In der Schweiz werden jedes Jahr hunderte Zwangsheiraten vollzogen

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Zwangsheirat

In der Schweiz werden jedes Jahr hunderte Zwangsheiraten vollzogen

Auch Minderjährige sind betroffen. Wir sprachen mit Anu Sivaganesan, Mitbegründerin der Fachstelle Zwangsheirat, über das tabuisierte Phänomen.

Titelbild: Ali Naqi | Pexels | CC0 Stell dir vor, du bist in einer mehrjährigen Beziehung und stehst kurz vor dem Abschluss deiner Lehre. Deinen Eltern hast du dein Liebesglück allerdings verschwiegen, denn sie finden die hier lebenden Landsleute dekadent und erwarten, dass du bis zu deiner Hochzeit Jungfrau bleibst. Als sie über einen Bekannten der Familie von deiner Beziehung erfahren, zwingen sie dich, deine Ausbildung abzubrechen und einen Mann aus deinem Heimatland zu heiraten, den du gar nicht kennst.

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Was für die meisten Frauen unvorstellbar ist, kommt gemäss einer Bundesstudie von 2012 in diesem Land durchschnittlich ein bis zwei Mal pro Tag vor. Eine Zwangsheirat bedeutet einen tiefen Einschnitt in die Autonomie und die Unabhängigkeit eines Menschen. Die freie Partnerwahl ist deshalb seit 1948 ein Menschenrecht und Zwang zur Heirat wird in der Schweiz als Offizialdelikt geahndet. Wobei es die meisten Betroffenen jedoch unterlassen, gegen ihre eigene Familie auszusagen.

Da es in der Schweiz keine spezialisierte staatliche Stelle gibt, die Betroffenen Hilfe leistet, entschied sich Anu Sivaganesan vor zwölf Jahren zusammen mit weiteren Fachleuten, eine Anlaufstelle einzurichten. Heute erhalten sie pro Woche rund fünf bis neun Meldungen von Zwangsheiraten. Wir haben die junge Rechtswissenschaftlerin auf ein Interview getroffen und wollten von ihr mehr über die Lebensgeschichten erfahren, um die sich ihre Arbeit dreht:

VICE: Wieso stecken Eltern ihre Kinder in Zwangsehen?
Anu Sivaganesan: Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Einerseits geht es der Familie um die Erhaltung der Endogamie, also der Eheschliessung innerhalb der eigenen sozialen Gruppe. Wir hatten den Fall eines Mazedoniers, dessen Schweizer Freundin nach einer siebenjährigen Beziehung schwanger wurde. Als er sich seiner Mutter anvertraut hatte, lockte sie ihn in den Sommerferien ins Heimatland, wo er mit einer Landsfrau zwangsverheiratet wurde.
Andererseits werden Kinder, insbesondere die Töchter, von den Eltern bereits in jungem Alter zwangsverheiratet, um deren Sexualität zu kontrollieren und vorehelichen Geschlechtsverkehr zu unterbinden. Wieso wollen Familien die Sexualität ihrer Kinder kontrollieren?
Einige Familien scheinen ihre Ehre noch immer von der Jungfräulichkeit ihrer Tochter abzuleiten. Eine Betroffene sagte mir letzthin: "Anstatt um mein Gehirn, kümmern sich meine Eltern um meine Genitalien." Sie wurde gezwungen, ihre Lehre abzubrechen, um zu heiraten. Die Keuschheitsregel gilt zwar auch für Männer, aber da die Jungfräulichkeit bei Männern physiologisch nicht feststellbar ist, sind besonders Frauen betroffen. Es heisst ja auch Jungfräulichkeit, und nicht Jungmännlichkeit. Die Eltern haben massive Angst, dass die Töchter ihre Jungfräulichkeit vorher verlieren könnten. In einem Fall kontrollierte eine somalische Mutter einmal sogar die Vagina ihrer Tochter. Das ist doch entwürdigend. Die Eltern sind nicht die Wächter der Vagina.

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Wie weit sind Zwangsheiraten in der Schweiz verbreitet?
Als wir 2005 mit unserer Arbeit begonnen hatten, erhielten wir rund eine Meldung pro Monat. Heute sind es rund fünf bis neun Meldungen pro Woche. Die Zahlen variieren jedoch über das Jahr, am meisten Zwangsheiraten werden während den Sommerferien geschlossen. Die genaue Anzahl ist jedoch schwierig zu ermitteln, wir gehen von einer hohen Dunkelziffer aus.

