Am Ende sollte sie ihren Entführern auch noch dankbar sein: Nachdem ein britisches Model mit dem falschen Versprechen auf ein Fotoshooting nach Mailand gelockt, betäubt und anschließend verschleppt worden war, ließen die Kidnapper die Frau nach einer knappen Woche frei – und erklärten dies in einem Brief an ihr Opfer mit ihrer “enormen Großzügigkeit”.
Was wir wissen
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Eine Gruppe, die sich “Black Death Group” nennt, entführte die 20-jährige Chloe A. am 10. Juli in Mailand. A. war in der Hoffnung auf einen Fototermin in die norditalienische Stadt geflogen. Als Treffpunkt war ein verlassener Shop nahe des Hauptbahnhofes vereinbart. Als A. dort eintraf, überfielen sie zwei Männer, betäubten sie mit Ketamin, steckten sie in eine Tasche und fuhren sie in ein Landhaus nach Turin. Wie die italienische Polizei in einer Pressekonferenz berichtet, soll dort die Gruppe um den in London lebenden Lukasz H. geplant haben, sie als Sexsklavin bei einer Online-Auktion im Darknet zu verhökern. Zumindest erzählten sie dem Model das.
Doch dann kam alles ganz anders – A. wurde freigelassen. Die Gruppe verzichtete offenbar auf die Versteigerung und wollte sich mit einer Lösegeldforderung an A.s Model-Agenten – zunächst umgerechnet rund 250.000 Euro, dann 42.000 Euro – begnügen. Doch schließlich brachte H. die Frau zur britischen Botschaft in Mailand, um sich zu stellen. Er wurde festgenommen und gestand die Tat.
Der angebliche Grund für die plötzliche Planänderung? Laut dem Brief an das Opfer, der auf H.s Computer gefunden wurde und der das Logo der “Black Death Group” trägt, sei Chloe A. freigelassen worden, da sie Mutter eines zweijährigen Kindes ist. Trotz ihres “Werts auf dem Menschensklaven-Markt” würden es die Regeln der Organisation verbieten, Mütter als Sexsklavinnen zu versteigern, heißt es in dem Dokument. Außerdem hätte “einer unserer wichtigsten Männer” – der festgenommene H. – “klare Haltung” in dem Fall gezeigt. H. befindet sich derzeit in Untersuchungshaft in Italien.
Was berichtet wurde
Der Fall wurde von zahlreichen Medien aufgegriffen, nicht ohne reflexartig auf die “Gefahr aus dem Netz” und diesem “dunklen Teil des Internets” zu verweisen.
So machte die Rede vom “Darknet-Horror” (Berliner Kurier) schnell die Runde, und auch die Freunde der Verdachtsberichtserstattung behaupteten ohne gesichertes Wissen, dass Chloe A. “als Sex-Slavin im Darknet angeboten wurde” (Bild) – obwohl die tatsächlichen Bezüge des Falls zum Darknet bis dato reine Mutmaßung sind. Die Bild, der Berliner Kurier und die britische Daily Mail waren sich nicht mal zu schade, ihre Artikel mit den Instagram-Fotos der halbnackten Chloe A. aus der Zeit vor ihrer Horrorerfahrung aufzumachen.
Menschenhandel im Darknet – kann das stimmen?
Wäre Chloe A. beinahe das erste bekannte Opfer eines im Darknet florierenden Sklavenmarktes geworden? Das lässt sich nach bisherigem Informationsstand eher verneinen.
Menschenhandel im Darknet – was wir wissen
Denn ob das Darknet tatsächlich von Kriminellen genutzt wird, die Menschen verkaufen und versteigern, ist bislang nicht belegt. Über den Handel mit Menschen sagte ein Berater des UK Human Trafficking Centre (UKHTC) im Jahr 2016 gegenüber Motherboard: “Das Darknet gehört in der Form, in der wir es kennen, nicht zu den Orten, an denen wir große Mengen verdächtigen Materials finden”. Stattdessen seien dem UKHTC sehr ähnliche Seiten im Clearnet bekannt, auf denen sowohl männliche als auch weibliche Sklaven angeboten werden.
Doch Menschenhandel betrifft nicht nur den Verkauf von Menschen als Sklaven, sondern jede Form der wirtschaftlichen Ausbeutung unter Einsatz von Zwang. Dazu gehört auch Kinderpornographie. Hier ist das Darknet federführend: Webseiten, auf denen kinderpornographische Inhalte konsumiert und getauscht werden können, gibt es im dunklen Web zuhauf. Erst kürzlich gelang es dem BKA den deutschen Betreiber einer Kinderporno-Seite im Darknet hochzunehmen. Die Seite zählte 87.000 Mitglieder.
Was ist also wahrscheinlich passiert?
Die Geschichte von der Darknet-Auktion und der mysteriösen Gruppe “The Black Death” könnte also nur ein Druckmittel der Entführer gewesen sein, um die Lösegeldforderung in die Höhe zu treiben. Zumindest habe es nach bisherigem Ermittlungsstand der italienischen Behörden keine Auktion im Darknet gegeben. Auch seien sich die Ermittler gar nicht sicher, ob der festgenommene H. überhaupt in der Lage gewesen wäre, eine solche Operation in die Wege zu leiten, zitiert der französische Sender France24 den Mailänder Staatsanwalt Paolo Storari.
Tatmotiv Lungenkrebs?
H. hatte der Polizei bei seiner Festnahme die Geschichte mit der Darknet-Auktion erzählt, doch laut Storari sei H.s “Version der Ereignisse kaum glaubwürdig”. Nach einem Verhör bezeichneten die Ermittler der italienischen Polizei H. als einen “pathologischen Lügner”, schreibt der britische Telegraph. So habe H. als Tatmotiv seinen Lungenkrebs genannt, den er teuer behandeln müsste. Was die Polizei kurz darauf herausfand: H. hat gar keinen Lungenkrebs. Auch dass H. die Geschichte noch während der Entführung an ein britisches Tabloid verkaufen wollte, mache seine Angaben aus Sicht der Ermittler nicht glaubwürdiger.
