Wir haben mit den einzigen Schweizern gesprochen, die ein Grundeinkommen bekommen

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Bedingungsloses Grundeinkommen

Wir haben mit den einzigen Schweizern gesprochen, die ein Grundeinkommen bekommen

Carole und Konrad bekommen während 12 Monaten je 30.000 Franken. Dafür geben sie es aus.

Den ganzen Tag am Pool liegen und sich lächelnd mit Hunderternoten Wind zufecheln – so zu leben, kann man den ersten zwei Schweizern, die ein bedingungsloses Grundeinkommen bekommen, schon mal nicht vorwerfen: Konrad ist für unser Videointerview nur am Wochenende verfügbar, da der gelernte Zimmermann zu beschäftigt ist, mit seinem Foodtruck brasilianische Spezialitäten zu verkaufen. Auch Carole, die Zweite mit uneingeschränktem Grundeinkommen, ist nur schwer erreichbar. Sie befindet sich gerade in Peru, wo sie mit Einheimischen an einem Projekt für nachhaltige Schokolade arbeitet und dafür bald in den Dschungel abtauchen wird.

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Dass die Schweizer für ein Jahr ein bedingungsloses Grundeinkommen von monatlich je 2.500 Franken ausbezahlt bekommen, haben sie dem Zürcher Verein "Grundeinkommen für dich" zu verdanken. Dieser sammelte im Mai 2016 in einem Crowdfundig erfolgreich Geld für den Pilotversuch. Konrad und Carole wurden zufällig als Begünstigte aus einem Topf von Interessenten ausgewählt. Weitere Verlosungen sind geplant. Obwohl das Schweizer Stimmvolk einen Monat danach eine Initiative zum bedingungslosen Grundeinkommen mit einer Mehrheit von 77 Prozent ablehnte, ist das Interesse am Konzept ungebrochen, denn die praktische Umsetzung kann in unzählige Richtungen gehen. Es stellen sich Fragen wie: Kann das Grundeinkommen die Pension ersetzen? Macht es glücklich? Sollten ein Kind und ein Erwachsener gleich viel Grundeinkommen bekommen? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, gibt es in Österreich, Deutschland, Finnland und der Stadt Zürich mehr oder minder ausgereifte Pilotprojekte.

Die beiden Grundeinkommen-Gewinner aus der Schweiz haben im Gespräch mit VICE erzählt, welches Fazit sie nach über einem halben Jahr Grundeinkommen ziehen.

VICE: Hi Carole, du bekommst seit dem Sommer 2016 jeden Monat einfach so 2.500 Franken ausbezahlt. Was hast du bis jetzt mit deinem bedingungslosen Grundeinkommen angestellt?
Carole: Kurz nachdem ich diesen unglaublichen Gewinn gemacht hatte, leistete ich mir ein neues schönes Velo. Mein alter Drahtesel war am verlottern und da ich jeden Tag mit dem Velo unterwegs bin, war dies eine dringende Investition. Geplant war sie sowieso, aber das Grundeinkommen hat den Kauf etwas beschleunigt. Aktuell bezahle ich meine Lebenskosten mit dem Grundeinkommen, weil ich seit September wieder Studentin bin. Bis im Februar war ich in Zürich, nun lebe ich für acht Monate in Peru und mache hier einen Projekteinsatz im Rahmen meines Studiums "Entwicklung und Zusammenarbeit".

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Was für ein Einsatz ist das genau?
Ich arbeite hier in Peru mit der Bauernkooperative "Choba Choba" im nördlichen Amazonasgebiet. Die 36 Kleinbauernfamilien, welche im Moment Teil des Projekts sind, leben sehr abgeschieden und sind umgeben von fast unberührtem Urwald. Sie produzieren Bio-Kakao und verkaufen diesen an die gleichnamige Berner Schoggi-Firma. Meine Aufgabe besteht darin, die aktuelle sozio-ökonomische Situation im Alto Huayabamba-Tal systematisch zu erfassen, damit die Veränderung der kommenden Jahre mit der Situation kurz nach Projektbeginn verglichen werden kann. Ich lebe also im Moment zusammen mit den Bauern in ihren Dörfern fernab von Internet, Handynetz und Strassen, stapfe in hohen Stiefeln mit ihnen durch die Kakaofelder und lerne sehr viel über ihre aktuellen und vergangenen Lebens- und Arbeitsumstände. Das Leben hier ist natürlich nicht vergleichbar mit dem urbanen Dasein in Zürich, aber sehr beeindruckend und lehrreich.

"Das Grundeinkommen ist die einzige sinnvolle Antwort darauf, dass arm und reich immer weiter auseinanderdriften."

