6 Uhr, Dorfplatz Mels, eine 8.000-Seelen-Gemeinde im Kanton St.Gallen: Die Kälte kriecht mir die Beine hoch und ich wünsche mir, ich hätte zwei Paar Socken angezogen. An mir vorbei drängt sich ein Grüppchen Teenies im Tigerkostüm, allesamt eine Dose Bier in der Hand. Für alle Menschen, die sich für die Fasnacht begeistern können, ist der Donnerstag vor Aschermittwoch nicht nur irgendein Donnerstag: Es ist schmutziger Donnerstag, der Beginn der Fasnacht. In Mels, der grössten Gemeinde im Kanton St. Gallen, wird die Fasnacht für ländliche Verhältnisse im grossen Stil zelebriert: Rund 500 Menschen stehen sich am frühesten Morgen auf dem Dorfplatz die Beine in den Bauch, um am “Schmudo”, wie der Tag von den Einheimischen genannt wird, mit der sogenannten “Iihuttlätä” die fünfte Jahreszeit einzuläuten. Da ich selbst ursprünglich aus der Ostschweizer Provinz komme, weiss ich: Gegen die Fasnacht im Dorf sieht ein Botéllon aus, wie ein Kindergeburtstag. Ich frage den Mann im grünen Plüschkostüm neben mir, seit wann er schon am Trinken ist: “3:30 Uhr und du?” Ich erkläre ihm, dass ich nüchtern bleibe. “Willst du einen Shot?” Ich verneine dankend. Zwei junge Mädchen wippen vor mir im Takt zu einer Guggenmusik-Coverversion von Bostons “More Than A Feeling”.
VICE: Was trinkt ihr da?
Die Mädchen: Bambus.
VICE: Und das ist?
Die Mädchen: Rotwein mit Cola. Ist echt lecker. Willst du?
VICE: Nein, danke. Wie alt seid ihr?
Die Mädchen: Wir sind beide 17.
VICE: Müsst ihr später nicht noch zur Schule?
Die Mädchen: Nein, wir haben Ferien. Sonst würden wir das hier wohl nicht machen.
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Städte wie Basel und Luzern können über die Veranstaltung in der Ostschweiz zwar nur müde lächeln. Die Basler Fasnacht etwa wurde vergangenes Jahr in die repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbe der Menschheit aufgenommen. Dennoch ist auch die Fasnacht in Mels irgendwie traditionell verankert, wie ich im Gespräch mit den nächsten Besuchern herausfinde, die weder verkleidet sind, noch eine Alkoholfahne vor sich hertragen. Oder, wie das die Organisatoren der Melser Fasnacht auf ihrer Website schreiben: “Eine der grössten und schönsten Fasnachtveranstaltungen der Ostschweiz.”
VICE: Seid ihr betrunken?
Die Männer: Nein, wir müssen später zur Arbeit.
VICE: Ich dachte mir zu trinken gehört hier fast dazu?
Die Männer: Nicht unbedingt. Für uns als Melser ist das sozusagen eine Pflichtveranstaltung.
VICE: Und wie ist das so ohne Alkohol?
Die Männer: Nicht alle sind hier, weil sie sich betrinken. Es geht auch um die Stimmung. In dieser Woche sind einfach immer alle gut drauf.
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Der Ansager kündigt “I’ll Be Missing You” an, und animiert: “Und jetzt alle mitmachen, damit ihr warm bekommt! Und Stimmung!” Der halbe Dorfplatz schunkelt zu der dröhnenden Musik mit und ersetzt den Text des Liedes kurzerhand durch “Dödödö”-Gesänge. Mittlerweile ist es kurz nach 7 Uhr und ich entscheide, mich in das Narren-Epizentrum zu begeben: in einen der Bar-Wagen. Unterwegs begegne ich einem Grüppchen junger Männer, zwei davon in Guggenmusik-Kluft.
VICE: Seit wann trinkt ihr schon?
