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Je mehr Krater in Sibirien auftauchen, desto abenteuerlicher die Erklärungsversuche

Aus einem gigantischen Loch in der Einöde sind mittlerweile Dutzende geworden. Was steckt dahinter: Gasexplosionen, Meteoriten, Aliens oder der Klimawandel?
Aus vielen der Trichter der Jamal-Halbinsel sind mittlerweile Seen entstanden. ​Bild: NASA

Im Juli 2014 entdeckten Rentierhirten auf der sibirischen Yamal-Halbinsel ein sehr, sehr groß​es Loch im Boden und wunderten sich sehr. Ein paar Tage später entdeckten Geologen noch drei andere ähnliche Krater und wunderten sich ebenfalls sehr. Aus einen unerklärlichen Abgrund in der Erde sind mittlerweile sie​ben auf der Taymyr-Halbinsel geworden, und die Krater selbst sind inzwischen wiederum zum Teil zu Seen geworden. Einer ist von ganzen zwanzig kleineren Babykratern umringt—alle stellen die Wissenschaft vor Rätsel.

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Mit Hilfe von Satellitenbildern konnten die Forscher inzwischen herausfinden, dass die mysteriösen Krater weiter verbreitet sind als bisher angenommen. Natürlich haben sie auch schon eine ansehnliche Metapher für ihre Entdeckung aufgetan, denn wo ein Wissenschaftler mit der Laienpresse redet, ist eine bildstarke Analogie nicht weit: „Ich würde das mit Pilzen vergleichen: Wenn du einen findest, sind sicher noch ein paar mehr in der Nähe. Ich denke, es gibt bestimmt noch 20 oder 30 mehr hier in der Gegend."

So erklärt es zumindest der angesehne russische Wissenschaftler Vassily Bogoyavlensky vom Moskauer Öl- und Gas-Institut und fordert eine gründliche Untersuchung des Phänomens.

More Mysterious Craters Found in Siberia, Scientist Says 'Urgent' Investigation Needed http://t.co/BbhG2lOvq8 pic.twitter.com/23jNuLldtR

— Live Science (@LiveScience) March 2, 2015

Darüber, was die Entstehung der Krater letztlich ausgelöst hat, ist sich die Wissenschaft jedoch bis heute nicht einig. Je mehr Krater auftauchen, desto unklarer scheinen die Thesen zu werden.

Hier nun ein kurze Übersicht der diskutierten Ansätze, der dank der schönen Uneinigkeit jeden zum Mitspekulieren einlädt:

Senklöcher:

Senklöcher entstehen eigentlich in jahrzehntelangen Prozessen, in dem Regen und Grundwasser den Boden aushöhlen und und leicht lösliches Gestein wie Gips und Sandstein lösen. Immer mal wieder treten Senklöcher auch im Permafrost der Tundra auf. Das klang erstmal plausibel, aber wenn es ein Senkloch war, warum ist der Rand des Kraters dann so rund und gleichmäßig?

Meteoriten:

Russland ist berühmt für Meteoriteneinschläge, inklusive dem jüngsten, spektakulären Einschlag von Tscheljabinsk vor zwei Jahren. Ein sibirischer Regierungssprecher gab sich gegenüber der Sibirian Times in Bezug auf den aktuellen Krater jedoch von Anfang an schmallippig: „Einen Meteoriten können wir definitiv ausschließen. Weitere Details gibt es aber bislang nicht."

Und Nachfragen offenbar auch nicht, aber die brauchen wir auch gar nicht: Letztlich ist der beste Beweis gegen die Meteoritentheorie, dass keine riesigen Gesteinsbrocken an Ort und Stelle liegen, die man von Satellitenbildern aus sehen könnte.

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Gasexplosionen:

Im Juli letzten Jahres dachte man, das Rätsel gelöst zu haben: Da die Erde sich nahe des Bovanenkovo-Gasfeldes auftat und die Jamal-Halbinsel eine der gasreichsten Regionen des Landes darstellt, erhärtet sich der Verdacht, dass sich hier Methan durch die lockere Erde arbeiten konnte. Dazu kamen die dunklen Schmauchspuren am Rande des Kraters, die auf hohe Temperaturen und eine stattgefunden Explosion schließen lassen.

Doch die Expedition der Forscher in das Innere des Kraters hat nicht zu einer finalen Aufklärung des Ganzen geführt. Leider widersprachen sich auch die Aussagen der Wissenschaftler vor Ort—so gab einer der Anwesenden im Brustton der Überzeugung der AP zu Protokoll, hier seien „keinerlei Spuren einer Explosion sichtbar gewesen", während andere Wissenschaftler ebenjene Explosion danach dem Forschungsausflug bestätigten.

