Ich brauche einen Kaffee. Und ich muss ihn mir schnorren. Das ist meine Mission für diesen Tag. Ich darf keinen einzigen Cent ausgeben und darf dabei nicht: erfrieren, verdursten oder auf andere Art und Weise sterben.
Ich gehe ein kleines Stück die Pichelsdorfer Straße in Spandau runter. Nicht, weil man da besonders toll schnorren könnte. Ich wohne da halt und irgendwo muss ich ja anfangen. Ich versuche mein Glück im Café Pause. Verlegen frage ich die Frau hinter dem Tresen, ob ich mir einen Kaffee schnorren könnte. “Ja klar”, antwortet sie sofort und ich freue mich. Sie füllt mir meinen Becher randvoll. “War das alles?” Ich nicke. “Zwei Euro, bitte.”
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Mist. Sie muss mich falsch verstanden haben. Ich wiederhole meine Frage vom Anfang. “Achsooo”, sagt sie und klopft mit der Hand auf den Tresen. “Ja, ist okay. Hab einen schönen Tag.”
Glücklich und ein bisschen stolz verlasse ich den Laden. Mit so schnellem Erfolg habe ich nicht gerechnet. Auf die Idee, mich durch einen ganzen Tag zu schnorren, bin ich gekommen, weil es mir grundsätzlich unangenehm ist, andere nach Geld oder einer Zigarette anzuhauen. Obwohl ich selbst immer teile. Also will ich herausfinden, wie es sich anfühlt, bei allem, was man den Tag über so braucht, auf andere zugehen zu müssen. Der Kaffee in meiner Hand ist mein erster Erfolg. Aber er ist auch ein erster Hinweis auf eine Erkenntnis, die mich am Ende dieses Tages treffen wird wie ein Faustschlag.
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Ich muss zur Arbeit.
Ich laufe an Menschen vorbei, die auf den Bus warten, den ich nicht nehmen kann, und stelle mich an die Straße. Die zwei Kilometer bis zum nächstgelegenen Bahnhof will ich nicht laufen, aber ich bin vorbereitet. Ich ziehe aus meinem Beutel ein Schild mit der Aufschrift “RATHAUS SPANDAU” und warte. Der Wind ist beschissen kalt und ich Idiotin habe meine Handschuhe vergessen. Kleine, große, rote, schwarze Autos fahren an mir vorbei und in mir steigt Angst auf. Es könnte ewig dauern, bis mich jemand mitnimmt.
Plötzlich hupt es. Ein kleiner roter Citroën hält kurz hinter der Ampel. Das waren vielleicht drei Minuten. Ich quetsche mich auf die Rückbank des wohlig warmen Kleinwagens. Meine Retterin ist eine sehr nette Frau, Mitte 50 vielleicht. Ihr Vater, um die 90, sitzt samt Yorkshire-Terrier auf dem Beifahrersitz.
Auf der Fahrt zum Rathaus erzählt sie mir freudestrahlend, dass sie das Auto erst seit einem Tag hat und wie glücklich sie darüber ist. Da ich bereits im Auto sitze, beschließe ich, ihr von meinem Experiment zu erzählen. “Ach, na Mensch. Da hast du ja Glück gehabt, dass ich so schnell angehalten habe.” Recht hat sie. Und als wäre das nicht schon genug gewesen, fängt sie an, in ihrer Tasche zu kramen. Sie dreht sich um und drückt mir fünf Euro in die Hand.
Das ist doch absolut verrückt. Ich habe damit gerechnet, dass ich Menschen finden werde, die mir helfen, da ich selbst ein Mensch bin, der andere gerne unterstützt. Aber innerhalb so kurzer Zeit so viel Unterstützung – mir fehlen die Worte. Am Rathaus angekommen bedanke ich mich mehrmals und winke ihr zum Abschied.
Ich hätte nicht gedacht, wie schnell Leute ihren Geldbeutel für mich öffnen
Es ist 9.30 Uhr, als sich meine Nikotinsucht das erste Mal meldet. Aus Erfahrung weiß ich, dass das die leichteste Übung ist. Die erste Passantin, die raucht, wird angeschnorrt. Tabak und Zigaretten zu teilen, tut den meisten Menschen nicht weh. Raucher sind grundsätzlich solidarische Menschen.
