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Wie ein Start-up Berliner Obdachlose zu Modedesignern macht

Die vielleicht einzige Modeinitiative, die der überstrapazierten Idee authentischer Streatwear noch einen eigenen Sinn verleihen kann.
Die stolzen jugendlichen Designer aus Berlin und Amsterdam lassen sich feiern. Alle Bilder: Almut Gaude.

Abseits vom großen, unsäglichen Trubel der Berliner Fashion Week durfte ich am Dienstagabend in Berlin-Friedrichshain einer Modeshow mit etwas mehr Substanz beiwohnen: Zusammen mit rund 300 anderen Gästen bestaunte ich die Kollektion von 17 jungen Designerinnen und Designern aus Berlin und Amsterdam, die nie eine renommierte Modeschule besuchen konnten. Entsprechend mussten sie ungleich härter als viele andere Fashion-Week-Sternchen dafür kämpfen, dass die Ergebnisse ihrer Arbeit schließlich im Scheinwerferlicht präsentiert wurden.

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Die Kollektion stammt von jungen Menschen, die vor einiger Zeit teilweise noch auf der Straße lebten, kriminell oder drogenabhängig waren, oder schwere psychische Probleme hatten. Die Jugendlichen, die unter sehr schwierigen Lebensbedingungen zu leiden hatten und teilweise immer noch leiden, haben dank dem Projekt „Rambler" nun trotzdem die Möglichkeit, auf einer professionellen Fashion-Show von ihnen kreierte Streetwear-Mode der Öffentlichkeit vorzustellen—und damit auch noch Geld zu verdienen.

„Es ist unglaublich. Vor sechs Jahren lungerte ich herum und machte gar nichts—und heute bin ich hier auf meiner eigenen Modeshow in Berlin", strahlt mich Jack, ein Graffiti-Künstler aus Amsterdam, an. „Alle kennen mich nur als jemanden, der immer negativ ist, nur negative Gedanken hat, aber jetzt—hier in Berlin—bin ich einfach nur glücklich", fügt er hinzu (Berlin als Hauptstadt der Glückseligen war dabei tatsächlich auch für mich eine neue Perspektive).

Niemand wird mir das jemals wieder wegnehmen können.

Eingeladen zu der Show hatte das Start-Up „Rambler", das mit einer großen Portion Social Entrepreneurship-Eifer von Tim Dekker und Carmen van der Vecht 2010 in Amsterdam gegründet wurde. Tim kannte sich als Berater für Unternehmensgründer gut mit öffentlichen Fördermöglichkeiten aus, Carmen hatte als Designerin den Blick für das kreative Potential der Jugendlichen. Herausgekommen ist eine Mischung aus Sozialhilfe und Mode-Studio im Zentrum Amsterdams, und die vielleicht einzige Modelinie, die der modischen Lebenslüge authentischer Streatwear tatsächlich einen Sinn verleiht.

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Tim Dekker, der Mitgründer von Rambler. Alle Bilder: Almut Gaude.

Das Studio, das mit Hilfe von städtischen Fördermitteln aufgebaut wurde, dient vor allem als Anlaufstelle für junge Menschen in prekären Lebenssituationen, meist ohne Obdach und mit Schwierigkeiten, sich an andere sozialen Einrichtungen zu binden. Vor Ort sind immer zwei Sozialarbeiter der Organisation Street Corner Work, einer für die praktischen Fragen des Alltags—Behördengänge etc.—und einer für die Aufarbeitung der Vergangenheit.

Gleichzeitig können die Jugendlichen im Studio mithilfe eines professionellen Designers von Rambler das Modehandwerk erlernen und eigene Ideen umsetzen. Die fertigen Produkte werden im Laden verkauft, wobei zehn Prozent des Verkaufserlöses direkt an die Jugendlichen gehen. Ein Konzept, das tief greift: „Modedesign hat mein Leben verändert, ich bin eine andere Person geworden. Ich kann all meine Energie jetzt in etwas stecken, dass ich aus tiefstem Herzen mag und was mich von all den negativen Dingen, die in meinem Leben passiert sind, ablenkt. Niemand wird mir das je wieder wegnehmen können", erzählt mir Dominique, die als angehende Modedesignerin für Rambler mit nach Berlin reisen konnte.

