Fantasien ohne Vorurteile: Wie Fanfictions Frauen empowern

In den Weiten des Internet gibt es so ziemlich jede Form von Unterhaltung, und Rule 34 zufolge („wenn etwas existiert, existiert auch eine Pornovariante davon”), auch so ziemlich jede Form von Pornografie. Logisch, dass es auch in Fandoms von Serien, Büchern oder Spielen Pornografie gibt. Ob als Fanart in Form von Zeichnungen und Comics oder als Fanfiction in Form von geschriebenen Kurzgeschichten—die Kreativität der Fans kennt keine Grenzen. Da wird die Handlung der Lieblingsserie einfach in ein alternatives Universum verlegt oder ein unliebsames Ende von verzweifelten Fans zum Happy End umgeschrieben. Dabei wird es erotisch, sinnlich und ganz einfach schmutzig: Allein auf der Fanfiction sammelnden Seite AO3 finden sich knapp 260.000 Einträge, die mit „Sex” getaggt sind. Viel Auswahl also—doch wie kommt man dazu, Pornografie zu lesen, anstatt zu gucken? Ich habe mit Fans gesprochen und viel gelernt. Die wohl überraschendste Erkenntnis: Die Szene ist insbesondere für Frauen ein Weg, sich der eigenen Sexualität anzunähern.

Oft sind ganz normale Fanfictions—von Fans geschriebene Geschichten zu ihren Lieblingscharakteren—der Einstieg in die Welt von geschriebener Pornografie. Befreundete Fans tauschen sich aus, schicken sich gute, lustige oder spannende Fanfics und verfolgen auch längere Textreihen treu. Auf Fanfiction-Seiten kann man Geschichten abonnieren und bekommt bequem eine Benachrichtigung nach Hause, sobald ein weiterer Teil hochgeladen wird. Häufig kommt gerade in Longfics mit langsamem Aufbau („slow build”) früher oder später ein Kapitel, in dem’s zur Sache geht: die Lieblingscharaktere, zum Beispiel Harry und Draco aus Harry Potter, haben Sex. Wie sehr ins Detail gegangen wird, liegt am Schreibstil der Autorin—doch wer denkt, dass hier Geschlechtsverkehr in wenigen Sätzen abgehandelt wird, liegt falsch. Da gibt es ausgiebiges Vorspiel, leidenschaftlichen spontanen Sex, Erwähnung von Verhütung und Consent, multiple Orgasmen und ganz viel aufgestaute sexuelle Anstauung, die sich in diesen Kapiteln entlädt.

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Aber neben romantischen Longfics gibt’s auch einfach nur Pornografie. Die kann ebenfalls über mehrere Kapitel gehen—gerade Orgien brauchen viel Platz zur Wiedergabe—oder findet Raum in sogenannten Oneshots. Häufig werden rein pornografische Fanfics entsprechend getaggt: zum Beispiel mit PWP, was je nach Gusto für „Plot, what plot?” oder” Porn without plot” stehen kann. Neben den ausführlichen Sammlungen an Fanfics auf Seiten wie AO3 gibt es Fanfics, die etwas schwieriger zu finden sind und nur von Fan zu Fan verschickt werden. Andere wiederum schreiben ihre Pornografie auf Livejournal oder Tumblr, die Adressen häufig erst auffindbar, wenn man sich etwas tiefer in den Fandom eingräbt.

„Anfangs habe ich alles gelesen, was ich zu meinem Lieblings-Pairing finden konnte, und dann eben auch erotische Texte. Mittlerweile gehören diese Texte für mich zum Standard-Lesewerk” sagte mir eine junge Frau, die seit einigen Jahren Fanfics liest und mittlerweile ebenso selbst schreibt. Doch nicht jede findet ihren Einstieg in Fanfiction-Pornografie über romantische Longfics oder Pairings. So unterschiedlich, wie sich Kreativität in Fandoms ihre Bahnen bricht, so unterschiedlich sind die Kontexte, in denen kreative Pornografie innerhalb von Fandoms ausgelebt wird. Ein Beispiel sind Rollenspiele, in denen Fans verschiedene Rollen der favorisierten Charaktere im Spiel übernehmen. Dies kann als Live Action Role Play oder auch als Text-Event stattfinden. Neben ganz jugendfreien Rollenspielen, die das Eintauchen in bestimmte Fantasiewelten zum Fokus haben, gibt es auch Adult Role Play, in denen pornografische Handlungen nicht zentral sein müssen, aber durchaus sein können. Ob Rollenspiel oder Lieblings-Fanfic, die Leidenschaft für die Charaktere, Welt oder Geschichte steht beim Einstieg meist im Vordergrund. Wird Fanfiction-Pornografie dann jedoch einmal entdeckt, wird dieser Teil des Fandoms oft von allein ein wichtiger und selbstständiger Bestandteil des eigenen pornografischen Konsumverhaltens.