Erzwungene Intimität: Das Doppelbett symbolisiert die Brutalität einer Zwangsheirat | Illustration: Evelyne Laube | Fachstelle Zwangsheirat

Wer führt die Hochzeiten durch?
Wenn die Betroffenen volljährig sind, meist das Schweizer Standesamt. Aus dem Jahr 2016 sind uns jedoch 51 Fälle bekannt, bei denen mindestens ein Ehepartner minderjährig war. Minderjährige dürfen nach Schweizer Gesetz nicht verheiratet werden. Die Ehen werden in diesen Fällen dann von religiösen Würdenträgern oder von ausländischen Rechtsinstanzen geschlossen. Da die zivilrechtliche Trauung in den Augen der Familien oft nur als Formalität betrachtet wird, sind diese religiösen Trauungen sowieso viel bedeutender. Im Fall einer 16-jährigen Afghanin wurde die Trauung durch einen afghanischen Religionskenner per Telefon durchgeführt. Durch wen werden Zwangsheiraten in die Wege geleitet?
Es sind entweder die Eltern selbst oder erweiterte Familienmitglieder wie Onkel oder Grosseltern, die mit der Familie des künftigen Ehepartners die Bedingungen verhandeln und die Hochzeit in die Wege leiten. Das weitverbreitete Bild des bösen Vaters und der lieben Mutter ist hier jedoch fehl am Platz. In 60 Prozent unserer Fälle kann die Mutter als Haupttäterin identifiziert werden. Väter drohen bei einer Verweigerung der Hochzeit zwar eher mit Gewalt, oder gar mit Mord, aber Mütter üben viel häufiger psychischen Druck aus und verursachen Schuldgefühle, indem sie zum Beispiel mit Suizid drohen. Wie wirken sich Schuldgefühle auf Betroffene aus?
Wir beobachten oft, dass Schuldgefühle zu Depressionen, Selbstentwertung und selbstverletzendem Verhalten – wie Ritzen oder Selbsttötungsversuchen – führt. Gerade bei jungen Frauen. Viele der 15- bis 25-Jährigen, die wir beraten, haben bereits einen Suizidversuch hinter sich – oder zumindest bereits mit dem Gedanken gespielt. Die Doppelmoral, mit der sie durchs Leben gehen müssen, ist für sie eine starke psychische Belastung. In der Schule erwarten die Freunde, bereits erste sexuelle Erfahrungen gemacht zu haben, und zu Hause drehen die Eltern durch, wenn sie einen Mann mit drei Küsschen begrüssen.

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Offene Schere: Darstellung des Spagats zwischen den erstarrten Traditionen und dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben | Illustration: Evelyne Laube | Fachstelle Zwangsheirat

Wie gehen die Betroffenen damit um?
Leider denken sie oft, dass der Druck nachlassen wird, wenn sie bei einer Zwangsheirat mitmachen. Aber das ist ein Trugschluss. Nach der Hochzeit kommt schon bald die Erwartung nach einem Kind. Und nach dem ersten Kind kommt die Erwartung nach dem zweiten Kind. Männer in Zwangsehen sind hingegen eher mit dem Druck konfrontiert, nach aussen eine heile Welt vorzutäuschen. Wie geht ihr nach einer Kontaktaufnahme vor?
Wenn uns jemand über unsere Helpline oder per Mail kontaktiert, analysieren wir als erstes den familiären Hintergrund und schätzen das Gewaltpotential ein. Danach klären wir die Betroffenen über ihre Rechte auf und helfen ihnen Strategien zu entwickeln, die sie im Streit mit den Eltern verwenden können. Wir zeigen ihnen mögliche Lösungswege auf, aber lassen die Betroffenen immer selbst entscheiden, wie sie vorgehen wollen. Wir bevormunden sie nicht. Wie sieht ein möglicher Lösungsweg aus?
Es gibt keine allgemeingültige Formel. Wenn schon eine konkrete Hochzeitsreise ins Heimatland geplant ist, dann versuchen wir zu verhindern, dass die betroffene Person mitfliegt. Wenn die Betroffenen keinen Ausweg mehr sehen und die Familie verlassen wollen, nehmen wir Kontakt mit Schutzeinrichtungen sowie Behörden auf und versuchen einen Wohnortwechsel, manchmal auch eine Namensänderung zu beantragen. Wobei bloss 1.5 Prozent unserer Fälle in ein Frauenhaus gehen. Woran liegt das?
Einerseits ist es etwas verpönt, denn gerade junge Leute wollen sich nicht als Opfer zeigen. Für Männer gibt es zudem nur wenige Schutzeinrichtungen und für Liebespaare gar keine. Betroffene finden dann oft private Lösungen. Generell ist es wichtig, Anschlusslösungen wie neue Arbeits- oder Ausbildungsplätze zu finden, denn die Betroffenen sollen nicht von einem Abhängigkeitsverhältnis ins nächste rutschen.

