisch, also wäre es auch gar nicht möglich, am Bahnhofsschalter eine sündteure Reservierung für den TGV zu kaufen. Einzige Ausnahme zu dieser Regel: In Osteuropa gibt es Plätze in 6-Bett-Abteilen in einem Nachtzug zu einem Preis, um den man in Österreich nicht einmal ein großes Bier bekommt. Das kann man sich dann schon gönnen, vor allem, wenn eine Nacht-Zugfahrt von Krakau nach Budapest in einem Abteil draus wird, das außer dir und einer weltoffenen Kanadierin nur von mehreren Flaschen Billigwein belegt ist.

Die Unterkünfte

Mit Nachtzügen kann man sich übrigens auch die Kosten für eine Übernachtung im Hostel sparen, das ist aber kontraproduktiv: denn genau dort spielt sich der ganze Spaß ab. Wenn du spontane Pärchenbildung im Stockbett über dir, vereinzelte Haare in der Gemeinschaftsdusche und mittelmäßigen Instant-Kaffee verkraften kannst, sind Hostels nämlich das Beste, das dir passieren kann.

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Dort lernst du die lustigsten Leute kennen, spielst die lustigsten Trinkspiele und wirfst schlussendlich deine gedanklichen Pläne über den Haufen, um die nächsten zwei Wochen mit den brasilianischen Hippies, die du erst seit sieben Bier und zwei Stunden kennst, zu verbringen. Im Idealfall gibt es auch einen Welcome Shot, Frühstück und WLAN—und mehr braucht man im 21. Jahrhundert nicht, um glücklich zu sein.

Der Haken

Manche Kleinigkeiten muss man natürlich beachten. Zum Beispiel die Tatsache, dass in der Pariser Metro die Ticketautomaten hinter der Absperrung stehen. Wenn man drüber springt, interessiert es aber auch niemanden, nicht einmal die Soldaten, die dort an jeder Ecke stehen. Oder die Tatsache, dass man sich auch an die Gesetze der anderen Staaten halten sollte (ein Hinweis, der übrigens genau so in US-amerikanischen Reisepässen steht—falls ihr noch einen Grund braucht, um euch über Amerikaner lustig zu machen).

Besondere Vorsicht ist beim Öffnen von Weinflaschen geboten: Als ich das an einer Hauswand in einer dunklen Seitenstraße in Rom versucht habe, war ich plötzlich mit einem Maschinengewehr vor meinem Gesicht konfrontiert. Wie sich schlussendlich herausstellte, darf man seinen Billigfusel nicht durch gezielte Schläge gegen das britische Botschaftsgebäude öffnen. Man sieht: Beim Interrailen lernt man fürs Leben.

Die No-Gos

Manche Städte solltest du dir vielleicht sparen, um Zeit, Geld und Nerven zu schonen. Venedig etwa kann man in 10 Minuten erledigen. Aus dem Zug aussteigen, das Bahnhofsgebäude verlassen, einen Kanal sehen, sich „Aha, ein Kanal" denken, umdrehen, und in den nächsten Zug nach Florenz steigen. Zack, alles gesehen, was es in Venedig zu sehen gibt. Oder Amsterdam: Cool, schmale Häuser. Gibt's in anderen Städten auch. Cool, kiffen. Kann man in anderen Städten auch. Cool, eine seltsam klingende Variante der deutschen Sprache. Dafür muss man nicht einmal Österreich verlassen.

Verbring lieber Zeit in ranzigen, post-sowjetischen Städten wie Prag, Danzig, Budapest oder Krakau. Dort bekommst du mehr Bier für dein Geld, und außerdem sind diese Städte jetzt total in—was praktisch ist, falls du nach dem Urlaub vor euren Schnösel-Freunden dann angeben willst, wie toll du doch das postmodernistisch-gentrifizierte jüdische Viertel von Krakau fandest.

Ja, es ist anstrengend. Ja, man braucht danach mindestens zwei Wochen Erholung und ist froh um ein Bett, das sich nicht auf Schienen bewegt, in einem Zimmer, in dem nicht acht andere Leute schlafen, von denen mindestens zwei gerade lautstark Sex haben. Ja, man könnte das Geld auch in ein Netflix-Abo, das nächste Semesterticket oder einfach in das Stammlokal um die Ecke investieren. Aber dann erlebt man auch nix. Dann kann man sich nicht immer mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht an den Abend zurückerinnern, an dem man mit seinen neuen besten Freunden in Paris am Montmartre saß, Bordeaux aus der Flasche genoss und während des Sonnenuntergangs einer Straßenmusikerin lauschte.

Dann wird man auch nicht dieses eine Lied haben, das einen bei jedem Anhören wieder an den polnischen Ostseestrand zurückversetzt, wo man zwischen den sandigen Dünen picknickte und keinen einzigen Gedanken an den nächsten Tag verschwendete. Der Eiserne Vorhang ist nicht gefallen, damit wir jeden Abend in der Dorfdisco in unserem Heimatkaff versumpfen—also kauft euch ein Interrail-Ticket und setzt euch in den nächstbesten Zug, ihr werdet es nicht bereuen.

Stefan auf Twitter: @StefanHechl