Hi Konrad, auch du bekommst ein bedingungsloses Grundeinkommen, für was hast du es bis jetzt verwendet?
Konrad: Ich bin selbständiger Zimmermann und betreibe nebenbei zusammen mit meiner Frau und einem Freund einen Foodtruck in Genf. Dafür habe ich bis jetzt den Grossteil des Grundeinkommens verwendet. Es kam gerade zur richtigen Zeit. Meine Frau ist nun schwanger und kann nicht mehr voll arbeiten, darum ist das jetzt gerade sehr praktisch.

Was zieht ihr für ein Fazit aus eurer bisherigen Zeit mit dem Grundeinkommen?
Carole: Es kam genau zum richtigen Zeitpunkt! Zwei Wochen nachdem ich vom Gewinn erfahren hatte, wurde ich in das Studienprogramm an der ETH aufgenommen. Es hat mir mein Leben als Studentin enorm erleichtert. Mit Anfang 20 arbeitete ich neben meinem ersten Studium rund 40 Prozent im Gastgewerbe, um über die Runden zu kommen. Das hat mir zwar gefallen, war aber auch wahnsinnig streng. Nun bin ich nach ein paar Jahren im Erwerbsleben erneut Studentin und kann es mir leisten, mich voll aufs Studium zu konzentrieren.
Konrad: Es ist super! Ich war schon vorher ein grosser Fan des Grundeinkommens. Es ist die einzige sinnvolle Antwort darauf, dass arm und reich immer weiter auseinanderdriften. In manchen Ländern Südamerikas ist die Lage teilweise so dramatisch, dass du nicht auf die Strasse gehen kannst, ohne Angst haben zu müssen, gleich ausgeraubt zu werden. Viele Menschen leben in blanker Not und sind von der Gesellschaft ausgeschlossen. Hierzulande gibt es zwar Sozialsysteme, die solche Zustände verhindern sollen, diese sind aber extrem verwaltungsaufwändig und zumindest in meinem Heimatland Deutschland oft stigmatisierend.

Gibt es etwas, das ihr im Nachhinein anders machen würdet?
Carole: Nein, eigentlich nicht. Wären meine Lebensumstände anders gewesen, hätte ich den Gewinn vielleicht weitergegeben oder mit meinem Freund eine grosse Reise gemacht. Aber letztes Jahr habe ich meine ganze Zeit und Energie in unser Start-up-Projekt "Crowd Container" gesteckt, bei dem es darum geht, dass Konsumenten direkt von Lebensmittelproduzenten kaufen können und ein Studium begonnen, da konnte ich diesen Zustupf wahnsinnig gut gebrauchen.
Konrad: Ich bin mit all meinen Entscheidungen zufrieden.

Wie denkt ihr, würde sich die Schweizer Gesellschaft verändern, wenn jeder ein bedingungsloses Grundeinkommen bekommen würde?
Carole: Zuerst möchte ich klarstellen: Ich habe ein einjähriges Grundeinkommen gewonnen, nicht ein lebenslängliches. Wie sich unsere Gesellschaft verändern würde, hängt von unzähligen Faktoren ab. Inwiefern würde das Grundeinkommen unsere Sozialsysteme ersetzen? Wie würde das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und -nehmer neu definiert werden? Und vor allem: Wer hätte Anrecht auf ein Grundeinkommen? Es gäbe eine ganze Reihe an politischen Herausforderungen. Doch ich bin überzeugt, dass die meisten Schweizerinnen und Schweizer weiterarbeiten würden. Auf der faulen Haut liegen ist super für ein paar Tage oder Wochen, nicht jedoch für Monate oder Jahre. Dass die Notwendigkeit besteht, soziale Ungleichheit zu reduzieren, davon bin ich absolut überzeugt. Vielleicht ist das bedingungslose Grundeinkommen ein mögliches Instrument dafür. Die Problematik der sozialen Ungleichheit ist aber natürlich nicht national, sondern global.
Konrad: Die Mehrheit der Schweizer würde sicher weiterarbeiten, aber sicher gäbe es auch solche, die nicht mehr arbeiten. Die gibt es ja immer. Aber ich bin davon überzeugt, dass der Mensch nicht damit zufrieden ist, einfach auf der Couch zu sitzen. Ausserdem würde es vielleicht helfen, dass man sich in der Schweiz nicht mehr so extrem über seine Arbeit definiert. Das Sein könnte in den Vordergrund treten. Und echte produktive Arbeit, die einen Mehrwert für die Gesellschaft oder den Einzelnen bringt, bekommt dann vielleicht mehr Wert. Ich denke da an Krankenschwestern, Handwerker, Bauern und alle die dafür arbeiten dass wir gesund sind, ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen haben.

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