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Die vierköpfige Zero-Waste-Familie sammelt ihren Jahresmüll in einem Gurkenglas

Im gesamten letzen Jahr hat Familie Kießling das Glas sogar nur bis zur Hälfte gefüllt.
Stefanie Kießling, das weibliche Familienoberhaupt mit einer Einkaufstasche, die ihr Verwandte aus Stoffresten genäht haben. Alle Bilder: Zero Waste Familie mit freundlicher Genehmigung

Schon wieder keine Lust, den stinkenden Müll in die eh schon übervolle Tonne zu bringen? Dann ist es vielleicht an der Zeit, einmal über eine pragmatische Abfallreduzierung nachzudenken. Genau das hat vor einem Jahr Familie Kießling aus Rosenheim gemacht und für sich selbst ein Zero-Waste-Jahr ausgerufen. Seit dem putzen sie ihre Schuhe mit Bananenschalen, stellen Klebstoff selber her und züchten Erdbeeren auf dem Balkon—und sind trotzdem ganz normal.

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Die 34-jährige Stefanie Kießling arbeitet als Journalistin, ihr gleichaltriger Mann ist im öffentlichen Dienst tätig. Sie leben mit ihren zwei kleinen Kindern in einer 120m²-Doppelhaushälfte, die sie nach ihrem Einzug vor drei Jahren renovieren mussten. Das sind keine ausgewiesenen Voraussetzungen für ein Leben ohne Müll, sondern sie entsprechen einem guten Bevölkerungsdurchschnitt.

Und wie reagieren die Nachbarn? „Wir haben es ihnen nicht explizit auf die Nase gebunden", so Stefanie Kießling. Manche wundern sich über die fehlende Mülltonne, andere lesen sogar den Blog der Zero Waste-Familie von nebenan.

Die Familie gezeichnet von der Tochter.

Nun ist ein Jahr vergangen und die müllvermeidenden Kießlings sind nach eigenen Angaben entspannter, glücklicher und finanziell flüssiger als zuvor. Ein Grund für uns, sich bei Stefanie Kießling nach den Geheimnissen eines Lebens ohne Müll zu erkundigen.

**Motherboard: Was war *für euch* der Auslöser, ein Zero-Waste-Jahr einzulegen?**

Stefanie Kießling: Eigentlich wollten wir vor allem sparen. Wir sind als Familie mit zwei Kindern umgezogen und hatten dadurch einfach nicht besonders viel Geld zur Verfügung. Darum entschieden wir uns, unseren Verbrauch zu reduzieren, die große Mülltonne abzuschaffen und stattdessen viel zu recyceln. Im Grunde genommen war das in den meisten Fällen allerdings dann eher Downcycling als Recycling.

Da wir bei uns vor der Haustür keine verschiedenen Tonnen für die unterschiedlichen Materialien haben, musste ich nun ständig zum Wertstoffhof fahren, der leider nicht zu besonders arbeitnehmerfreundlichen Zeiten geöffnet ist. Weil mein Mann zu diesen Zeiten jedoch in der Arbeit ist, musste ich mich darum kümmern—was mit einem Kleinkind und einem Baby enorm anstrengend war. Eines der Kinder schrie meistens. Das Baby hatte ich auf dem einen Arm und im anderen die Wertstoffe. Ich musste die ganze Zeit aufpassen, dass keines von ihnen unter die Räder von einem Auto oder einer Maschine kommt und gleichzeitig den ganzen Recyclingmüll auf viele Container sortieren. Es war eine Katastrophe.

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Wir mussten also unbedingt auch unseren Recyclingmüll reduzieren.

„Zero Waste ist eine Utopie."

Wie viel Müll habt ihr denn zur Zeit?

Wir haben ein Gurkenglas, in das wir alles stecken, was in den Normalmüll kommt, und einmal im Monat einen 20-Liter-Eimer mit Recyclingmüll, den ich zum Wertstoffhof bringe. In dem Gurkenglas befinden sich nun nach etwas über einem Jahr jede Menge Pflaster, Klamottenetiketten, Kleinkram von Plastikteilen, eine Rückseite vom Klebeband, Preisetiketten von Obst und ein Bonbonpapier.