Die Frau, die Transfrau, die schwarze Frau, die junge Frau, die behinderte Frau—sie alle sind Charaktere mit Handlungsspielraum.

Doch was treibt gerade junge Frauen dazu, Fanfiction-Pornographie gegenüber traditionellem Porn zu bevorzugen? Da wäre zum Beispiel die Vielfalt und Repräsentation auch nicht-weißer und nicht normschöner Körper, und, damit ganz eng verbunden, die Wertschätzung sämtlicher weiblicher Körper an sich. Die Frau, die Transfrau, die schwarze Frau, die junge Frau, die behinderte Frau—sie alle sind Charaktere mit Handlungsspielraum, eigenen Wünschen, Fantasien, Charakteristiken, Schönheiten und Makeln. Sie werden nicht zum Lustobjekt degradiert, sondern zum Subjekt erhoben, das selbstbestimmt Sex hat. Dicke Frauen, die Liebe finden und Spaß an Sex haben, findet man in Fanficitions ebenso wie Menschen mit Behinderungen, Transfrauen und -männer, nicht-binäre Geschlechter, und andere unterrepräsentierte Gruppen.

Auch was die sexuelle Präferenz angeht, sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Von hetero Beziehungen zu schwul, lesbischen oder bisexuellen Akteur_innen, alles findet sich sowohl in romantischen Longifcs als auch in simpler Pornografie; ein Feature, das nebenbei dafür sorgt, dass keine Sexualität explizit fetischisiert wird. Gleichzeitig gibt es—je nach Fandom etwas seltener—auch pansexuelle und asexuelle Charaktere. Allein diese Vielfalt sorgt dafür, dass klassische Stereotypen aus Mainstream Pornos häufig vermieden werden können (Ausnahmen bestätigen leider auch hier die Regel). Ein Grund ist wohl, dass viele der Geschichten von Frauen für Frauen geschrieben werden, und der sogenannte Male Gaze nicht das vorrangige Kriterium ist, wenn es um die Bewertung von Unterhaltung, Erotik oder Sinnlichkeit geht. Hinzu kommt das liebevolle Verhältnis, das Fans schon allein aus ihrer Beziehung als Fan zu Material und Charakteren haben, und voila, es entsteht ein Sammelsurium an unterschiedlichsten Interpretationen und Fantasien des jeweiligen Fandoms.

Schon allein der Fakt, dass es Raum für Kinks jenseits des Mainstreams gibt, wirkt befreiend.

Sucht man auf AO3 nach den größten zusätzlichen Tags, mit denen pornographische Inhalte verschlagwortet werden, so findet man am häufigsten Analsex (45.000 Einträge), Oralsex (34.000), Blow Jobs (32.000) und Masturbation (23.000). Relativ Vanilla, möchte man meinen—doch so vielfältig wie sich viele Fandoms zusammensetzen, so vielfältig sind auch die pornographischen Inhalte. Von BDSM, Exhibitionismus und Gruppensex bis Knotting, Tentakelsex und Watersports gibt es unzählige Kinks und Vorlieben, die beschrieben und gelesen werden. Nicht alle werden durchgängig korrekt getaggt, und nicht alle finden sich auf den großen Fanfiction-Seiten. Je spezieller der Kink, desto spezieller die Nische des Internets, in der sich entsprechende pornografische Inhalte finden. Und doch: Es gibt sie, und sie werden sowohl gelesen, als auch geteilt. Das konfrontiert und verlangt ein gewisses Maß an Offenheit ab. „Zuerst wurde meine Toleranz ganz schön getestet. Doch dann wurde ich immer entspannter, was die Kinks anderer Leute angeht”, ließ mich ein Fan des My Little Pony Fandoms wissen. Gerade dort, wo Ponys sexuelle Handlungen ausüben, die man eigentlich mit Menschen assoziieren würde, ist es ungewohnt und gewöhnungsbedürftig. Doch es gibt auch Themen, die innerhalb von Fandoms umstritten, oder zumindest stark reglementiert sind. So ist auf den meisten Seiten und in vielen Fandoms, das Beschreiben von Sex von Minderjährigen verboten und wird kommentarlos gelöscht, sobald es gemeldet oder gefunden wird.