Das Problem und vielleicht auch die Wurzel der Verwirrung: Nicht an allen Kratertrichtern fanden sich die kleinen Haufen aus ausgeworfener Erde entlang des Randes. Und auch die Verbrennungsspuren fehlten am Erdmaterial im Inneren mancher Trichter komplett. Immerhin dafür gibt es eine mögliche Erklärung: Das schmelzende Eis aus dem Permafrost könnte diese Erde abgetragen haben und der Ruß mit dem Wasser ausgeschwemmt worden sein.

Scientists aren't sure what caused the new craters that showed up in Siberia http://t.co/2XmV0uS9WY pic.twitter.com/FEBtN6UjjD

— Popular Science (@PopSci) March 1, 2015

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Gasförderung:

Eben weil die Jamal-Halbinsel eine der gasreichsten Regionen Russlands ist, findet hier selbstverständlich auch Gasförderung im großen Stil statt. Dass macht den Verdacht einer menschengemachten Ursache als Auslöser für die Erdlöcher zunächst nicht gerade unwahrscheinlicher.

Der Krater mit den 20 kleineren Löchern in der Umgebung liegt nur ein paar Kilometer von einer großen Gasanlage entfernt. Der mögliche Zusammenhang wird momentan überprüft, wobei die Forscher dennoch rätseln, wie denn die Krater in weit abgeschiedeneren Gegenden entstehen konnten. Ebenfalls unklar ist: Gäbe es denn genug Gas in den tiefgelegenen Gasfeldern Sibiriens, um eine solche weitreichende Eruption zu triggern?

Aliens:

Die Alienthese fand wenig überraschenderweise insbesondere unter der für gepflegte Hysterie berüchtigen Schwarmintelligenzja des Internets großen Anklang: Entweder wären es demnach Außerirdische selbst oder ein vom Himmel gefallenes großes Objekt wie verlorene Ladung gewesen, die das mysteriöse Loch ausgelöst hätten.

Derartige Spekulationen wurden noch weiter von einem kurz angebundenen Behördenmitarbeiter befeuert, der die Entdeckung beschwichtigend als „völlig natürlich, es gibt überhaupt keinen Grund zur Beunruhigung" präsentierte. Ob es sich allerdings in Wirklichkeit um Sumpfgas oder ein Phänomen des Klimawandel handelt: Die reflexartige Argumentation der UFO-Gläubiger lautet selbstverständlich, dass die Regierung immer echte Alien-Entdeckungen mit solcherlei Alibigeschichten zu vertuschen versucht.

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Erderwärmung:

Diese These ist eindeutig der heißeste aller bisherigen Kandidaten. Das Phänomen, so glauben die meisten beteiligten Forscher, ist direkt mit dem  ​schmelzenden Permafrost und der Freisetzung arktischer Gase verbunden. Die Temperaturen in Nordrussland lagen für die Jahre 2012 und 2013 durchschnittlich fünf Grad über dem Durchschnitt. Wenn also das Eis taut und sich Methan im Untergrund anreichert, könnte es sich durch Blitzeinschläge oder Zersetzugsprozesse selbst entzünden?

„Meiner Meinung nach besteht ein klarer Zusammenhang mit der forschreitenden Erwärmung des Permafrosts," glaubt Vladimir Romanovsky, ein auf den Permafrost spezialisierter Geophysiker an der Universität von Alaska Fairbanks.

Auch Anna Kurchatova vom subarktischen Forschungszentrum pflichtet ihm bei: „Weil das Eis alarmierend schnell schmilzt, konnte sich das Gas freisetzen und explodieren." Sie ist überzeugt, dass die Krater durch eine zu schnelle Durchmischung von Salz, Wasser und Gas im Untergrund entstanden sind, die sich beispielsweise durch einen Blitzeinschlag hätten entzünden können und nach oben durch das Erdreich drängen.

Das letzte Indiz, dass in einer ganzen Kette an Hinweisen für diese These spricht, sind die Augenzeugenberichte der Einwohner aus der Region: Die „sahen einen grellen Blitz und spürten ein leichtes Beben", kurz bevor einer der Krater entstand,  ​berichtet die Siberian Times.

Letztlich kennen wir bis heute keine eindeutige Erklärung—auch weil die abgeschiedene Yamal-Region tatsächlich am Ende der Welt liegt (so heißt die Halbinsel auch in der lokalen Sprache) —und so bleiben uns als Indiz ausschließlich die vielen runden Seen, die sich aus den Trichtern gebildet haben und die sich immer mal wieder per Satellit und Hubschrauber beobachten lassen wie in dem obenstehenden Video zu sehen.

„Ich finde es wichtig, dass wir die Menschen nicht verängstigen", findet Bogoyavlensky. „Nichtsdestotrotz müssen wir dieses Phänomen schleunigst untersuchen, um mögliche Desaster zu verhindern."