Plötzlich kniet ein dicker, verschwitzter Mann vor mir. “Respekt”, sagt er. Ratlos lasse ich ihn meine Hand schütteln. “Er wollte nur sagen, dass du tolle Haare hast”, übersetzt seine Freundin für mich. Der Mann steht wieder auf und krempelt die Ärmel hoch, um mir das Tattoo seines Motorradclubs zu zeigen. Wie in einem Tierfilm über Hyänen in Süd-Äthiopien erläutert die Frau, was für Absichten sich hinter seinen Gesten verstecken: “Er will ein Foto mit dir, um seinen Freunden zu zeigen, wie interessant die Leute in Berlin sind.”
Ich möchte nicht fotografiert werden wie eine touristische Sehenswürdigkeit, um später von Bikern aus der Provinz bestaunt zu werden. Aber der Mann versucht zu verhandeln: “Du kannst auch dein Gesicht verstecken.” Als ich immer noch nicht will, ist er beleidigt: Er sei ja kein CIA-Agent. Dann rauscht die U-Bahn an und somit die Gelegenheit vorbei, dem Motorradfahrer zu erklären, warum er schwarze Menschen nicht als Zirkus-Kuriositäten behandeln sollte.
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Seit ich aus Brasilien nach Berlin gezogen bin, fühle ich mich wie ein Popstar. Wenn ich von meiner Wohnung zur U-Bahnhaltestelle Neukölln laufe, drücken die Kinder aus dem Kindergarten im ersten Stock ihre Nasen an der Fensterscheibe platt. An der Ecke schenkt mir ein Hippie ein breites Lächeln. Fünf Minuten zu Fuß dauert mein Weg zur U-Bahn. Währenddessen höre ich mindestens zweimal “Coole Haare!” oder “Krasse Haare!”. Zwei Jungs sind angesichts meiner Frisur ganz aus dem Häuschen. Als ich merke, dass der eine versucht, mit seinem Handy heimlich ein Foto von mir zu machen, winke ich und werfe ihm eine Kusshand zu.
Ich hätte nie gedacht, dass meine Haare so viele Fans haben werden. In Brasilien, wo ich herkomme, gilt voluminöses, krauses Haar als ungepflegt. Brasilien wird zwar gern als ein “farbenblindes” Land dargestellt, das keinen Unterschied zwischen Schwarz und Weiß kennt, und wo alle beim Karneval gemeinsam feiern und knutschen. Aber das ist ein Mythos. Schwarze oder Menschen gemischter Abstammung verdienen immer noch 40 Prozent weniger als Weiße, nur 9,8 Prozent aller Studenten sind schwarz.
Die wenigsten Brasilianer wollen afrikanisch aussehen. Krause Haare gelten als “triebhaft” und “sündhaft” und die meisten versuchen, sie um jeden Preis zu glätten. In der Kleinstadt im Bundesstaat Rio de Janeiro, aus der ich herkomme, schreien mir selbst Menschen mit afrikanischen Wurzeln “Kämm dein Haar!”, “Schneid dein Haar, du Scheiße!” oder “Dein Haar ist lächerlich” hinterher. Auch meine eigene (weiße) Mutter musste ich ständig korrigieren. Sie nannte mein Haar “cabelo ruim”—zu Deutsch “schlechtes Haar”—wie meine Locken oft in Brasilien bezeichnet werden.
Dabei ist es eigentlich unglaublich, dass ich in Brasilien ein Fremdkörper bin: Schwarze oder Menschen gemischter Abstammung machen die Mehrheit der Bevölkerung aus: laut einer Erhebung von 2015 53 Prozent. Sprich: Über die Hälfte der Menschen in meinem Land sieht mir ähnlich, und unsere Nachbarn traten extra aus dem Haus, wenn sie mich sahen, um mit dem Finger auf mich zu zeigen und sich über mein Haar lustig zu machen.
Nur langsam fangen die Brasilianer an, ihre schwarzen Wurzeln zu akzeptieren: Beautyblogger feiern endlich ihre afrikanischen Haare und geben Pflegetipps. In Telenovelas—in Brasilien ein Gradmesser für gesellschaftliche Veränderung—kann man endlich lockige Protagonistinnen sehen. Ich hoffe, dass der nächsten Generation in paar Qualen erspart bleiben, durch die ich gehen musste. Als ich sieben Jahre alt war, hat meine Tante mein Haar zum ersten Mal geglättet. Das Verfahren dauerte vier Stunden und hat sich nicht nur in meine Erinnerung gebrannt, sondern auch in meine Kopfhaut: in Form von Brandwunden auf meinem Kopf. Aber es half nichts. “Wer schön sein will, muss leiden”, hieß es dann die nächsten Jahre für mich—und für Millionen anderer Mädchen.
Erst Ende der 90er, da war ich 12, habe ich mich getraut, mit Naturlocken zur Schule zu gehen—inspiriert von Mel B von den Spice Girls. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Ich nicht. Meine Klassenkameraden mobbten mich so heftig, dass es ein weiteres Jahrzehnt dauerte, bis ich mich traute, meine Haare natürlich zu lassen. Als ich das erste Mal seit Jahren meine Naturlocken angefasst habe, dachte ich: “Sie sind so weich, ein Kunstwerk der Natur.” Seitdem sind meine Haare und ich endlich versöhnt.
An meinem ersten Tag in Berlin, als ein faszinierter Punk mein Haar anfassen wollte, konnte ich kaum glauben, dass sich jemand gleichermaßen dafür begeistert. Ich ließ es zu, klar. Und so ging das weiter. Auf Partys, mitten im Smalltalk, auf der Straße ließ ich mehr oder weniger bekannte Neugierige meine Haare tätscheln. Bis mir auffiel, dass diese Aufmerksamkeit im Grunde die gleichen Wurzeln hat wie die Sprüche in meiner Heimatstadt: Beide erinnern mich daran, dass ich anders bin.
Ich möchte nicht ständig im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Ich will, dass mein Äußeres als normal gilt. Das Fass war voll, als eine mir völlig fremde Oma, ohne zu fragen, nach meinem Haar griff. Ich meine: Hätte ich das gleiche gemacht, die Geschichte würde vermutlich auf der Polizeiwache enden. Ich verstehe, dass es niemand böse meint. Ich würdige die Komplimente. Ich kann nachvollziehen, dass Deutsche meine Haare als exotisch empfinden, neugierig sind.
Fragt mich, ich antworte gern. Wenn wir gut befreundet sind, lasse ich euch sogar anfassen. Aber bitte behandelt mich nicht wie ein sonderbares Objekt, sondern wie einen Menschen, mit seinen Grenzen, die man nicht überschreiten darf. Ich habe es satt, eine Kuriosität zu sein. Man kann mich nicht einfach so anfassen wie einen Schoßhund, obwohl man auch das bei fremden Hunden nicht machen sollte. Mein Haar ist kein Pudel, sondern ein Widerstandssymbol.