Texte, die zweifelhaften oder gar nicht vorhandenen Consent aushandeln, können einerseits als von Fans zum Verarbeiten eigener Erfahrungen gelesen werden, andererseits jedoch auch als Ausleben von Fantasien in einem geschützten Rahmen. Vergewaltigungsfantasien sind in diesem Kontext eine Form von Rollenspiel, welches die Leserin nur mit sich selbst—und somit selbst zustimmend und sicher—erlebt. Sie sind, um das direkt vorweg zu nehmen, kein Wunsch, wirkliche sexuelle Gewalt zu erleben. Wie Studien zeigen, stehen sie auch nicht zwingend in Zusammenhang damit, selbst bereits sexuelle Gewalt erfahren zu haben, sondern sind ein normaler Teil weiblicher Sexualität. Sowohl bei Rollenspielfantasien als auch in Geschichten, in denen es um die Aufarbeitung des Geschehenen, den Aftermath, geht, ist es so gut wie überall selbstverständlich, entsprechende Texte mit fehlendem/zweifelhaftem Consent zu kennzeichnen und Triggerwarnungen voranzustellen. So wird für alle Kinks und Thematiken, die sich im pornografischen Fanfiction-Umfeld finden, eine sichere Umgebung geschaffen. Und das ist großartig. Schon allein der Fakt, dass es Raum für Kinks jenseits des Mainstreams gibt, wirkt befreiend. Diese dann anonym, selbstständig und ohne Bewertung anderer kennen zu lernen, sich dabei auch noch repräsentiert fühlen und neue Dinge ausprobieren—das ist Empowerment.

Für Fans, die pornografische Fanfictions lesen, gibt es noch einen angenehmen Nebeneffekt: Sie lernen unheimlich viel. Über verschiedene Kinks, über sexuelle Praktiken, und über sich selbst. „Du würdest nicht glauben, wie viel ich durch Fanfictions über Analsex gelernt habe”, schrieb mir eine Fanfiction-Leserin auf die Frage, wie sich ihr Blick auf pornographische Fanfics verändert hätte und inwiefern sie sich selbst weiterentwickelte. Ob als Einführungskurs in Sex für asexuelle Personen, die sonst kein Interesse an Pornos haben, oder als How-To-Inspirationsschrift für den nächsten Blowjob: Fanfictions bieten für alle etwas. Das fängt bei Sachen wie Hygiene an und hört bei verschiedenen Kinks lange nicht auf. Gerade junge Fanfiction-Leserinnen, die oft Teenies sind, können dort mehr lernen, als es jeder Sexualkundeunterricht der Welt je bieten würde. Dinge, wie welche Gleitgele mit Sexspielzeug besser nicht kombiniert werden sollten oder wie eine ordentliche Aftercare nach Schmerzspielen aussieht, sind nun mal nichts, was man Lehrerinnen oder Mütter einfach so fragt.

In mehreren Absätzen nehmen sich die Autorinnen Zeit und Muße, ausführliche und möglichst realitätsnahe Pornografie zu bieten. Da überrascht es auch nicht, dass sich in manchen Fanfics auch ganz praktische Sextipps finden und ein Einführungskurs zu bestimmten Praktiken umsonst mitgeliefert wird. Immer wieder gibt es Bitten, 50 Shades of Grey—im Übrigen auch eine Fanfiction, zu Twilight—so umzuschreiben, dass Dom-Sub-Beziehungen nicht zuletzt in Bezug auf Consent und Aftercare ordentlich und akkurat dargestellt werden.