So sah der von der gesamten Familie produzierte Müll nach neun Monaten aus. Bis heute sind noch zwei große Staubsaugerbeutel Bauschutt von der Bedezimmerrenovierung dazu gekommen.

Dazu kommen allerdings noch zwei große Staubsaugerbeutel mit Bauschutt, die die Handwerker gefüllt haben, als sie unser Bad renovierten. Ich weiß gar nicht genau, wozu man das zählt. Wahrscheinlich ist das dann Normalmüll.

Wie habt ihr euch denn auf so wenig Müll umgestellt?

Ich habe das Buch „Zero Waste Home" von Bea Johnson gelesen und dachte sofort: 'Das kann ja gar nicht klappen'. In Deutschland ist vieles nicht möglich, was in Amerika viel einfacher ist. In den USA kann man zum Beispiel in vielen großen Supermärkten Bulk-Ware kaufen, sich also aus großen Behältern selbst Müsli, Nudeln oder Nüsse abfüllen. Das gibt es hier nicht. In München soll zwar demnächst ein Unverpackt-Laden aufmachen, da fahre ich aber mehr als eine Stunde mit dem Zug hin. Das ist schlicht nicht machbar.

Allerdings gibt es bei uns in der Umgebung einige Mühlen, wie ich herausgefunden habe. Da kann man sich Mehl, Getreide, Zucker oder Flocken in mitgebrachte Gefäße füllen lassen. Man kann auch gleich ein Großgebinde nehmen und das mit anderen Leuten teilen. Obwohl in Bayern ja eher Rinderzucht vorherrscht, war ich erstaunt, wie viele Mühlen es hier gibt.

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Was war die größte Herausforderung bei eurem Zero-Waste-Projekt?

Medikamente zum Beispiel lassen sich nicht ersetzen. Das ist nicht machbar und wird dann eben mit dem dazugehörigen Müll gekauft. Ich würde nicht auf etwas verzichten, das notwendig ist, und bei Medikamenten ist das einfach so.

Oder auch Filzstifte. Meine Tochter geht in die erste Klasse und auf der Bedarfsliste für die Schule stehen Filzstifte. Ich habe es dann mit Nachfüllbaren versucht, aber das war nichts. Die stinken entsetzlich, sind teuer und drücken überall durch, sogar bis auf die Tischplatte.

Für diese Fotos ließ Gregg Segal seine Freunde im stinkenden Wochenmüll baden

Ich habe ihr dann normale Stifte besorgt, zwar mit Lebensmittelfarbe, aber trotzdem mit zwei verschiedenen fest verbundenen Plastikkomponenten, die letztendlich wohl verbrannt werden müssen—denn Kinder können sehr grausam sein und ich möchte nicht, das sie damit aufgezogen wird, dass sie andere oder gar keine Filzstifte hat. Da liegt für mich die Grenze: Einem Erstklässler, der eh unsicher ist und darauf bedacht, alles richtig zu machen, dem muss man das Leben nicht extra schwierig machen.

Was tun mit so viel Papiermüll?

Und wo arbeitet ihr noch an einer Lösung?

Das mit dem Spülmittel für die Spülmaschine haut einfach nicht hin. Ich habe es schon selber gemacht, aber das gab dann so einen Film und Ablagerungen auf dem Geschirr, deswegen suche ich immer noch nach der richtigen Rezeptur. Auch beim Deo bin ich zu meinem alten zurückgekehrt, das leider auch Aluminium enthält. Ich hatte zwar eines mit Natron und Kokosöl selbst hergestellt, aber davon leider Ausschlag bekommen. Selbstgemachtes Puder geht, aber das Make Up wird schnell bröselig. Darum nehme ich meistens nur Puder, das reicht auch.

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In 10 Jahren soll man in Deutschland überall unverpackt einkaufen können

Wenn etwas nicht klappt, dann stelle ich das einfach hinten an und finde lieber etwas anderes, das ich ändern und verbessern kann. Es gibt schließlich genug zu tun und es soll nicht zu einem Zwang ausarten. Lieber gute Produkte und dafür weniger. Aber alles im Rahmen des Budgets. Vor allem sollte man das Thema ganz locker angehen, dann ist auch der Erfolg am größten. Ohne Spaß macht das doch keinen Sinn.

