Ceuta ist eine Küstenstadt mit einer Besonderheit: Als spanische Exklave befindet sie sich an der nördlichsten Landspitze von Marokko. Genauso wie die Exklave Melilla gehört Ceuta zum spanischen Staatsgebiet und zur EU, auch wenn die beiden Städte eigentlich auf einem anderen Kontinent liegen. Weil sie nur durch Zäune und Mauern von Marokko getrennt werden, sind Ceuta und Melilla für Geflüchtete schon lange wichtige Übergangspunkte nach Europa – obwohl die spanische Regierung mehrere Millionen Euro in die Grenzsicherung investiert hat, damit diese Menschen es gar nicht erst rüber schaffen.
Zwischen dem 17. und 18. Mai 2021 überquerten aber mehr als 8.000 Menschen – darunter vermutlich bis zu 2.000 Minderjährige – die Grenze nach Ceuta. Die meisten umschwammen den Grenzzaun, der sich in das Mittelmeer erstreckt. Schnell versuchten die spanische Polizei und das Militär, die Leute mit Gewalt wieder zurückzudrängen. So wurden bis zu 7.000 Menschen einfach wieder rausgeschmissen, ohne dass man ihre Asylgesuche überhaupt prüfte. Fotos und Videoaufnahmen zeigen dazu, wie Polizisten und Soldaten auf mehrere Migranten einschlugen und sie augenscheinlich zurück ins Meer schubsten. Menschenrechtsorganisationen kritisieren schon seit Jahrzehnten, wie Migrantinnen und Migranten im spanisch-marokkanischen Grenzgebiet behandelt werden.
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Virginia Álvarez von Amnesty International Spanien merkt an, dass die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Zurückweisungen nicht mit der verantwortungsvollen und rechtmäßigen Behandlung von Migrantinnen und Migranten einhergehen könne. “Dass so viele Menschen auf einmal an die Grenze kommen, ist keine Entschuldigung dafür, sie illegalerweise im Kollektiv wieder abzuschieben”, sagt sie. “Einige von ihnen sind vielleicht asylberechtigt oder schutzbedürftig. Menschen einfach so zurückzuweisen, ist gesetzwidrig und verweigert ihnen ihr Recht auf eine faire und individuelle Prüfung des Asylgesuchs.”
Obwohl Migrantinnen und Migranten schon seit langer Zeit regelmäßig versuchen, die Grenze nach Ceuta zu überwinden, war dieser plötzliche Andrang sehr ungewöhnlich. Normalerweise arbeiten die spanischen und marokkanischen Behörden zusammen, damit asylsuchende Menschen gar nicht erst in die Nähe der Grenze kommen. So soll die marokkanische Polizei zum Beispiel im März 2021 mehrere provisorische Migrantencamps niedergebrannt, mehr als 100 Migranten festgenommen und Dutzende Frauen und Kinder in Gegenden weit weg von der Grenze gebracht haben.
In Expertenkreisen geht man davon aus, dass der aktuelle Migrantenstrom auf die Entwicklung der spanisch-marokkanischen Beziehungen zurückzuführen sei. Obwohl es von Marokko kein direktes Statement dazu gibt, warum das Land die Grenzkontrollen gelockert hat, glauben Beobachtende, dass das ganze Vergeltung ist: Spanien ließ einen von der marokkanischen Regierung gesuchten Anführer der militärischen Gruppierung Polisario in einem spanischen Krankenhaus behandeln.
Zehn Tage nach den Zwischenfällen im Mai reiste der französische Fotograf Hervé Lequeux nach Ceuta, um den Alltag von 438 unbegleiteten Minderjährigen zu dokumentieren, die nach der Massenausweisung in der Exklave zurückgeblieben sind. Kurz nachdem sie die Grenze überquert hatten, wurden die Minderjährigen – manche von ihnen gerade mal im Teenageralter – zusammengetrieben und in zu Jugendzentren umfunktionierten Lagerhäusern untergebracht. Dort mussten sie mindestens zehn Tage in Pflichtquarantäne.
Laut den spanischen Zeitungen El País und El Diario sagten einige der Minderjährigen, dass es in den Zentren nicht genug Essen, Betten und Toiletten gebe. Manche von ihnen sollen auf dem Boden geschlafen und sich tagelang nur von kleinen Snacks ernährt haben. Die existierenden Toiletten seien schnell komplett unhygienisch geworden. Deswegen hätten sich viele von ihnen aus den Zentren geschlichen und provisorische Camps an den Stränden, in leerstehenden Gebäuden oder auf brachen Grundstücken in Wohngebieten errichtet.
Die, die den Aufstieg schafften, ließen sich in der hügeligen Gegend vor der Küste Ceutas nieder. Dort ist man zwar härteren Wetterbedingungen und stärkeren Winden ausgesetzt, die einen sowohl körperlich als auch mental fertigmachen, aber es ist auch unwahrscheinlicher, von der Polizei geschnappt zu werden.
Die meisten jungen Migrantinnen und Migranten sind 16 oder 17 Jahre alt und verbringen ihre Zeit damit, vor großen Supermärkten zu betteln oder im Meer zu fischen und ihren Fang anschließend zu grillen. Ihr Alltag ist geprägt von Langeweile und dem täglichen Kampf um Essen und eine Unterkunft. Ein paar Moscheen in Ceuta versorgen die jungen Menschen mit kleinen vorgepackten Mahlzeiten, während verschiedene NGOs und andere Hilfsorganisationen Kleidung bereitstellen und ihre Personendaten notieren – um ihren Familien Bescheid geben zu können, falls sie nach Marokko abgeschoben werden.
Andere geflüchtete Teenagerinnen und Teenager verlassen sich auf die Hilfe von Anwohnenden, die sie aus den Kofferräumen ihrer Autos heraus manchmal mit Mahlzeiten und Wasser versorgen. Abgesehen von dieser gelegentlichen Unterstützung ist die Beziehung zwischen den jungen Migrantinnen und Migranten und den Leuten in Ceuta aber oft angespannt. In der spanischen Exklave hat es bis jetzt noch keinen großen Corona-Ausbruch gegeben, und man ist besorgt, dass die Ankunft der vielen Menschen das ändern könnte.
Für einige der Teenager geht es irgendwann wieder zurück nach Marokko, sie müssen ihren Traum von einem besseren Leben in Europa zumindest vorerst aufgeben. Viele können diesen Traum jedoch nicht loslassen. Sie sagen, dass sie sich gar nicht an eine Zeit erinnern könnten, in der ihre Eltern nicht davon geredet haben. Deswegen nehmen viele von ihnen auch prekäre Gelegenheitsjobs an oder betteln, um 250 Euro zusammenzubekommen – also die Summe, die ein kleines Boot kostet, mit dem sie die gefährliche Überfahrt zum europäischen Festland antreten können.
Eine andere Taktik ist es, immer wieder zu versuchen, sich in einem LKW oder auf einem Schiff zu verstecken und so in Richtung Norden nach Spanien zu kommen. Es ist so oder so ein hartes Leben, das sehr wahrscheinlich auch dann nicht leichter wird, wenn die jungen Migrantinnen und Migranten es aufs europäische Festland schaffen. Denn sie werden – ganz egal, wo sie auch landen – vermutlich nicht mit offenen Armen empfangen.
Update 11. August 2021, 10:45 Uhr: In einer früheren Version des Artikels wurde Ceuta fälschlicherweise als Enklave bezeichnet, dabei ist die Stadt eine Exklave. Wir haben den Fehler korrigiert.