Die geschnorrte Zigarette schmeckt hervorragend zu meinem geschnorrten Kaffee. Ist wie Freibiertrinken bei der Büroweihnachtsfeier.
Ich habe bereits fünf Euro für das Tagesticket zusammen. Bisher war alles easy und ich habe das Gefühl, mich kann niemand aufhalten. Dann knurrt mein Magen. Kein Wunder, um mich herum duftet es nach Brötchen und Croissants.
Ich versuche mein Glück beim Brötchen-Discounter Backwerk und frage nach Resten vom Vortag. Der Strategiewechsel von offensiv-dreist zu bescheiden scheint mir hier erfolgversprechender. “Übrig Gebliebenes wird bei uns am Abend abgeholt”, sagt mir die Verkäuferin. Die erste Enttäuschung des Tages.
Ich verlasse den Laden und steuere eine Dunkin’-Donut-Filliale an. Der Laden ist leer, was ich als Vorteil sehe. Dann können der Verkäufer und ich zu Komplizen werden, ohne dass uns Zeugen beobachten. Der verschwundene Donut – das perfekte Verbrechen. Doch auch hier wird das alte Gebäck am Abend abgeholt. Dieses Mal lasse ich nicht locker. “Ich habe leider kein Geld dabei”, sage ich und versuche einen Hundeblick. Gucken wie ein unschuldiger Welpe klappt bei Papa auch immer, wenn ich etwas haben möchte. “Ja, komm, dann such dir einen aus.” Jawoll! Ich will nicht komplett übertreiben, deshalb entscheide ich mich für einen einfachen “Toasted Coconut” ohne Schnickschnack und verlasse den Laden.
Mit etwas im Magen kann ich mich wieder um mein Tagesticket kümmern. Ich habe mir drei verschiedene Strategien überlegt. Die Schild-Nummer, die klassische “Haste-mal-ne-Mark”-Masche oder Lügen wie ein Claas Relotius. Ich laufe die Treppen zum Bahnsteig hoch und hole erneut mein “RATHAUS SPANDAU”-Schild heraus. Auf der Rückseite steht “Arme Studentin braucht Geld für Bahnticket <3”, wie gesagt, ich bin vorbereitet.
Die Regio ist gerade weg und ein paar Passagiere sind auf dem Weg nach unten. Ich gehe auf das erste Paar zu, das mir entgegen kommt und – ja wirklich – beginne zu betteln. Sie sehen mein Schild und schmunzeln. “Wie viel brauchst du denn?”, fragt mich die Frau und drückt mir die fehlenden Münzen in die Hand, nachdem ich ihr “zwei Euro” sage.
Ich hätte, wenn nötig, um Cent-Beträge gebettelt. Aber dass ich innerhalb von einer Stunde erfolgreich Kaffee, Donut, Zigarette, Geld und eine Fahrt zum Bahnhof erschnorre, das hätte ich nicht gedacht.
So muss sich Beyoncé fühlen, denke ich, als ich den Betrag für mein Tagesticket in den Automaten werfe.
Auf dem Weg runter in den U-Bahnhof laufe ich an einer Reihe Wohnungsloser vorbei. Im Waggon holt mich mein Gewissen ein. Was für mich ein Arbeitsprojekt mit Spaß an der Herausforderung ist, ist für andere Menschen bittere Realität. Und dabei rede ich nicht allein von Menschen, die obdachlos sind. In Deutschland ist rund jeder fünfte Mensch von “Armut oder sozialer Ausgrenzung” bedroht. 30 Prozent der Arbeitslosen haben Schwierigkeiten, jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit zu bezahlen.
So ist es also als Journalistin – die Zeit anderer mit Füßen treten?
Im Büro angekommen setze ich mich hinter meinen PC und beginne, zu arbeiten. Damit die Sache authentisch bleibt, ist nur mein Chefredakteur in meine Aktion eingeweiht.
Für die Suche nach meinem kostenlosen Lunch teilt mir mein Chefredakteur meinen Gönner zu. Das erste Mal an diesem Tag, dass es wirklich knifflig wird.
