Ende letzten Jahres wurde eine erschreckende Ahnung mit finaler Gewissheit bestätigt: Die Ära der globalen Antibiotikaresistenz ist angebrochen. Selbst Medikamente, die auf Intensivstationen als Notfallhämmer gegen resistente Bakterien eingesetzt werden, zeigten sich in einigen Fällen wirkungslos.
Eine Lösung für dieses medizinische Desaster könnte nun in einem tausend Jahre alten Rezept-Buch gefunden worden sein. Ein Forscherteam der Universität Nottingham, bestehend aus der Professorin für Wikingerstudien und angelsächsischer Kultur, Christina Lee, und der Mikrobiologin Freya Harrison erschuf dafür das Projekt Ancientbiotics und brachte die erstaunliche Wirksamkeit einer mittelalterlichen Salbe ans Tageslicht.
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„Wir sehen uns momentan der großen Gefahr ausgesetzt, Infektionen nicht mehr mit Antibiotika bekämpfen zu können. Ich arbeite mit einer Zeitperiode, in der es noch keine Antibiotika gab”, begründet Christina Lee in einem Video der Universität ihre Entscheidung, in dem uralten Buch nach Heilmethoden für aktuelle Krankheiten zu suchen.
Die Wissenschaftler stellten nach einem Rezept aus Bald’s Leechbook, einer altenglischen medizinischen Handschrift aus dem 9. Jahrhundert, eine infektionshemmende Augensalbe her. Das ledergebundene Buch wurde vermutlich von einem englischen Medizinkundigen zusammengestellt und gilt als eines der ältesten bekannten Bücher, in dem zahlreiche Krankheiten sowie Rezepte für Tinkturen, Salben und andere Behandlungsmöglichkeiten aufgeführt sind.
Das Rezept für die Augensalbe gilt als eines der wirksamsten des Buches, was unter anderem Grund für die Entscheidung war, genau dieses Mittel als erstes auszuprobieren. Dazu kommt, dass sich die Zutaten aus der alten Schrift relativ einfach nachvollziehen und auch in heutiger Zeit noch auftreiben ließen. Für die Salbe mussten unter anderem Knoblauch, Zwiebeln, Lauch, Ochsengalle und Wein in einem Kupferkessel neun Tage ziehen. „Viele der Zutaten wie zum Beispiel Knoblauch werden auch aktuell von Forschern wieder auf mögliche antibiotische Wirksamkeit untersucht”, so Lee.
Obwohl die Mengenangaben und Herstellungshinweise in Bald’s Leechbook genau angegeben waren, standen die Forscher vor der Herausforderung, die Zutaten in ähnlicher Qualität und einer vergleichbaren Sorte wie vor tausend Jahren für die Medizin zu verarbeiten. Für den Wein fanden sie beispielsweise einen Winzer, dessen Gut bereits seit dem 9. Jahrhundert besteht und der in alter Tradition arbeitet.
Für die ersten Tests mit der Tinktur züchteten die Mikrobiologen auf einem Gewebe Bakterien in einer Petrischale, die eine Infektion im menschlichen Körper imitieren sollte. 24 Stunden später waren die Ergebnisse überwältigend. Die Augensalbe tötete sogar den gegen Antibiotika multiresistenten Krankenhaus-Keim Methicillin-resistente Staphylococcus aureus (MRSA) zu 99,9 Prozent ab.
„Das ist etwas, das wir überhaupt nicht erwartet hatten. Wir hatten zuerst gedacht, wir hätten Domestos hergestellt, das ist ja auch antibakteriell”, so Christina Lee in einem Interview mit DRadio Wissen. Doch das Ergebnis war wesentlich durchschlagender als die Erschaffung eines kraftvollen Kloreinigers. Freya Harris sieht nach zahlreichen Tests und Experimenten in der Mittelaltersalbe sogar die Wahrscheinlichkeit für ein echtes Alternativantibiotikum.
„Wir fanden heraus, dass Bald’s Augensalbe unglaublich wirksam ist”, so Freya Harris. „In der Ausgangssituation hatten wir eine reife Population von einigen Billionen Staphylococcus-Zellen aus, die sich in einer schützenden Schicht aus Biofilm befanden und diese hatte sich binnen eines Tages auf ein paar tausend lebende Zellen verringert. Das ist eine massive Zerstörungsfähigkeit.”
Wie die Salbe genau wirkt, konnten die Forscher bisher noch nicht beantworten—das wollen sie in einem nächsten Schritt herausfinden. Eine mögliche Erklärung für die enorme Wirksamkeit des uralten Rezepts könnte sein, dass die Komponenten der Salbe die Keime auf verschiedenen Ebenen angreifen und sie so umfassend beseitigen können. Die Krankheitserreger könnten somit eine Form der Schädigung überleben, aber nicht drei auf einmal. Ebenso könnte es sein, dass in der neuntägigen Ruhezeit bis zur vollen Wirksamkeit der Medizin chemische Reaktionen stattfinden, welche ein völlig neues Molekül erschaffen, das einen besonders effizienten Angriff auf die Bakterien ausführt.