Was passiert mit alter Kleidung?

Es gibt Stellen, die nehmen alte Klamotten zum Recycling an. Scheinbar bieten einige größere Ketten sogar an, dass man dort alte Sachen gegen einen gewissen Bonus abgeben kann. Außerdem gibt es bei uns auf dem Wertstoffhof eine Lumpensammlung. Wir versuchen aber auch viel wiederzuverwenden: Ich habe schon häufiger Gemüsetüten oder Stofftaschentücher aus alter Kleidung hergestellt. Wiederverwenden ist nämlich viel wichtiger als Recycling.

Diese New Yorkerin produziert seit zwei Jahren keinen Müll mehr

Das einzige, was ich mir im Second-Hand-Laden gekauft habe, ist ein Umstandskleid. Es ist halt manchmal gar nicht so einfach, wenn man wie ich mit 34 eine blöde Größe hat. Da gibt es einfach kaum etwas. Und außerdem gibt es ja auch Grenzen, die bei jedem woanders liegen. Unterhosen oder Strümpfe zum Beispiel—gibt es sowas überhaupt gebraucht? Vor allem sollte man sich darauf besinnen, was man wirklich braucht und erst dann shoppen gehen, wenn es nötig ist. Man spart dabei nicht nur Geld, man hat auch mehr Freiheit und mehr Zeit.

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Inwiefern findest du, dass man dabei mehr Freiheit hat?

Naja, die inneren Zwänge fallen halt weg. Wenn man einkaufen geht, dann kommen einem ja ganz automatisch solche Gedanken wie 'Schön, aber kann ich mir das überhaupt leisten?'. Das bleibt dir alles erspart. Ich gehe nur noch ganz gezielt los, wenn wir wirklich etwas brauchen. Und dann meist mit Einkaufsliste, um Spontankäufe zu vermeiden.

Wenn man länger nicht shoppen war, dann erschlägt einen das ganze Angebot und die Menschen auch. Wenn ich in München oder auch in Rosenheim bin und dort shoppen will, dann ist die Situation für mich mittlerweile total ungewohnt und ich rutsche natürlich auch wieder in diese Gedanken rein. Das hat mich das letzte Mal richtig gestresst.

Stefanie Kießling und ihr Sohn am See.

Da mache ich doch lieber etwas, das mir wirklich Spaß macht, wobei ich zur Ruhe komme. Für mich bedeutet Freiheit, selbst bestimmen zu können, was ich mit meiner Zeit anfangen möchte.

Wie nah seid ihr dem Ziel „Zero Waste" für euch denn schon gekommen?

Zero Waste ist eine Utopie. Die Frage ist lediglich, wie sehr man den Müll reduziert. Da muss einfach jeder gucken, wo seine eigene Grenze erreicht ist. Das als Wettbewerb zu betrachten, finde ich gar nicht gut. Es ist doch Blödsinn, wenn man sich automatisch schlecht fühlt, weil man einmal eine Einwegflasche gekauft hat.

Viele Menschen sehen den Schritt zur Müllvermeidung auch als anstrengend und aufwendig an, weil man auf vieles achten und sein Leben umstellen muss.

Ja, manche gehen davon aus, dass sich wahnsinnig viel verändert, das stimmt aber nicht. Die Industrie stellt ja sogar Alternativen bereit, auf die sich leicht zurückgreifen lässt. Es gibt viele kleine Tricks, man muss sie nur kennen. Zum Beispiel muss man ja ein Shampoo oder Duschgel nicht in Plastikflaschen kaufen, statt dessen gibt da es Shampoo- oder Seifen-Riegel für jeden Haar- und Hauttyp.

Keiner verzichtet gerne und wir auch nicht. Wir wollen uns ja nicht kasteien oder in einer Höhle wohnen, sondern ganz normal an der Gesellschaft teilnehmen. Wir wollen ja nur Müll reduzieren und nachhaltiger leben, dabei muss man nicht komisch werden.