Der Auserwählte ist mein Kollege Matern. “Oh fuck”, denke ich mir, als ich den Namen lese. Unser längstes Gespräch bis dahin drehte sich um einen Vogel, dem Franzosen gerne die Augen ausstechen, weil er sich dann selbst mästet. Ihr seht das Problem? Ich muss mir also einen Vorwand ausdenken, um ausgerechnet von ihm mein Mittagessen zu bekommen.
Also, worüber bekommt man einen Journalisten zu fassen? Richtig. Indem man sein Ego streichelt! Ich schnappe mir einen Artikel, an dem ich schon länger sitze, ohne voranzukommen (es geht um geklaute Einkaufswagen) und fange Matern vor der Tür beim Rauchen ab.
Ich erzähle ihm davon, dass das Thema keine gesellschaftliche Relevanz hat, ich den Text aber gerne veröffentlichen würde. Deshalb bräuchte ich einen klugen Dreh.
“Klar, ich gucke mal drüber, zeig mir einfach mal deinen Text.”
“Ich dachte, wir könnten darüber vielleicht beim Essen reden?”, frage ich mit einem Lächeln.
“Ich weiß gar nicht, ob ich heute Pause mache.”
Es kostet mich drei weitere Versuche, bis er sich endlich darauf einlässt. Ich glaube, es war der Satz “Ich hatte gehofft, du lädst eine arme Praktikantin zum Essen ein”, der ihn überzeugte. Oder vielleicht der ganze Honig, den ich über ihn gekippt habe, um ihm zu schmeicheln. Was es auch war, um 13.30 Uhr haben wir unser Lunchdate. Kurz davor geht er raus zum Telefonieren.
Ich habe Angst, er könnte nicht mehr wiederkommen. Eine Nachricht an unseren Chef schreiben, dass er ab jetzt im Home Office ist, weil die kleine blonde Journalistin zu aufdringlich wurde.
Entgegen meiner Befürchtung holt Matern mich nach seinem Anruf ab. Er muss noch schnell Geld abheben, bevor wir beim Thai um die Ecke die “Winter Bowl” zum Mitnehmen bestellen. “Zusammen”, sagt er und hält der Bedienung einen 20er hin. I FCKNG MADE IT! Jetzt muss ich nur noch das Essen durchhalten.
Während wir Reis mit Hühnchen futtern, erklärt er mir, wie ich meinem Text, den ich nie beenden werde, Struktur verleihe. Ich nicke interessiert und streue hier und da noch Sätze wie “Das wäre mir nie eingefallen” ein. Der Bluff ist perfekt.
Mit vollem Bauch rauchen wir noch eine (geschnorrte) Zigarette und gehen zurück an die Arbeit. Als er mir später am Nachmittag mit einem fragenden Lächeln einen Daumen nach oben zeigt, packt mich das schlechte Gewissen. So ist es also als Journalistin? Menschen für meine Artikel benutzen, ihre ehrlich investierte Zeit mit Füßen treten?
Als ich mir bewusst wird, warum ich es so einfach habe, wird mir übel
Nicht das erste Mal an diesem Tag frage ich mich, ob ich so erfolgreich gewesen wäre, hätte ich auf Notlügen und mein Lächeln verzichten müssen. Ich will das gegenchecken und es mit anonymer Ehrlichkeit versuchen. Und wo ginge das besser als auf Jodel? Ich greife zum Smartphone und öffne die App.
“W/24 sucht Einladung zum Abendessen. Nähe Jannowitzbrück oder Ostkreuz.”
Die bittere Realität des Internet erreicht mich innerhalb der ersten 30 Sekunden. Fünf sehr deutliche Kommentare geben mir zu verstehen, dass aus meinem Abendessen über diesen Weg nichts wird. Einer fragt mich, ob wir im 21. Jahrhundert leben, ein anderer, ob er “ihn auch reinstecken” darf, wenn er mir etwas kauft. Nein, darfst du nicht. Ich bin zu für dich, du kleiner trauriger Sexist.
Ich bin enttäuscht, aber wenig überrascht. Es schreien zwar immer alle, dass sie absolute Offenheit gut fänden. Konfrontiert man sie aber damit, können viele anscheinend doch nicht damit umgehen.