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Wie schafft ihr den Spagat zwischen professioneller Distanz und Mitgefühl?
Ich glaube nicht, dass sich Mitgefühl und Professionalität gegenseitig ausschliessen. Sogar die Wirtschaft hat emotionale Kompetenzen ja mittlerweile als Asset entdeckt. Ich war 2015 für drei Monate auf einer Forschungsreise in Pakistan. Von meinen pakistanischen Kolleginnen habe ich gelernt, wie wichtig eine affektive Beratung sein kann. Betroffene haben oft Angst vor dem Alleinsein, wenn sie in Erwägung ziehen, ihre Familie zu verlassen. Deswegen braucht es für eine gute Beratung nicht nur den Verstand, sondern auch das Herz.

Verstand und Herz: Affektives Beratungsszenario in Pakistan | Foto: Linda Forsell | Fachstelle Zwangsheirat

Welche Herkunftsländer sind am meisten betroffen?
Gemäss der Bundesstudie von 2012 sind in der Schweiz vor allem der Kosovo, die Türkei und Sri Lanka betroffen. Bei uns melden sich aber auch Betroffene anderer Herkunftsländer, aktuell etwa aus Syrien, Afghanistan, Eritrea, Somalia und Iran.

Sind auch Schweizer von Zwangsheirat betroffen?
Viele der Betroffenen sind bereits eingebürgert. Es kommt aber auch vor, dass Schweizer ohne Migrationserfahrung betroffen sind. Ein Beispiel aus unserer Beratungspraxis: Eine Schweizerin wurde nach sieben Jahren Beziehung von ihrem mazedonischen Freund schwanger. Ihr Freund vertraute seiner Mutter an, dass seine Freundin ein Kind erwarte. Die Mutter lockte ihn daraufhin nach Mazedonien, wo sie ihn zwangsverheiratete. Wie gut schützt das Schweizer Gesetz Betroffene?
Eigentlich gar nicht mal so schlecht. In der Schweiz wird Zwangsheirat nicht als Vergehen, sondern als Verbrechen mit drei bis fünf Jahren Haft geahndet. Zudem erklärt das Zivilgesetz seit der letzten Revision 2013 eine aus Zwang geschlossene Ehe rückwirkend für ungültig. Betroffene können auch ein Bleiberecht erhalten, wenn ihre Aufenthaltsbewilligung von der Zwangsheirat mit ihrem Partner abgeleitet wird. Das Recht bietet viele Möglichkeiten, doch vor Anzeigen schrecken die meisten Betroffenen zurück, da sie ihren Familien nicht schaden wollen. Seit die Gesetzesrevision vor bald vier Jahren in Kraft trat, ist es bloss zu zwei Strafverurteilungen gekommen. Wer steht hinter der Fachstelle Zwangsheirat?
Die Trägerschaft ist "Migration und Menschenrechte". Ein Verein, der sich auch in anderen Bereichen wie sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität im Migrationskontext engagiert. Unser Kernteam bei der Fachstelle Zwangsheirat besteht aus Mitgliedern aus verschiedenen Disziplinen und mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, was eine fallspezifische Beratung ermöglicht.

Du machst die Arbeit für die Fachstelle freiwillig. Wie lange machst du das schon und wie bist du dazu gekommen?
Ich hatte mich bereits für soziale Fragen und Integration engagiert, als während der Gymi-Zeit zwei meiner Freundinnen zwangsverheiratet wurden. Ich dachte mir: "Wir leben doch nicht irgendwo im Swat-Tal in Pakistan, wo Liebe verboten und freie Partnerwahl verpönt ist." Ich hatte das so nicht hinnehmen können, weswegen ich mich dazu entschied, aktiv zu werden. Im Laufe meines Engagements und bei einer Forschungsreise haben ich gelernt, dass auch im Swat-Tal in Pakistan gegen Zwangsheiraten vorgegangen wird. In Pakistan drohen mehr als 25 Jahre Gefängnis bei einem Ehrenmord. Menschenrechtsverletzungen sind ein universelles Problem – und deren Bekämpfung auch. Ich bin Kosmopolitin geworden.

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