Mann 1: Seit gestern. Ich plane noch weiter durchzumachen, morgen muss ich dann wieder in die Schule. Damit ich keinen allzu grossen Kater habe, trinke ich ab Mitternacht nur noch Wasser.
VICE: Gehört Trinken zur Fasnacht dazu?
Alle: (Gelächter) Neeeiiiin
VICE: Seid ihr oft betrunken?
Mann 2: Nein, nie.
VICE: Ernsthaft?
Mann 3: Ne. Praktisch jedes Wochenende.
VICE: Wie oft trinkt ihr denn so unter der Woche?
Mann 3: Ja schon so ein, zweimal ein, zwei Bier.
VICE: Ab wann ist man für euch denn Alkoholiker?
Mann 3: Für mich sind das meist so die alten Männer, die schon morgens um 8 Uhr im Café sitzen und eine Stange trinken.
Mann 2: Es heisst ja, man sei Alkoholiker, wenn man jeden Tag was trinkt.
Mann 4: Wobei, die Mutter meines Lehrmeisters ist etwa 95 Jahre alt. Die trinkt jeden Tag ein Glas Wein und ‘funktioniert’ normal.
Mann 1: An der Fasnacht gibt es eh keine Alkoholiker!
VICE: Was wäre denn Fasnacht ohne Alkohol?
Mann 1: Scheisse.
“Das Trinkverhalten wird problematisch wenn die Menge von ein bis zwei alkoholischen Getränken bei Frauen und zwei bis drei bei Männern regelmässig überschritten wird”, erklärt mir Markus Meury, Mediensprecher von der Suchtberatung Schweiz. Wobei eine Alkoholeinheit etwa 1 dl Wein, 3 dl Bier oder 0.2 dl hartem Alkohol entspricht. “Wer ausnahmsweise mehr trinkt, soll sich auf fünf Getränke für Männer und vier für Frauen beschränken.” Meury gibt aber zu bedenken: “Bei Jugendlichen sieht das anders aus. Da sie in der Entwicklung sind, reagiert ihr System viel sensibler und stärker auf Alkohol. Zum Einen, weil sie weniger Gewicht auf die Waage bringen und zum Anderen, da sie weniger Enzyme als Erwachsene haben, was den Effekt verlängert.” Je früher man mit regelmässigem Alkoholkonsum beginne, desto problematischer könne dies in der Zukunft werden. Wer sich also zum Beispiel jedes Wochenende regelmässig betrinke, laufe später eher Gefahr Alkoholabhängig zu werden. “Das Hirn ist bei Jugendlichen einfach noch nicht vollständig entwickelt.” Die Empfehlung von Sucht Schweiz lautet, bis 16 gar keinen Alkohol zu trinken. “Danach ist ab und an ein Glas zum Anstossen schon in Ordnung. Je mehr man aber trinkt, desto mehr verliert man die Kontrolle.”
Angst vor Kontrollverlust herrscht an der Fasnacht aber kaum. Eine Gruppe junger Frauen schlendert Arm in Arm schwankend über den Platz vor einem Festzelt und grölt: “Saufen!” Die Barwagen zu finden ist nicht schwer: Man muss einfach dem Wummern der Bässe folgen. Schwieriger ist es allerdings, sich tatsächlich einen Platz an der Bar oder auf der Tanzfläche zu sichern: Es ist so voll, dass umzufallen ein Ding der Unmöglichkeit ist. Indes bin ich mir nicht sicher, ob ich in einer Karaoke-Bar gelandet bin: Den Text zu irgendeinem Ballermann-Hit scheinen nicht nur alle auswendig zu kennen, sie gröhlen ihn auch mit. “Lass mich diesen Kleber rasch hier anbringen”, spricht mich ein Mann von der Seite an und bewegt seine Hände in Richtung meiner Brüste. “Ich möchte nicht,dass du mir was auf meine Brüste klebst”, entgegne ich ihm. “Komm schon, das ist Tradition in unserer Guggenmusik”, versucht mich der junge Mann zu überzeugen. “Nein, danke, passt grad so.” “Komm schon!” “Kannst du nicht einfach mein ‘Nein’ akzeptieren?!” “Nur schwer.” “Machst du das bei allen Frauen?” “Eigentlich schon.” Für mich das Stichwort, das Weite zu suchen da ich gerade keine Energie habe, einen Fremden mit Schnapsfahne über Grenzen und sexuelle Übergriffigkeit aufzuklären.