Fanfictions sind erotische, sinnliche, sichere Mittel, um die eigene sexuelle Identität auszuprobieren.

Dieses Gemeinschaftsgefühl gibt Sicherheit und Mut, sich auszuprobieren. Speziellere pornographische Inhalte werden gesucht, gelesen und in manchen Fällen auch geschrieben. Natürlich werden nicht alle Kinks von allen gelesen—dafür lernt so manche Leserin dadurch, ihre sexuellen Interessen auszuloten und erfährt eine neue Form von Selbstbewusstsein. In einem Fall berichtete mir jemand davon, wie sie sich ihrer Identität durch pornografische Zeichnungen bewusst wurden: „Ich habe meine Charaktere mit hypersexualisierten weiblichen Körpern gezeichnet und einen Penis hinzugefügt. Ich habe fünf Jahre dieses Zeichenstils gebraucht, bis mir bewusst wurde, dass ich irgendetwas anderes als eine cis Frau sein könnte. Ich weiß nicht, ob ich das je herausgefunden hätte, ohne die Art von Körpern zu zeichnen, die ich gezeichnet habe.”

Anscheinend bieten Fan-Communities durch ihren einzigartigen Ansatz, Pornografie zu kreieren und zu teilen genügend Raum, um die eigene Identität und Sexualität zu reflektieren. Als ich zu dem Thema auf der re:publica einen Vortrag hielt, sprach ich im Anschluss mit einem jungen Mann, der mir plötzlich berichtete, dass er vor seinem Coming Out mehr oder weniger heimlich männliche Pairings las. Im Nachhinein betrachtet machte das für ihn nun viel mehr Sinn! Natürlich hat nicht jede Leserin rückblickend einen ähnlich großen Aha-Effekt—doch der Grundtenor bleibt: Fanfictions sind erotische, sinnliche, sichere Mittel, um die eigene sexuelle Identität auszuprobieren.

Trotzdem: auch 2016 noch sind Fanfictions im Allgemeinen, und pornografische Inhalte im Speziellen weiterhin sehr stigmatisiert. Nur wenige Fans möchten öffentlich erzählen, dass sie Pornografie in Fanfics oder Fanart konsumieren, einige sehen sogar ihre berufliche Existenz bedroht, würde bekannt werden, dass sie Fanfics lesen. Ein Teil des Stigmas mag damit verbunden sein, dass Frauen, die selbstbewusst über ihre Körper und ihre sexuellen Präferenzen entscheiden, der männlich dominierten Gesellschaft immer noch suspekt sind. Dass Fans meist als hysterische, schreiende Mädchen dargestellt werden, tut sein Übriges dazu. Eine ernste, nicht lachende oder kinkshamende Auseinandersetzung findet so gut wie nie statt. Werden im Mainstream Fanfictions oder Fanart gezeigt—vielleicht sogar erotische Varianten davon—, dann meist um Schauspielern der entsprechenden Charaktere einen lustigen Kommentar zu entlocken oder um sie gar in Verlegenheit zu bringen. Es wird über die Fans gelacht, die mit liebevoller Hingabe stundenlang Kunst, Texte und Weiterentwicklungen schaffen, Werke werden aus ihrem Kontext gerissen und auf Kosten ihrer Macherinnen ohne Credit oder Bezahlung gezeigt.

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Hier fehlt es nicht nur ganz offensichtlich am Grundverständnis von Fankulturen und subkulturellen Ausprägungen, sondern auch an einem erwachsenen Umgang mit Erotik, Sinnlichkeit und Sex. Dem kann wohl nur langfristig entgegengewirkt werden, wenn es eine offene und erwachsene Konversation über Sex, Pornos und Kinks gibt. Vielleicht bleibt das Thema aber auch weiterhin ein Mysterium, an das sich der Mainstream ebenso wenig traut wie das Thema der Fandoms generell. Die Zeit wird es zeigen—bis dahin bleiben im Zweifel nur AO3, Tumblr und eine Armada an gespeicherten Lesezeichen zu den Lieblings-Fics.

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