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Interview

Wer ist die „Carpathian Brigade", Ungarns Neonazi-Ultragruppe?

Eigentlich sind sie Mitglieder verfeindeter Ultragruppen, doch für Ungarn haben sie sich zusammengetan. Auf der EM-Bühne fordern sie die Grenzen Groß-Ungarns zurück.
Foto: Imago

Sie zeigten den Hitlergruß, zündeten Pyrotechnik und prügelten sich im zweiten Gruppenspiel mit dem Ordnungsdienst. Auf ihren schwarzen Shirts steht „Magyarország"—Ungarn. Auf ihren Armen tragen einige Tattoos mit dem Hooligan-„H". Wer ist dieser schwarze Mob im ungarischen Fanblock?

VICE Sports sprach Bálint Josá, den Gründer der Organisation „Szubjektív Értékek Alapítvány" („Stiftung für subjektive Werte") aus Budapest. Die NGO arbeitet eng mit dem europäischen Netzwerk FARE („Football Against Racism in Europe") zusammen und führt als einzige Organisation Projekte gegen Diskriminierung und Rassismus im ungarischen Fußball durch. Josá sprach mit uns über rechtsextreme Ultras, politische Rekrutierung in den Stadien und Verschleierungsversuche des ungarischen Verbands.

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VICE Sports: In der ungarischen Kurve steht ganz vorne immer ein schwarzer Mob. Wer sind diese finster dreinblickenden Gestalten?
Bálint Josá: Es sind vor allem Mitglieder der größten Hardcore-Ultragruppe Ungarns, der „Carpathian Brigade". Das ist eine paramilitärische Gruppe, die aus Neonazis besteht. Sie sind die gewalttätigste und auch einflussreichste Gruppe in der Kurve. Wie der Name schon verrät, wünschen sie sich die alten Territorien und Grenzen von Großungarn zurück. Vor dem Turnier hatte die Gruppe alle ungarischen Fans dazu aufgerufen, das Team mit schwarzen Shirts zu unterstützen.

Warum lief Zoltan Stieber ausgerechnet nach seinem Tor gegen Österreich zu diesen Leuten?
Stieber lief zu den Fans, weil die Mannschaft ein gutes Verhältnis zum Großteil der Anhänger hat. Man kann nicht die ganze Tribüne abstempeln, es sind, denke ich, weniger als zehn Prozent rechtsradikal. Viele Mitglieder der Ultragruppen sind keine Neonazis, sondern interessieren sich nur für Fußball und den Support. Aber das große Problem ist, dass die lautesten, die stärksten und die sichtbarsten Hooligans und Ultras alle Neonazis sind. Bedauerlicherweise haben Menschen die Tendenz, den Lautesten und Stärksten zu folgen.

Foto: Imago

Auf den Videos der nach Frankreich gereisten Fans sind zahlreiche Fahnen ungarischer Vereine zu sehen. Wie ist es möglich, dass sich die verfeindeten Ultragruppen zusammenschließen?
Die Geschichte Ungarns hat immer wieder gezeigt: Wenn es einen Feind gibt, dann schließt sich das ungarische Volk zusammen. Bei der Nationalmannschaft ist das auch so. Die Ultras kämpfen über die Saison gegeneinander und schlagen sich die Köpfe ein. Jetzt herrscht eine Art Waffenstillstand. Die Ultras setzten sich in Zusammenschlüssen wie der „Carpathian Brigade" zusammen und kämpfen gemeinsam gegen die anderen Länder.

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Hat Ungarns Fußball ein generelles Rassismus-Problem?
Zur Geschichte des ungarischen Fußballs gehört vor allem Antisemitismus und Antiziganismus. Zu Zeiten des Sozialismus in den 70er-Jahren wurden Lieder über Züge nach Auschwitz und „Zigeuner"-Rufe in den Fußballstadien geduldet. Die Machthaber dachten, dass die Menschen dieses Ventil für ihre Vorurteile brauchen. Im Sozialismus lernte man also, dass moderne Menschen nicht nationalistisch sind, nur um dann in den Fußballstadien den Hass auf Roma, Juden oder andere Länder herauszulassen. Es handelte sich aber um eine Minderheit der Zuschauer, die solche Lieder sangen. Doch die waren sehr laut.

Und wie ist das heute?
Die Lieder sind geblieben, aber die Lage hat sich verändert. Ab den 90er-Jahren verlor der ungarische Fußball eine Menge an Popularität. Außer den Ultras gingen kaum noch Fans zu den Spielen. Also übernahmen sie die Meinungshoheit in den Stadien und rechte Gruppen vernetzten sich mit ihnen. Jobbik, die rechtsradikalste Partei Ungarns, und auch die rechtsextreme Vereinigung „Ungarische Garde", die eine Art paramilitärische Armee der Rechtsradikalen ist, rekrutierten bei den Hooligans und Ultras neue Mitglieder.

