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wir werden alle nicht jünger

War es das, Rafa?

In den letzten 10 Jahren galt: Rafael Nadal ist Mad Max und Roland Garros sein Thunderdome. Doch dieses Jahr wäre ein erneuter Triumph des Spaniers fast schon eine kleine Sensation. Denn Nadal steckt in einer tiefen Krise.
Photo by Geoff Burke-USA TODAY Sports

Es beginnt immer damit, dass Rafael Nadal an seinem Shirt zupft. Erst an der linken Schulter und dann an der rechten. Anschließend ist die Nase dran, bevor er sich über das linke Ohr streicht, erneut an der Nase zupft und sich zum Abschluss auch noch über das rechte Ohr streicht. Dieses Ritual wiederholt Nadal vor jedem Aufschlag. Was dazu führt, dass es Zuschauer pro Match ein paar hundert Mal zu sehen bekommen—und die Zahl bei einem Major-Turnier mit seinen 5-Gewinnsätzen schnell in die Tausende geht.

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Dass einer der besten Tennisspieler der Geschichte ein sechsstelliges Passwort braucht, um seinen Aufschlag abzufeuern, ist eine Eigenheit, die in der Sportwelt ihresgleichen sucht. Was diese Eigenheit über Nadal aussagt, hängt am Ende vor allem vom Blickwinkel des Betrachters ab. Für gewöhnlich wird sie als Ausdruck seines Genies interpretiert, ganz nach dem Motto, dass Genie und Wahnsinn dicht beieinander liegen. Darum, so die Logik weiter, wäre es auch verrückt, wenn Nadal nicht irgendwie verrückt wäre. Denn dieser mit Ticks übersäte Bursche ist der König auf dem Sandplatz, der wohl beste Tennisspieler, den es jemals auf diesem Belag gegeben hat. Mit seinen 14 Grand-Slam-Titeln muss er sich nur Roger Federer geschlagen geben, der auf insgesamt 17 Titel kommt, doch im direkten Vergleich mit dem Spanier meistens das Nachsehen hat. Nadals Talent ist so überragend und einzigartig, dass man ihm seine nervigen Eigenheiten nicht nur verzeiht, sondern ihm diese sogar mittlerweile als eine Art Markenzeichen anrechnet.

Am vorletzten Sonntag hat Nadal im Finale der Madrid Open klar in zwei Sätzen (3:6, 2:6) gegen den Briten Andy Murray verloren und dadurch für ein kleines Beben in der Tenniswelt gesorgt. Da er nämlich nicht seinen Titel aus dem Vorjahr verteidigen konnte, rutschte der Spanier erstmals seit zehn Jahren (!) aus den Top 5. Es war seine schlimmste Sandplatz-Niederlage seit elf Jahren. Doch damit nicht genug: Am letzten Freitag flog er zudem gegen den Schweizer Stan Wawrinka im Viertelfinale der Italian Open aus dem Turnier, erneut ohne eigenen Satzgewinn (6:7, 2:6). Es war schon seine fünfte Schlappe dieses Jahr auf Sand—womit er schon Mitte Mai mehr Niederlagen auf seinem Lieblingsbelag „gesammelt" hat als im gesamten letzten Jahr (und in den Jahren bis 2003 davor). Mit anderen Worten: Rafael Nadal steckt in einer Krise, und das zu einer echten Unzeit, denn schon nächsten Sonntag beginnen die French Open.

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Früher oder später musste so ein Einbruch aber kommen, schließlich steht der Spanier für ein extrem physisches Spiel. In den letzten Jahren hatte er sich immer wieder verletzt, mal am Knie, dann am Handgelenk. Doch anstatt die Verletzungen wirklich auszuheilen, ist er—sobald es wieder irgendwie ging—schon nach kurzer Pause auf den Court zurückgekehrt. Vor Kurzem hat er in einem Interview zugegeben, dass sein Selbstvertrauen aktuell im Keller steckt, was für einen Spieler, der wohl wie kaum ein anderer für mentale Stärke steht, eine echte Hypothek darstellt. Die deutliche Niederlage gegen Murray hat zwar für große Schlagzeilen gesorgt, wirklich überraschend kam sie für Tennisexperten aber nicht. Denn schon seit Monaten konnte man beobachten, wie die Formkurve beim Spanier steil nach unten geht.

Dieses Foto steht so ziemlich für die letzten zehn Jahre im Sportlerleben des Rafael Nadal. Foto: Susan Mullane—USA TODAY Sports

Zu seinen besten Zeiten vermochte es Nadal, die größten Strapazen kinderleicht aussehen zu lassen. Der schweißtreibende Kampf um jeden Ball ging ihm so leicht von der Hand, dass es fast schon was von Kunst hatte. Doch diese Leichtigkeit ist ihm schon vor rund einem Jahr abhanden gekommen. Was vorher noch scheinbar mühelos glücken wollte, sieht jetzt nach harter, mühsamer Arbeit aus. Nur seine Ticks sind geblieben. Doch jetzt, wo es beim Spanier partout nicht mehr so laufen will, fallen einem seine Macken irgendwie noch mehr auf. Kaum bleiben die Erfolge aus, fällt es schwerer, sie zu romantisieren, sie als Ausdruck seines Genies zu werten. Jetzt sieht es mehr nach nervösem Rumgehampel aus, das man eben macht, wenn man sich in einer unangenehmen Situation befindet.

Als Murray Nadal über den Platz scheuchte und ihm immer und immer wieder den Aufschlag abnahm, konnte keiner mehr leugnen, dass Nadal in einer Krise steckt—einer Krise mit sich selbst. Er wirkte wie ein Mann, der verzweifelt versucht, sein Gleichgewicht zurückzugewinnen, dabei aber größtenteils scheitert. Auch dieses Mal versuchte er, qua seines unbändigen Willens das Spiel zu biegen, so wie er es unzählige Male in der Vergangenheit mit Erfolg gemacht hat. Doch er fand in Murray fast stets seinen Meister. Glückte ihm mal ein Rückhand-Slice, versagte ihm beim nächsten Aufschlagspiel prompt der Volley. Keiner der Anwesenden konnte wirklich behaupten zu wissen, wo der nächste Ball von Nadal landen würde (und dieses Mal war das kein Kompliment für sein Spiel). Und das Schlimme ist: Wahrscheinlich nicht mal er selbst.

Dass wir uns gerade jetzt Gedanken, um Nadals Spiel machen müssen, hat schon etwas Ironisches. Denn Ende Mai ist eigentlich die Zeit, in der Nadals Brust geschwollener nicht sein könnte. Die French Open stehen schließlich vor der Tür, also das Turnier, das er in den letzten zehn Jahren unglaubliche neun Mal für sich entscheiden konnte. Leicht überzeichnet könnte man auch sagen: Nadal ist Mad Max und Roland Garros sein Thunderdome. Eigentlich. Doch zu behaupten, dass der Titel auch 2015 nur über den Spanier gehen würde, grenzt an einen Anachronismus.

Von den letzten 41 Major-Titeln gingen 37 an Nadal, Federer, Murray und Djokovic. Einer von den Vieren wird es am Ende wohl auch in Paris machen. Doch zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit wäre ein Sieg von Rafael Nadal in Roland Garros zumindest wieder eine große Schlagzeile wert—und das allein ist schon fast eine kleine Sensation.