Fördert die ‚Pille danach‘ wirklich Missbrauchsfälle in der Familie?

Foto: Jason Rogers | Flickr | CC BY 2.0

In Deutschland gab es die ein oder andere erbitterte Diskussion um die ‚Pille danach’. Während die einen sich insbesondere für Missbrauchsopfer einen unkomplizierten Schutz vor ungewollten Schwangerschaften wünschten und sich dementsprechend für eine Befreiung des Medikaments von der Rezeptpflicht einsetzten, machten Gegner der geplanten Reform unter anderem mit der Aussage von sich reden, dass die Rezeptfreiheit in ungezügeltem Konsum des starken Medikaments münden würde. Ganz so als hätten die Frauen dieser Welt auf nichts anderes gewartet, als sich den Hormon-Hammer wie Smarties in den Mund zu werfen und für immer auf Kondome zu verzichten.

Der öffentliche Widerstand trug allerdings keine Früchte, seit Montag ist die Pille danach in den Apotheken deutschlandweit ohne Rezept zu erwerben. Passend zum Anlass hat die FAZ einen recht ausführlichen Artikel veröffentlicht, in dem sie insbesondere die Gegenargumente zur Rezeptfreiheit Revue passieren ließ. Darunter war vor allem eine These von Seiten der Frauenärzte interessant, die befürchten, dass die Freigabe der Pille Sexualstraftätern in die Hände spielen könnte. „Bei Vergewaltigungen, vor allem in der Familie und im engsten sozialen Umfeld des Täters, könnte der Täter die ‚Pille danach’ schon vorsorglich gekauft und mitgebracht haben, um sie dann dem Opfer zwangsweise zu verabreichen. Eine Vaterschaft, die ihn als Täter überführen könnte, würde er so verhindern—was er in der Vergangenheit nicht konnte”, fasst die FAZ die Position der Gynäkologen zusammen.

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Die nachträgliche Empfängnisverhütung in Pillenform als ultimatives Tool für Triebtäter im Familienumfeld? Das klang uns dann doch ein bisschen zu weit hergeholt, als dass wir es nicht hinterfragen wollen würden. Deswegen haben wir bei mehreren Institutionen nachgefragt, die sich mit dem Thema sexueller Missbrauch beschäftigen. Wie ist das denn nun? Gibt es einen nachweisbaren Zusammenhang zwischen Inzest und der Pille danach? Und ist es nicht irgendwie auch zynisch, nur Kinder als ultimativen Beweis für einen Missbrauchsfall zu sehen? Die Antworten der Experten waren überraschend einstimmig.

Andreas Mayer, Geschäftsführer der Polizeilichen Kriminalprävention in Deutschland:
„Grundsätzlich können wir zu der geäußerten Befürchtung der Ärzte nichts sagen, da es hierzu keine polizeilichen Erfahrungen gibt (wie auch). Inwieweit die ‚Pille danach’ überhaupt im Tatgeschehen innerfamiliärer, sexueller Gewalt eine Rolle spielt, lässt sich deutschlandweit nicht automatisiert recherchieren. Insofern ist alles, was ich darüber hinaus sagen kann, Spekulation.

Ich denke, dass eine Befürchtung, wie sie in dem FAZ-Artikel geäußert wird, im Einzelfall sicherlich nicht von der Hand zu weisen ist. Aber: Je enger die Beziehung zwischen Täter und Opfer ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Missbrauchshandlungen intensiver, über einen längeren Zeitraum und mit mehr (psychischer) Gewalt ausgeführt werden. Innerfamiliärer Missbrauch oder sexuelle Gewalt an Mädchen in Verbindung mit der ‚Pille danach’ setzt voraus, dass diese im gebärfähigen Alter sind. Die Taten beginnen nach polizeilicher Erfahrung vorher.

Wenn Mädchen einmal ein solches Alter erreicht haben und dennoch zu der Gewalt, der sie ausgesetzt sind, wegen des Machtgefälles zwischen Täter und Opfer schweigen, ist es m. E. für einen Täter auch möglich, das Opfer dazu zu bewegen oder so zu manipulieren—als Teil des Tatplans—, die Pille zu nehmen oder sich die ‚Pille danach’ auf Rezept selbst verschreiben zu lassen.

Die rezeptfreie Abgabe der ‚Pille danach’ ermöglicht es dem Opfer einer sexuellen Gewalttat, unabhängig von der Beziehung zu einem Täter, unkompliziert selbst Vorsorge vor einer ungewollten Schwangerschaft zu treffen. Mir erscheint dies eher eine opferfreundliche Regelung zu sein.”

Ingo Fock, gegen-missbrauch e.V.:
„Diese Befürchtung teilen wir nicht. Wer vorhat, ein Kind zu missbrauchen, wird auch andere Mittel und Wege finden, damit es nicht zu einer Schwangerschaft kommt. Manche Väter kennen die Monatszyklen ihrer Töchter sogar besser als sie selbst. Und Kondome sind leicht gekauft, bei der ‚Pille danach’ besteht zumindest die Hürde des direkten Kontaktes mit dem Apotheker. Richtig ist aber, dass ein Missbrauch in der Regel von langer Hand geplant wird.

Trotzdem sind wir gegen das unkontrollierte Verabreichen der ‚Pille danach’, um generell einen missbräuchlichen Umgang damit zu verhindern. Und in Zeiten von Aids birgt ungeschützter Sex nicht nur das Risiko einer ungewollten Schwangerschaft.”

Beratungsstelle „Kind im Zentrum”:
„Zur Frage des Einflusses der Freigabe der ‚Pille danach’ ohne Rezept auf mögliches Täterverhalten bei familiärem Missbrauch von Kindern, einige Erfahrungen unserer Beratungsstelle:

  • Schwangerschaft als bedeutsames Merkmal zur Aufdeckung sexuellen Kindesmissbrauchs tritt nur in einer sehr geringen Anzahl von Fällen auf
  • in der überwiegenden Zahl der Fälle beginnt sexueller Missbrauch vor der Menarche (sowohl im familiären Kontext als auch außerhalb von diesem)
  • bei Geschwisterinzest ist eine höhere Bedeutung der Möglichkeit einer Schwangerschaft anzunehmen, da dieser häufig im Jugendalter stattfindet
  • bei pädophilen Tätern hört aufgrund des bevorzugten Körperschemas der Missbrauch häufig vor der Menarche auf
  • Täter aus dem familiären Bereich achten oft nicht auf Verhütung oder mögliche Schwangerschaft
  • in Einzelfällen haben planvoll und bewusst vorgehende Täter darauf geachtet, eine Schwangerschaft im Zuge von Missbrauch zu vermeiden (dies spricht aber nicht automatisch für die These, da auch über die ‚normale’ Pille oder andere Verhütung eine solche Vermeidung stattfinden kann)
  • Maßnahmen wie die ‚Pille danach’ können keinen Ersatz für Prävention und sexuelle Bildung darstellen”

Iris Hölling, Geschäftsführerin des Wildwasser e.V. Berlin:
„Wir können diesen Zusammenhang so nicht bestätigen und halten diese These für eine reine Vermutung. Ein Zusammenhang zwischen der ‚Pille danach’ und der Häufigkeit von sexuellem Missbrauch ist uns aus unserer Arbeit nicht bekannt.”