Fühlen sich die Ultras durch Viktor Orbán und seine Politik gestärkt?
Das ist eine interessante Frage. Orbán ist großer Fußballfan, ließ viele Stadien bauen und ist ein enger Freund des Verbandes. Sie mögen Orbáns Politik schon, aber ihre politische Partei ist—wenn überhaupt—die ultrarechte Jobbik. Die Ultras sehen sich aber vor allem als Opfer der Politik…

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Wie kann man das verstehen?
Ungarn sieht sich gerne als Opfer einer internationalen Verschwörung und die ungarischen Ultras sehen sich ebenfalls immer auf dieser Verliererseite. Die ganze Welt ist gegen sie und dahinter stecken laut ihnen mal die Juden, mal Homosexuelle.

Hat die Flüchtlingskrise den Rassismus in den Stadien weiter bestärkt?
Vor ein paar Jahren war allgemein gültiger Fremdenhass kein Problem, dafür waren aber Antiziganismus und Antisemitismus gesellschaftlich weit verbreitet. Die Politik brachte mit einigen Kampagnen gegen Flüchtlinge und Illegale im letzten Jahr aber auch eine allgemeinere Form der Fremdenfeindlichkeit in Gesellschaft und Fußball. Die größte ungarische Ultra-Website „Ultras Liberi" rief zum Beispiel dazu auf, vergiftetes Essen an Flüchtlinge zu verteilen.

Wie geht der ungarische Fußballverband gegen rechtsextreme Ultras vor?
Seit dem Spiel von Ungarn gegen Israel im Jahr 2012, wo der Fußballverband hohe Sanktionen wegen Palästina-Flaggen und Auschwitz-Gesängen von der Uefa erhielt, artete eine Art Krieg zwischen Ultras und Verband aus.

Wie sieht dieser aus?
Der Fußballverband startete eine Zero-Tolerance-Politik gegen Rassismus und bestraft die Klubs schnell und hart. Ein weiteres Mittel war die personalisierte Stadionkarte, mit der man die Fans im Stadion identifizieren kann. Zudem startete man Aktionen mit Bannern und Slogans gegen Rassismus.

Wie reagierten die Ultras?
Die Ultras haben eigentlich die ungarischen Stadien verlassen. Wegen der hohen Verbandsstrafen für rassistische Vorfälle tun die Vereine alles, um die rechtsradikalen Ultras nicht ins Stadion zu lassen. Die Ultras von Ferencváros Budapest, dem größten Verein des Landes, boykottieren beispielsweise seit Jahren die Heimspiele. Bei den Auswärtsspielen randalieren sie dann.

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Gibt es die Stadionkarte bei Spielen der Nationalmannschaft nicht?
Nein, deswegen kommen die ganzen Ultras zu diesen Spielen. Das hat aber auch mit der Generation der Fans zu tun.

Inwiefern?
Seit 1986 hat Ungarn nicht mehr bei einem internationalen Turnier mitgespielt—das sind 30 Jahre. Für den Vereinsfußball interessieren sich auch wegen seltener Teilnahmen an internationalen Wettbewerben nur ein paar Tausend Ultras. Ungarns Nationalmannschaft hat aber eine große Fußballtradition—die Leute lieben sie und kommen zu den Spielen. Und für eine ganze Generation, die nach den 80er-Jahren aufwuchs, ist es das erste internationale Turnier der eigenen Nationalmannschaft. Diese Generation ist politisch auch wesentlich rechter eingestellt, wie die Analysen der jungen Erstwähler zeigen.

Gibt es in der ungarischen Fanszene auch linke oder antirassistische Fangruppen?
In Ungarn gibt es wegen der kommunistischen Vergangenheit eigentlich gar keine linkspolitischen Gruppen. Auch der reine Antirassismus ist in Ungarn kein wirklicher Gegenstand. Im ganzen Land sind das vielleicht nur 10.000 Menschen.

Was ist die Zukunft des ungarischen Fußballs?
Statt in Bildung pumpt Orbán sehr viel Geld in Sport und vor allem in den Fußball. Das wird auch in Zukunft so sein. Angelehnt an autokratische Systeme in der Welt sieht er darin die perfekte Propaganda. Wenn die Menschen glücklich über ihren Verein sind, dann lenkt es sie von der Politik ab.

Wie wird die weitere Arbeit deiner Organisation aussehen?
Nach den Quali-Spielen gegen Rumänien im letzten Jahr entschied sich der ungarische Fußballverband leider dazu, die Arbeit mit uns zu beenden. Die Begründung war, dass Rassismus kein Problem sei, sondern dass wir es wären. Laut ihnen würde nur die Minderheit der Fans rassistisch agieren und wir würden Dinge aus dem Kontext reißen. Ein Programm oder Konzept, um Rassismus im ungarischen Fußball zu bekämpfen, gibt es jetzt nicht mehr. Es gibt also auch keine Negativmeldungen mehr darüber.

Das Interview führte Benedikt Niessen, folgt ihm bei Twitter: @BeneNie