Von den rund 150 jungen Menschen, die jährlich Kontakt zu Rambler aufnehmen, kann rund ein Viertel durch die Hilfe der Sozialarbeiter zurück in feste Wohnsituationen und in Bildungsinstitutionen gebracht werden. Und auch die Mode profitiert von dem kreativen Input der Streetkids: „Unsere Kollektionen sind im Laufe der Jahre so gut geworden, dass wir jetzt nach Berlin expandieren können", schwärmt Tim Dekker.

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Die Fashion Show in Friedrichshain ist ein erster Test für Ramblers Expansionsidee. Die Show wurde gemeinsam mit der Berliner Jugendhilfe-Einrichtung „Neue Chance" organisiert, die u.a. junge Menschen in Notsituationen im betreuten Wohnen unterbringt.

Bereits im Herbst fanden dafür—finanziert durch das EU-Programm Erasmus Plus—mehrwöchige Workshops mit Jugendlichen aus Amsterdam und 25 jungen Klienten der Neuen Chance statt. Gemeinsam mit professionellen Designern von Rambler wurde die Kollektion für die Fashion-Show entwickelt. Sascha aus Berlin nahm an den Workshops teil und ist stolz, sein Design auf dem Laufsteg zu sehen:

„Das Projekt hat mir geholfen, die ganzen sozialen Sachen auf den Schirm zu kriegen. Es tritt einem da jemand ein wenig in den Arsch. Und man lernt, dass man etwas wert ist, dadurch dass man etwas gestaltet und bis zum Ende durchzieht. Schon Wahnsinn, wie viele Leute heute hier sehen, was ich gemacht habe."

Nach der erfolgreichen Zusammenarbeit mit Rambler will die Neue Chance noch in diesem Sommer mit Hilfe von Stiftungsgeldern im Stadtteil Friedrichshain das zweite Rambler-Studio eröffnen. Auch hier sollen immer zwei Sozialarbeiter vor Ort sein sowie ein professioneller Modedesigner von Rambler, während im Studio Streetwear-Mode entsteht und verkauft wird. Zielgruppe des „niedrigschwelligen Angebots" (wie es im Beamtendeutsch heißt) sind wie in Amsterdam wohnungslose Jugendliche, die von den klassischen Hilfsangeboten der Stadt nicht oder nur unzureichend erreicht werden—und bislang auch nicht von der Neuen Chance betreut werden.

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Für die Jugendlichen aus Berlin, die die Fashion-Show mitgestaltet haben, ist demnach nun erstmal Schluss. Für Sascha ist das kein Problem, denn er hat schon weitergehende Pläne: „Ich hab die Idee, aus meinen Motiven zum Beispiel Aufdrucke für T-Shirts oder Taschen zu machen. Damit kann man ja ganz gut Geld verdienen!"

Valerie, Jack und Dominique aus Amsterdam.

Ingo Bullermann, Geschäftsführer von Neue Chance, ist davon überzeugt, dass das neue Studio eine Bereicherung für die Jugend- und Obdachlosenhilfe in Berlin sein wird. Die Kooperation zwischen gemeinnützigen und kommerziellen Aktivitäten könne einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme leisten: „Bei dem Projekt mit Rambler schauen die Jugendlichen nicht mehr nur auf ihre Probleme, sondern sind produktiv. Und zwar nicht nur im Sinne irgendeiner Bastelei. Es geht um einen viel größeren Maßstab – die Modewelt! Das verleiht dem Ganzen natürlich viel mehr Gewicht und Ernsthaftigkeit. Öffentliche Einrichtungen könnten so etwas alleine gar nicht stemmen."

Unabhängig von der Frage, ob es nicht eigentlich Aufgabe des Staats wäre, mehr in vielversprechende Hilfsangebote zu investieren und sich nicht auf private Initiativen zur Lösung sozialer Problem zu verlassen, hat Rambler für die Zukunft große Ziele, die die Ernsthaftigkeit des Projekts belegen: Langfristig sollen nicht nur in Amsterdam und Berlin, sondern auch in London, Sao Paulo, New York und Tokio Studios eröffnet werden. Die Marke soll langsam, aber stetig so bekannt werden, dass sie sich von alleine trägt. Der Amsterdamer Jack ist überzeugt, dass das klappt: „New York, wir kommen!" ruft er mir zum Abschied zu.

Anmerkung: Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes veröffentlichen wir in diesem Artikel keine weiteren Informationen über die einzelnen Jugendlichen. Auch auf den vollen Namen und das Alter haben wir verzichtet, um die Jugendlichen zu schützen.