Ob die Gruppe “Black Death” wirklich existiere, darüber bestünden ebenfalls Zweifel. Möglich sei auch, dass H. einen lokalen Ableger der “Black Death”-Gruppe plante, gegen die Europol offenbar schon vor Jahren ermittelte.
Ob es sich bei den Europol-Ermittlungen um die mutmaßliche Fake-Darknet-Seite “The Black Death” handelt, die im letzten Jahr von der Bildfläche verschwand, ist nicht bekannt.
Mysteriös ist zudem der Umstand, dass A. von einem ihrer Entführer aus bislang unerklärlichen Gründen persönlich zur britischen Botschaft gebracht wurde. Laut dem britischen Telegraph hätte der Entführer sie zunächst nur bis zu einer Entfernung von 15 Gehminuten zur Botschaft bringen wollen, dann aber seine Meinung geändert.
Auch können sich die Ermittler bislang keinen Reim auf die zwei Schriftstücke machen, die auf H.s Computer gefunden wurden: ein Pamphlet der ominösen “Black Death Group” und ein Brief an das Opfer, der die Gründe ihrer Freilassung nennt.
Auf dem Pamphlet präsentiert sich die mysteriöse “Black Death Group” als Menschenhändlerring, der junge Frauen entführt und sie auf Darknet-Auktionen an den Meistbietenden versteigert. Das Dokument enthält eine Liste an Serviceleistungen, die Kunden von der “Black Death”-Gruppe erwarten können. “Wenn Sie wünschen, können wir ein spezifisches Ziel für Sie kidnappen”, heißt es dort beispielsweise. Auch könnten die “Mädchen weltweit transportiert” werden, der Transport innerhalb der EU sei sogar “gratis” zu haben.
Auch gibt die Gruppe weitergehende Informationen zu den Frauen, die es aktuell im Katalog gebe, wie Datum der Entführung, Nationalität und Körpermaße des Opfers, Startgebot. Auktionen fänden “normalerweise sonntags” statt sowie “innerhalb einer Woche nach Gefangennahme”.
Laut dem Logo auf dem Pamphlet bezieht sich die Gruppe auf die Darknet-Seite “The Black Death”. Dort wurde 2016 mit mehreren Fotos eine junge Frau beworben, die laut Webseite an den Meistbietenden versteigert werden sollte. Das Mädchen hatte nur eine Unterhose an, war mit Seilen an die Decke gefesselt und schien sich vor Schmerz hin- und herzuwinden. Das Startgebot lag bei 150.000 Dollar.
Die Bilder der angeblich verkauften Mädchen stammen aus einem Pornofilm
Später stellte sich heraus, dass die Bilder offenbar einem Sexfilm entnommen waren und das angebliche Entführungsopfer “Nicole” eine Pornodarstellerin ist. Motherboard-Autor Joseph Cox, der damals versuchte mit den Betreibern Kontakt aufzunehmen, kam zu dem Schluss, dass es sich bei der Seite vermutlich um einen Fake gehandelt habe. Nach den Kontaktversuchen von Cox gab die Seite bekannt, ihre Onion-Adresse wechseln zu wollen. Ob sie tatsächlich auf eine andere Domain umgezogen ist oder einfach offline ging, ist nicht bekannt.
Dass das Model eine Mutter ist, ist online kaum zu übersehen – und weitere Ungereimtheiten
Doch auch abgesehen von H.s Geschichte über die angebliche Darknet-Auktion bleiben zahlreiche Fragen offen.
Da ist die fadenscheinige Begründung für die Freilassung, erst im Nachhinein herausgefunden zu haben, dass Chloe A. einen zweijährigen Sohn hat. Eine kriminelle Bande, die die Entführung einer öffentlichen Person monatelang im voraus geplant hat, soll nicht in der Lage gewesen sein, das Instagram-Profil ihres Opfers zu prüfen? Denn auf dem öffentlich einsehbaren Account von A. befinden sich wenige Klicks entfernt nicht nur mehrere Bilder ihres Sohnes, sondern auch Fotos der schwangeren Chloe wenige Monate zuvor.
Der Erpresser sagt zum Abschied leise “Sorry”
Im Gegensatz zu den geheimniskrämerischen Betreibern der damaligen Darknet-Seite scheint die Entführergruppe plötzlich einen kommunikativen Stil zu pflegen. Nicht nur erklärt die kriminelle Organisation offen in einem Pamphlet – das Lukasz H. den Behörden buchstäblich vor die Füße trägt –, was sie Illegales tut und wie sie es tut.
Sie verfasst auch einen etwas wirren Brief an das Opfer, in dem sich die Täter für ihren “Fehler” entschuldigen, sie hätten sich das falsche Opfer ausgesucht.
Es scheint daher derzeit viel für die Ermittlertheorie zu sprechen, dass es sich bei der Darknet-Auktion um eine “elaboriert” inszenierte Drohung gehandelt haben muss, um an Lösegeld zu kommen. Die Darknet-Panik ist also bislang nicht mehr als das – eine medienwirksame Geschichte, die möglicherweise durch die Fantasie einer Erpresserbande befeuert wurde. Das alles bedeutet natürlich nicht, dass die Entführer das Leben der jungen Frau nicht trotzdem gefährdet haben. Über den mutmaßlichen Drahtzieher H. sagt Staatsanwalt Storari zusammenfassend: “Fantasie oder nicht – es ist klar, dass er ein sehr gefährlicher Mann ist.”