Alkohol gilt als psychoaktive Substanz, die nicht nur unser Bewusstsein und die Motorik, sondern auch die Wahrnehmung beeinflusst. Unter dem Einfluss von Alkohol wird nicht nur die Anspannung, sondern auch die Hemmschwelle gesenkt. “Wie viel ist zu viel?” Mit dieser Frage beschäftigt sich auch die Alkoholpräventionskampagne des Bundesamtes für Gesundheit (BAG). Auf ihrer Website warnen sie vor Grenzen, die man nicht überschreiten sollte da man sonst Gefahr laufe “die Kontrolle zu verlieren und aggressiv, gewalttätig oder enthemmt aufzutreten.” Auch die Erinnerungen sind nach einer Nacht exzessiven Alkoholkonsums selten präsent. Laut BAG trinkt in der Schweiz jede fünfte Person zu viel und zu oft. “Alkoholmissbrauch führt zu Gewalt, schädigt die Gesundheit und verursacht erhebliche Kosten”, heisst es auf der Homepage des BAG. In der Schweiz gelten 250’000 bis 300’000 Personen als alkoholabhängig. Bei Sucht Schweiz rechnet man mit Kosten von 630 Franken pro Einwohner über 15 Jahre. Aber auch die sozialen Probleme sind nicht zu vernachlässigen. Das BAG schreibt dazu: Alkoholmissbrauch zerstört Freundschaften, Familien und stört das Zusammensein.
Draussen komme ich mit einer jungen Frau ins Gespräch, die sich als begeisterte Fasnächtlerin entpuppt. Zum Vorfall von vorhin in der Bar findet sie: “Ja, das gehört hier leider schon fast dazu. Das finde ich aber auch scheisse. Letztes Jahr hatte ich einen etwas kürzeren Rock an, da hatte ich auf der Tanzfläche ständig irgendwelche Hände an meinem Arsch, das war schon unangenehm. Dieses Jahr habe ich mich darum auch für Leggings und einen längeren Rock entschieden.”
VICE: Denkst du, Alkohol fördert hier übergriffiges Verhalten?
Junge Frau: Ja, auch. Aber an der Fasnacht ist es schon extremer. Im normalen Ausgang würden viele Männer ein ‘Nein’ eher akzeptieren, obwohl sie da auch angetrunken oder betrunken sind.
VICE: Gehört denn Alkohol zum Anlass dazu?
Junge Frau: Irgendwie schon. Letztes Jahr habe ich es aber absolut übertrieben: Ich hatte kaum was gegessen und schon frühmorgens mit dem Trinken angefangen. Da ging es mir am Abend echt dreckig. Dieses Jahr mache ich das nicht mehr.
VICE: Hast du denn heute schon etwas getrunken?
Junge Frau: Ja, so drei, vier Shots und einen Schnaps. Aber ich gehe jetzt was Essen.
Mittlerweile ist es 8:30 Uhr und ich fühle mich, als hätte ich die Nacht durchgefeiert. Mein Kopf schmerzt undirgendein Schlagersong bleibt mir auf dem Weg zum Bahnhof als Ohrwurm in meinem Kopf. Im Wartehäuschen sitzt eine ältere Dame neben Bierdosen, Blut und Kotze. “Wenn Fasnacht ist, schlafe ich nie länger als bis um 6 Uhr”, erklärt sie. “Wenn die auf dem Dorfplatz mit dem Feiern beginnen, ist an Schlaf nicht mehr zu denken.” Sie gibt sich von der Szenerie aber unbeeindruckt: “Dass an der Fasnacht auch getrunken wird, das war schon früher so.”