Die russische POM-3 “Medallion” ist eine besonders grausame Mine. Man muss nicht auf sie treten, um sie auszulösen. Ihr seismischer Sensor reagiert auf Schwingungen menschlicher Schritte. Schlägt er an, schnellt ein Sprengkörper nach oben, auf Höhe von Brustkorb, Hals und Kopf. Die Explosion verschießt knapp 2.000 Metallsplitter in einem Zwölf-Meter-Radius.
Der Fotojournalist Jan Schneidereit war im September aus Hamburg in die Ukraine gereist, um sich auf die Spur der POM-3 zu begeben. Er hatte gehört, erzählt er am Telefon, dass Russland solche völkerrechtswidrigen Antipersonenminen in der Nordukraine einsetzt. Das habe er dokumentieren wollen. Auch wenn der Einsatz dieser speziellen Landmine als belegt gilt, hat Schneidereit sie nicht gefunden. Dafür traf er auf eine Gruppe von internationalen Freiwilligen, die bei der Räumung solcher Minen ihr Leben riskieren.
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EOD steht für “Explosive Ordnance Disposal”, die Kampfmittelbeseitigung, wie es auf Deutsch heißt. Das EOD-Team, das Schneidereit bei Trainingseinheiten begleitete, hat seine Operationsbasis im Nordosten des Landes bezogen. Der genaue Standort ist aus Sicherheitsgründen geheim. Nur so viel: Er liegt im Oblast Sumy, nur etwa 15 Kilometer von der russischen Grenze entfernt und damit in Reichweite von Artillerie und Drohnen.
Aus Kiew sei er in einem Land Rover mit Angehörigen des EOD-Teams über matschige Straßen zur Basis gefahren worden, sagt Schneidereit. Vorbei an zerstörten Häusern, Straßensperren und verminten Feldern. Im gleichen Auto, so habe man ihm auf der Fahrt erzählt, sei ein paar Wochen davor eine Leiche transportiert worden. Der tote Körper eines Zivilisten, den man an einer Straße bei Mykolajiw entdeckt habe.
Seinen ersten großen Einsatz habe das EOD-Team auf dem Flughafen Hostomel absolviert, sagt Schneidereit. Zu Beginn des Krieges landeten dort russische Truppen. “Die haben diesen Flughafen sauber gemacht”, sagt der Fotograf über die Minenräumer, die das Gelände nach russischen Sprengfallen absuchten.
Während eines anderen Einsatzes an der Front von Soledar, Oblast Donezk, sei das EOD-Team unter schweren russischen Artilleriebeschuss geraten. Beim Rückzug hinter ukrainische Linien seien sie dann von ukrainischen Soldaten beschossen worden, die das auf sie zurasende Fahrzeug für einen gegnerischen Angriff hielten. So berichteten es EOD-Mitglieder dem Fotografen. Nur durch Glück sei niemand verletzt worden. Und das gelte auch für die Einsätze bei der Minenräumung. Aber die Freiwilligen entschärfen nicht nur selbst, sie schulen auch Einheiten des ukrainischen Militärs. Hilfe zur Selbsthilfe.
Das EOD-Team besteht überwiegend aus Ex-Militärs aus verschiedenen Ländern. Da ist zum Beispiel Jonathan Baynard, der im nordirischen Belfast aufwuchs und in der britischen Armee diente. Heute verdiene Baynard eigentlich gutes Geld in einem Tech-Job in Zürich. Den habe er aufgegeben, um etwas gegen das historische Unrecht zu tun, das Russland in der Ukraine anrichtet.
Auch die gebürtige Ukrainerin Kristina ließ viel zurück, wie sie Schneidereit erzählte. Ein bequemes Leben in England, wo sie aufwuchs, und einen Job bei einem Technologieunternehmen. Sie ist die einzige Zivilistin im Team und hat einen EOD-Lehrgang im Kosovo absolviert. In der Gruppe übersetzt sie und entschärft Bomben und Minen.
Das EOD-Team ist basisdemokratisch organisiert, trifft Entscheidungen gemeinsam – auch mal gegen Einsätze, die zu heikel sind. Dennoch gibt es so etwas wie eine graue Eminenz der Gruppe. Markian ist gebürtiger Ukrainer und 1989 als 14-Jähriger mit seiner Mutter nach Kanada geflohen. Dort habe er im Militär gedient und bei den Pionieren gelernt, wie man Minen räumt, sagt Schneidereit. Heute leite er die Lehrgänge: “Markian spielt mit dem Gedanken, so lange zu bleiben, bis der Krieg endet. Aber für die EOD-Leute endet der Krieg nicht mit dem letzten Schuss, sondern mit der letzten Landmine, mit dem letzten Blindgänger. Und das kann noch 40 Jahre dauern.” Die Ukraine könnte also Markians Ruhesitz werden.
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