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Körper

Von Korsetttraining bis Solarium: Wie wir alle unsere Körper modifizieren

„Jeder, der glaubt, sein Körper sei natürlich, macht sich selbst etwas vor." Eine Korsettträgerin und ein Soziologe erklären, warum die Menschheit davon besessen ist, ihren Körper in eine „perfekte“ Form zu pressen.
Photo by Erik Fitzpatrick via Flickr

Um eine schmalere Taille zu bekommen, folgen manche Leute dem großen Trend aus dem Jahr 2006 und legen sich einen billigen, bunten Hüftgürtel um. Andere schnüren ihre Bauch in ein mit Stahlstäben verstärktes Seidenkorsett, bis sie ihre Taille auf die gewünschte Sanduhrenform geschrumpft haben. Diese pflichtbewussten Korsettträger bearbeiten die Konturen ihres Körper so lange, bis Zentimeter um Zentimeter dahin schwindet, während ihre Organe dazu gezwungen werden, nach oben und unten zu wandern.

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The Daily Dot hat dieses Phänomen, auch bekannt als Tightlacing, vor Kurzem untersucht. Ihre Nachforschungen zeigen, dass die Kunst des Korsett-Trainings eine Form der Körpermodifikation ist, die bereits als antiquiert galt, mittlerweile jedoch ein weltweites Comeback erlebt. Wie aber passen die Praktiken des Tightlacings und andere extreme Körpermodifikationen zu unseren kultureller Normen, die sich an gewissen körperlichen Standards orientieren? Und warum ist es für manche Menschen so wichtig, ihren Körper zu verändern?

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Dr. Elroi Windsor ist Professor für Soziologie am Salem College und spezialisiert auf Genderthemen, Körper und Gesundheit. Laut Dr. Windsor sind Körpermodifikationen an sich nichts ungewöhnliches—und waren es auch in der Vergangenheit nicht. Seine bisherigen Forschungsergebnisse, die Körpermodifikationen sowohl von Cis- als auch von Transgenderpersonen untersuchen, bieten einen Einblick in dieses Phänomen, das es ausschließlich beim Menschen gibt. „Ich habe herausgefunden, dass es zwei Hauptgründe gibt, warum Menschen ihre Körper modifizieren", erklärt Dr. Windsor. „Die Leute wollen besser aussehen und sie wollen sich besser fühlen. Üblicherweise hängen diese beiden Aspekte zusammen. Unser Körper ist ein Teil unseres Selbst, über den wir sehr viel Kontrolle haben. Den Körper zu verändern kann deswegen eine stärkende und befreiende Erfahrung sein."

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Natürlich gibt es Faktoren (wie die Kosten von chirurgischen Eingriffen), die als präventive Hürden vor dem Zugang zur absoluten Kontrolle über unser Äußeres stehen. „Die Gesellschaftsschicht ist ein wichtiger Faktor", sagt Dr. Windsor. „Nicht alle körpermodifizierenden Eingriffe sind erschwinglich. Deswegen werden teurere Maßnahmen vor allem auch von Leuten mit einem höheren sozioökonomischen Status in Anspruch genommen."

Nicht alle körpermodifizierenden Eingriffe sind erschwinglich. Deswegen werden teurere Maßnahmen vor allem auch von Leuten mit einem höheren sozioökonomischen Status in Anspruch genommen.

Die Wahl der Körpermodifikationen wird durch weitere soziokulturelle Faktoren beeinflusst. „Geschlechterbezogene und ethnische Normen können ebenfalls einen Einfluss darauf haben, wie Leute ihren Körper verändern wollen", sagt Dr. Windsor. „Beispielsweise streben Frauen, die Korsetts tragen, einen Körper an, der unseren gesellschaftlichen Vorstellungen eines weiblichen Körpers entspricht. Frauen, die ihre Weiblichkeit ausdrücken, können solche Veränderungen viel leichter vornehmen als Männer, die für dasselbe Verhalten viel stärker stigmatisiert würden."

The Daily Dot hat Kelly Lee Dekay interviewt, die ebenfalls ein Korsett trägt. Sie beschreibt sich selbst als „selbstgemachten Superbösewichten". In dem Artikel thematisiert sie auch den Wunsch nach Gruppenzugehörigkeit. Beispielsweise sei die Angst vor Organschäden eine Klischeevorstellung von gaffenden Außenseitern und viele der Korsettträger hätten den Wunsch, sich wertungsfrei über ihre zum Teil extreme körperliche Veränderung auszutauschen.

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„Innerhalb einer Subkultur kann man nur existieren, wenn man ein Gemeinschaftsgefühl hat", sagt sie und fügt an, dass eine solche Gemeinschaft für Randgruppen äußerst wichtig ist. „Sie bieten einen Raum, um sich mit Leuten über Erfahrungen auszutauschen, neue Techniken zu erlernen und bieten Sicherheit, wenn man sich riskanteren Körpermodifikationen zuwenden möchte." Bezogen auf das Tightlacing scheinen sich die Gruppen gerade ins Netz zu verlagern. „Die Möglichkeit, sich mit anderen Gleichgesinnten vernetzen zu können, kann lebensrettend sein", sagt Windsor. „Die Menschen begreifen, dass sie nicht allein sind."

Die Möglichkeit, sich mit anderen Gleichgesinnten vernetzen zu können, kann lebensrettend sein.

Während Tightlacing und operative Geschlechtsumwandlungen „extreme" Formen der Körpermodifikation sind, durch die sich manche Menschen von der Masse abhaben, wäre es tatsächlich schwierig jemanden zu finden, der seinen Körper nicht in irgendeiner Form verändert. „In gewissem Maße verändern wir alle unser Aussehen", erklärt Dr. Windsor. „Wir putzen unsere Zähne, tragen Deodorant, machen Sport und schneiden unsere Haare—mit all diesen Dingen verändern wir unseren Körper."

Diese Veränderungen werden durch kulturelle Normen festgelegt und nehmen einen Platz in der nebulösen und beschränkten Vorstellung dessen ein, was „normal" ist. Laut Dr. Windsor, „neigen wir dazu, einige Körpermodifikationen als akzeptabler als andere einzustufen, wodurch eine hierarchische moralische Einteilung der Körpermodifikationen geschaffen wird." Kultureller Relativismus, also die Interpretation von Ansichten und Verhaltensweisen anhand ihrer gesellschaftlichen Normen, wirft ein anderes Licht auf die Art und Weise, wie wir Veränderungen am menschlichen Körper wahrnehmen. „Einige Menschen argumentieren, dass gewisse körperliche Veränderungen ‚zu weit' gehen, weil sie ein gesundheitliches Risiko bergen, wie das Risiko von Infektionen oder das Risiko, bei Schönheitsoperationen zu sterben", sagt Dr. Windsor und stellt fest, dass bei dieser Form der Bewertung manche Risiken anerkannt werden, andere hingegen werden ignoriert. „Viele normative Körpermodifikationen—wie Diäten, High-Heels oder Sonnenstudios—bergen ebenfalls gesundheitliche Risiken. Letztlich ist es vielen Leuten das Risiko aber wert, weil die körperliche Veränderung sie glücklicher macht." So gesehen stehen Körpermodifikationen grundlegend auch für unseren Wunsch nach Zufriedenheit und der Suche nach uns selbst.

Kritikern entgegnet Dr. Windsor: „Jeder, der glaubt, sein Körper sei natürlich, macht sich selbst etwas vor."