Also doch zurück zu meinen kleinen Notlügen, denn ich möchte ungern mit leerem Magen schlafen gehen.
Ich probiere es in einem Supermarkt. Nach meinem reichlichen Mittagessen ist mir jetzt eher nach Salat. Ich greife einen “Ready-to-eat”-Salat mit Käse und Schinken und einen Joghurt mit frischen Früchten. Nachtisch muss sein!
Ich laufe Richtung Kasse und beobachte die Personen. Wer wird sich erbarmen? Wie lange brauche ich, bis ich jemanden finde? Im Gang mit den Konserven steht eine Frau und liest sich die Zutatenliste eines Eintopfs durch. Ohne Zögern gehe ich auf sie zu.
“Entschuldigen Sie, würden Sie meinen Einkauf mitbezahlen?” Die Frau schaut irritiert auf. “Äh, warum?”
“Ich habe heute kein Geld zur Verfügung.”
“Wie viele Sachen hast du denn?”, fragt sie.
Ich zeige ihr Salat und Joghurt und sie stimmt zu. “Das kann jedem Mal passieren”, sagt sie und lächelt. Wir stellen uns gemeinsam an die Kasse und ich lege meinen Einkauf zu ihrem. Wir reden kein Wort.
Sie hat Recht, das kann jedem Mal passieren. Aber es scheint mir nach allem, was ich heute erlebt habe, eine Grenze für “Jeden” zu geben. Die Frau, mit der ich in der Warteschlange stehe, und alle anderen, die ich heute angeschnorrt habe, scheinen sich mit mir identifiziert zu haben. Nach dem Motto: “Seinesgleichen hilft man gern.”
Als ich das realisiere, wird mir übel.
Mir wird in diesem Moment deutlich, dass ich unglaublich privilegiert bin. Nur weil ich halbwegs ordentlich gekleidet und zurecht gemacht aussehe und mich vernünftig ausdrücken kann, vertrauen mir die Menschen.
Ich würde am liebsten im Boden versinken. Nicht, weil es mir unangenehm ist, sie gefragt zu haben oder ich die peinliche Stille nicht aushalte. Mir wird in diesem Moment deutlich, dass ich unglaublich privilegiert bin. Und wie selbstverständlich das im Alltag für mich ist. “Selbstverständlich” soll nicht heißen, dass ich mich nie damit auseinandersetze. Ich habe Schulbildung, ein stabiles Elternhaus und weiß, dass es mir sehr, sehr gut geht. Ich habe die Privilegien, die mit meinem Leben verbunden sind, auch schon zu meinem Vorteil ausgespielt. Aber so deutlich mit der Nase drauf gestoßen wird man eben nicht täglich. Da muss man erst ein Experiment machen, man denkt, es wird lustig – und am Ende ist da nur bittere Selbsterkenntnis.
Nur weil ich halbwegs ordentlich gekleidet und zurechtgemacht aussehe und mich vernünftig ausdrücken kann, vertrauen mir die Menschen. Sie glauben nicht, dass ich sie anlügen würde. Einerseits ist es natürlich schön, zu erleben, dass einem geholfen wird, wenn man in Not ist. Andererseits weiß ich, dass es viele Menschen, die darauf wirklich angewiesen sind, nicht so einfach haben. Menschen, die stinken, die mit Heroinkater durch die Stadt torkeln, denen niemand auch nur fünf Cent gibt.
Mit diesem Gedanken und meinem lächerlichen Salat und Joghurt laufe ich auf den Ausgang zu. An der Bäckertheke bezahlt gerade ein Mann mit Ein-Cent-Stücken zwei trockene Brötchen.
Ich warte vor der Tür auf ihn und frage, ob er mein Essen haben möchte. Er nickt und steckt es in seine Tüte. Jetzt fühle ich mich immerhin ein bisschen weniger beschissen. Die Lust am Schnorren ist mir vergangen.
Den ursprünglichen Plan, mich in einer Bar auf ein Getränk einladen zu lassen, verwerfe ich. Mein Feierabendbier zahle ich selbst. Auch wenn ich damit die Aufgabe verfehlt habe, ich brauche jetzt ehrlichen Geschmack.
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